Jüdische Pflege- geschichte

Jewish Nursing History

Biographien und Institutionen in Frankfurt am Main

Krankenhaus Strassburg

Frankfurter jüdische Krankenpflege in Straßburg (Elsass)

Zeichnung: Strassburg - Adassa / Israelitisches Krankenhaus Straßburg, Hagenauer Platz (Place de Haguenau), um 1894.
Strassburg – Adassa / Israelitisches Krankenhaus Straßburg, Hagenauer Platz (Place de Haguenau), um 1894
Aus: Architekten- und Ingenieur-Verein für Elsass-Lothringen (Hg.): Strassburg und seine Bauten, Strassburg 1894, S. 523

Die deutsch-jüdische Pflegegeschichte in Straßburg (Elsass), heute Strasbourg, im Osten Frankreichs ist ein bislang unerforschtes pflegehistorisches Thema. Der Artikel beleuchtet erstmals einen Ausschnitt, der zugleich die überregionale Vernetzung und Bedeutung des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main dokumentiert. Von 1911 bis zum Ersten Weltkrieg pflegten im Israelitischen Krankenhaus (Clinique Adassa) Frankfurter jüdische Schwestern unter der Leitung ihrer Oberin Julie Glaser. Auch danach blieben die Schwestern auf ihrem Posten und versorgten in einem großen Straßburger Festungslazarett Schwerverwundete aller Nationen.

Das Israelitische Krankenhaus zu Straßburg (Elsass) / Clinique Adassa de Strasbourg
Am 17. September 1878 errichtete die jüdische Gemeinde zu Straßburg (Strasbourg/ Elsass) das Israelitische Krankenhaus (La Maison de Santé Israélite, später Clinique Adassa) in der Rue de Couples (Kuppelhof). Dort suchten nicht nur jüdische Straßburger/innen Heilung, sondern auch viele Angehörige des elsässischen Landjudentums. „Viele Straßburger sind in der 1878 gegründeten Klinik Adassa geboren“ (Lorey 2014). Wegen des erhöhten Bedarfs zog das Krankenhaus 1885 in einen von Stadtbauinspektor Edouard Roederer konzipierten Neubau am Hagenauer Platz (Place de Haguenau), die feierliche Einweihung fand am 20. Januar 1886 statt. „Die Zahl der Betten für Kranke und Pensionäre beträgt 65. Allen hygienischen Anforderungen ist in ausreichendster Weise Rechnung getragen“ (zit. n. Strassburg 1894: 523).

Das Krankenhaus, die heutige Clinique Adassa (vgl. https://www.clinique-rhena.fr/fr) überlebte als Institution beide Weltkriege und die Shoa; sie ist die einzige jüdische Klinik Frankreichs (Stand 2017) wird der traditionelle Standort in der Rue de Haguenau als eine Stätte jüdischen Lebens vermutlich der Vergangenheit angehören: Im Straßburger Osten entsteht aus Kostengründen das interkonfessionelle Klinikzentrum ‚Rhéna‘, getragen von Adassa (jüdisch), Diaconat (evangelisch) und Sainte Odile (katholisch). „Abstriche müssen die drei Krankenhäuser an der konfessionellen Ausrichtung machen: ‚Wir werden in den Türpfosten keine jüdische Mesusa-Schriftkapsel anbringen und im Krankenzimmer auch kein Kreuz aufhängen‘, so Guillaume Lohr, Generaldirektor der ‚Rhéna-Klinik‘. ‚Die konfessionelle Seite bei der Pflege wird völlig verschwinden.‘ Im Zentrum des Klinikums werde es einen multikonfessionellen Andachtsraum ohne religiöse Symbole geben, der für Christen, Juden und auch Muslime offen sei“ (zit. n. Lorey 2014).

Rosa Spiero / In New York
Aus: Thea Levinsohn-Wolf 1996: Stationen einer Krankenschwester. Frankfurt a. M.: 139

Frankfurter jüdische Krankenschwestern in Straßburg
Um 1910 fanden im Israelitischen Krankenhaus zu Straßburg umfangreiche Modernisierungen statt, die auch die Etablierung einer professionellen Krankenpflege betrafen. Zu der Gründung eines eigenen jüdischen Schwesternvereins kam es indes nicht. Dass sich die dringlichen Anfragen aus Straßburg nach gut ausgebildeten und zugleich deutschsprachigen jüdischen Pflegekräfte an den Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main richteten, dokumentiert dessen Ansehen und Bedeutung in der überregionalen jüdischen Pflege (vgl. auch den Beitrag zu Basel und Davos).

Für die anspruchsvolle Aufgabe des Aufbaus einer modernen Pflege entsandte der Verein am 1. Juli 1911 drei bewährte und tatkräftige Schwestern: Operationsschwester Bertha Schönfeld, Narkoseschwester Rosa Spiero und als Oberin Julie Glaser. Für Bertha Schönfeld und Rosa Spiero – nach der Erinnerung ihrer Frankfurter Kollegin Thea Levinsohn-Wolf zwei „starke Charaktere“, die manchen Disput austrugen (Levinsohn-Wolf 1996: 27) – endete die Straßburger Episode bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Seit Beginn der 1920er Jahre oblag den beiden „Kampfhähnen“ (ebd.) die gemeinsame Verantwortung für den pflegerischen Bereich der Chirurgie des Frankfurter jüdischen Krankenhauses Gagernstraße, Rosa Spiero wurde als Oberschwester Bertha Schönfelds direkte Vorgesetzte.

Fotografie: Bertha Schönfeld / Schwester Bertha im Operationssaal des Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde in der Gagernstraße 36.
Bertha Schönfeld / Schwester Bertha im Operationssaal des Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde in der Gagernstraße 36
Thea Levinsohn-Wolf, Stationen einer jüdischen Krankenschwester. Deutschland – Ägypten – Israel, Frankfurt am Main 1996, S. 28

Das Straßburger Team verstärkten zudem Blondine Brück und Rahel (Recha) Wieseneck. 1909 waren sie zusammen mit zwei weiteren Schülerinnen nach ihrer „Lehrzeit“ von anderthalb Jahren „auf Grund des Reifezeugnisses der ausbildenden Aerzte mit Zustimmung des Schwesternrats in den Schwesterverband [sic] aufgenommen“ worden (JüdSchwVereinFfm 1910: 5). Nach dem Konzept des Verwaltungsausschusses des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins abwechselnd im stationären Dienst des „Königswarter Hospitals“ und in der Privatpflege tätig, verfügten Schwester Blondine und Schwester Recha über reichhaltige berufliche Erfahrung. Weitere ‚Frankfurterinnen‘ im Israelitischen Krankenhaus Straßburg waren die zwischen 1911 und 1914 ausgebildeten Jenny Cahn, Gertrud Glaser, Ricka Levy und Bella Peritz. Als die politischen Verhältnisse sie im November 1918 aus Straßburg vertrieben, kehrten alle Schwestern mit ihrer Oberin Julie Glaser in das Frankfurter jüdische Schwesternhaus zurück, aus dem Ricka Levy kurz darauf ausschied. Bis auf Gertrud Glaser (Privatpflege) pflegten sie im 1914 eingeweihten neuen Krankenhaus Gagernstraße, Blondine Brück stieg zur Oberschwester der Privatabteilung auf. Mitte der 1920er Jahre folgte Julie Glaser der pensionierten Minna Hirsch in das Amt der Oberin des Großkrankenhauses.

„… den Posten, auf dem man uns gestellt“ – Berichte Frankfurter jüdischer Schwestern aus Straßburg im Ersten Weltkrieg
Infolge politischer Umbrüche waren der Frankfurter jüdischen Pflege in Straßburg nur wenige Jahre (1911–1918) beschieden. Zum Zeitpunkt des Aufenthalts der Frankfurter Schwestern gehörte Elsass-Lothringen, nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 durch das neu gegründete Deutschen Kaiserreich annektiert, noch zu Deutschland. Gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 leerte sich das Israelitische Krankenhaus Straßburg, aus dem die Patientinnen und Patienten wegen der befürchteten französischen Rückeroberung in Panik flüchteten. Hingegen blieben Oberin Julie Glaser und die Schwestern Blandine Brück, Jenny Cahn, Gertrud Glaser, Ricka Levy, Bella Peritz und Rahel (Recha) Wieseneck auf ihrem ‚Posten‘: Sie kehrten nicht nach Frankfurt zurück, sondern stellten sich unverzüglich der Kriegskrankenpflege vor Ort zur Verfügung (vgl. Beitrag zu Frankfurter jüdischen Pflegenden im Ersten Weltkrieg; Seemann 2014). Neben Einsätzen in der Etappe organisierten die Schwestern mit Julie Glaser als Lazarett-Oberin die Verwundetenpflege im Festungslazarett XXII B, eingerichtet in einem ehemaligen Lyzeum. „Dieses Lazarett in Straßburg wird bald zum hauptsächlichen Gefangenenlazarett für Verwundete aus Frankreich, Russland, Italien, Rumänien, England und Amerika und besteht bis November 1918“ (Steppe 1997c: 217). Nach dem für Deutschland verlorenen Krieg fiel Elsass-Lothringen wieder an Frankreich. Eine vorausgegangene kurze Episode als unabhängige Republik – verbunden mit Angriffen nationalistischer Elsässer gegen noch verbliebene ‚Reichsdeutsche‘ – endete mit dem Einmarsch französischer Truppen. Als sie am 21. November 1918 Straßburg erreichten, hatten die Frankfurter jüdischen Schwestern die Stadt bereits verlassen. Doch lassen wir sie selbst erzählen.

Schwesternbericht (Verfasserin unbekannt, zit. n. JüdSchwVereinFfm 1920: 38-39)

Uns Schwestern traf die Nachricht vom Krieg überraschend und niederschmetternd. Schwester Oberin war noch auf Urlaub. In Straßburg herrschte die größte Erregung. Niemand dort zweifelte, daß die Stadt in den nächsten Tagen von den Franzosen besetzt oder mindestens eingeschlossen und belagert würde. Das bis auf das letzte Bett besetzte Krankenhaus entleerte sich in wenigen Stunden. Die meist aus der Umgebung stammenden Kranken wurden, selbst in schwersten Zuständen, von den kopflosen Angehörigen nach Hause abgeholt. Uns Schwestern fragte der Krankenhausarzt, Herr Dr. Bloch, ob wir nicht nach Frankfurt abreisen wollten, oder was wir sonst beabsichtigten. Aber wir erklärten ihm einstimmig, daß wir den Posten, auf dem man uns gestellt, nicht verlassen würden. Bald darauf kam noch die Depesche aus Frankfurt, die uns die gleichlautende Anordnung des Mutterhauses brachte. Dann waren wir von Frankfurt abgeschlossen. Von unserem Verein wie von unseren Angehörigen hörten wir lange nichts mehr.

Unser Krankenhaus war inzwischen von seinem Vorstande der Militärbehörde zur Verfügung gestellt worden. Die nächsten Tage verbrachten wir voller Ungeduld damit, das Haus zum Lazarett herzurichten, es durch Aufstellung neuer Betten in den Korridoren und allen sonst verwendbaren Räumen zu vergrößern, Wäsche und Verbandzeug herzustellen und andere Vorbereitungen zur Aufnahme der Verwundeten zu treffen. Als aber die Belegung immer wieder ausblieb (wie wir hörten, weil das Haus der Behörde zu klein war), konnten wir das Nichtstun, wo andere überlastet waren, nicht länger ertragen und meldeten uns mit Zustimmung des Krankenhaus-Vorstandes persönlich beim Roten Kreuz. Wir wurden freundlich aufgenommen und schon am nächsten Tag von Dr. Ducroix, dem Chirurgen unseres Krankenhauses, angefragt, ob wir mit in die Vogesen fahren wollten, um bei Verwundetentransporten zu helfen. Dann sollten wir in dem ihm als Chefarzt übertragenen Festungslazarett im Lyzeum die Pflege übernehmen. Wir sagten freudig zu.

Am 17. August fuhren wir mit zwei Autos vom Krankenhaus ab. In einem der Stabsarzt, ein Chirurg, ein Apotheker, das Sanitätspersonal und die Schwestern; im anderen Verbandmaterial und Instrumente. In rasender Fahrt ging es nach dem Verbandplatz Hohwald bei Saarburg. Dort hatte am Tage ein Gefecht stattgefunden. Die Verwundeten mußten von der Höhe herunter nach dem Verbandplatz gebracht werden, einem Gasthaus mit vielen geräumigen Zimmern. Da der Wirt sich geweigert hatte, die Türen zu öffnen und Wasser und Seife herzugeben, wurde mit Gewalt vorgegangen. Deutsche und Franzosen harrten der ersten Hilfe, viele starben bereits auf dem Transport. Mit Mühe wurden die Schwerverwundeten in Zimmern und Gängen geborgen. Die Verbundenen wurden auf Leiterwagen nach der ersten Bahnstation gefahren, in den bereitstehenden Güterzug eingeladen und nach Straßburg verbracht. Leider war es nicht möglich, alle Verwundeten mitzunehmen, da morgens um fünf Uhr der Wiederanmarsch der Franzosen gemeldet wurde und das Feld geräumt werden mußte. Am 18. und 19. August waren wieder zwei von uns in den Vogesen und brachten 200 Schwerverwundete mit.“

Bericht von Oberin Julie Glaser (zit. n. JüdSchwVereinFfm 1920: 39-40)

Als ich, nachts um zwei Uhr angekommen, nach dem Lyzeum kam, war alles eifrig beschäftigt, 500 Verwundete in dem halbfertig eingerichteten Gebäude unterzubringen. Unser Chefarzt mußte mit einem Hilfsarzt für diese alle sorgen. Es wurde fieberhaft gearbeitet, operiert und verbunden, durchschnittlich blieben uns nur vier bis fünf Stunden Schlaf. Trotzdem kamen wir über diese schwerste Zeit mit ihrer aufreibenden Tätigkeit gut hinweg. Die Schwestern gaben überall ihr Bestes; an den vielen Helferinnen hatten wir nur geringe Stütze. Anfangs waren im Lazarett nur Deutsche und Franzosen, bald wurde es ein Gefangenenlazarett. Wir hatten durchschnittlich 250 Deutsche und 300 Gefangene, die sich aus Franzosen, Russen, Italienern, Rumänen, Engländern und Amerikanern zusammensetzten. Im Operationssaal konnte man beim Verbinden die interessantesten Völkerstudien machen; am besten schnitten unstreitig die Amerikaner ab.
Und so verging Jahr um Jahr, das uns viel Arbeit, aber auch viel Befriedigung brachte. Wir lebten im schönsten Einvernehmen mit unseren Ärzten; unsere Verwundeten, besonders auch die Elsässer, waren des Lobes und Dankes voll.

Wie rasch kam der Umschwung! Schon im August 1918 brachten uns die Amerikaner die traurige Kunde, daß wir verlieren würden. Wir lachten sie aus und blieben voller Zuversicht. Sie behielten recht. Es kam die fürchterliche Zeit der Revolution und mit ihr zeigte sich der ungeheure Haß im Elsaß gegen alles, was deutsch war. Wir durften uns nicht mehr auf der Straße blicken lassen, wir waren verfehmt. Im Lazarett herrschte keine Disziplin mehr, der Chefarzt wurde abgesetzt und ein Schreiber rückte an seine Stelle. Die Kleiderkammer wurde von den elässischen Verwundeten ausgeplündert; für die Deutschen blieb ein Rest. Wir sahen ein, daß unseres Bleibens nicht mehr war. In der Nacht vom 15. bis 16. November erging der Befehl, alle deutschen Verwundeten aus Straßburg nach Baden zu schaffen; das deutsche Sanitätspersonal schloß sich an. Am 16. November schnürten wir traurigen Herzens unser Bündel; Amerikaner und Engländer erwiesen uns den Liebesdienst, unser Gepäck an die Bahn zu bringen! Als Vertriebene zogen wir zum großen Tor hinaus, aus dem Hause, in dem wir 4 1/2 Jahre unser Bestes gegeben hatten. Wir erreichten noch den letzten Zug, der von Straßburg nach Frankfurt fuhr, unser treuer Stabsarzt gab uns das Geleite.
Bald lag die wunderschöne Stadt hinter uns. Noch ein letzter Gruß des unvergeßlichen Münsters, und hinein ging’s in den dichten Novembernebel, des Vaterlandes grauer Zukunft entgegen.“

Ausblick

Zeichnung: Standortkarte / Institutionen und Organisationen der jüdischen Krankenpflege im Deutschen Reich 1914.
Standortkarte / Institutionen und Organisationen der jüdischen Krankenpflege im Deutschen Reich 1914
Aus: Hilde Steppe, „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre…“, S. 115

Wie bereits Hilde Steppes Standardwerk über die deutsch-jüdische Krankenpflege (vgl. Steppe 1997) dokumentiert hat, ist die Quellenlage für einzelne jüdische Schwesternvereine und -stationen lückenhaft. Dieser Befund trifft auch auf Metz in Lothringen zu, wo anders als in Straßburg sogar ein deutsch-jüdischer Schwesternverein bestand, der vermutlich vor 1908 gegründet wurde (vgl. ebd.: 113). Wie die Standortkarte zeigt, gilt es noch manche Forschungslücken jüdischer Pflegegeschichte zu schließen und dabei Biografien, Institutionen und Stätten jüdischen Lebens und Wirkens zu entdecken. Die Spurensuche geht weiter.

Birgit Seemann, 2015, updated 2017

 

Primärquellen


Archives départementales du Bas-Rhin, Strasbourg: http://archives.bas-rhin.fr

Bestandsübersicht zu Spitälern mit jüdischer Geschichte im damaligen Elsaß

 Centrum Judaicum Berlin: Stiftung Neue Synagoge Berlin ‒ Centrum Judaicum

Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main (Eingetragener Verein). Jahresberichte 1898-1911, Frankfurt a.M.: Akte CJA, 1, 75 A und C

 FRA UAS Bibl.: Frankfurt University of Applied Sciences, Bibliothek, Historische Sondersammlung Soziale Arbeit und Pflege:

Jahres- und Rechenschaftsberichte des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins

 ISG Ffm: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main:

Hausstandsbuch HB 655: Bornheimer Landwehr 85 (Frankfurter jüdisches Schwesternhaus)

Hausstandsbuch HB 686 und 687: Gagernstraße 36 (Frankfurter jüdisches Krankenhaus)

 UB JCR Ffm: Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am Main:

Spezialsammlungen: Digitale Sammlungen: Judaica (mit Compact Memory): http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/judaica/

Literatur und Links (aufgerufen am 20.10.2017)


Alicke, Klaus-Dieter 2008: Straßburg (Elsass). In: ders.: Lexikon der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum. Band 3: Ochtrup – Zwittau. Gütersloh: 3982-3988

Alicke, Klaus-Dieter 2014: Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum, http://www.jüdische-gemeinden.de: Straßburg (Elsass)

Assall, Paul 1984: Juden im Elsass. Moos: Elster

Clinique Adassa: https://www.clinique-rhena.fr/fr

Ginsburger, Moses 1911: Die Medizin und Hygiene der Juden in Elsass-Lothringen. Vortrag. Gebweiler: Dreyfus. – Online-Ausg.: Universitätsbibliothek JCS Frankfurt a.M., 2009, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:30-180010731118

JüdSchwVereinFfm 1898–1911: Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main, Rechenschaftsberichte, Frankfurt a.M. 1898–1911

JüdSchwVereinFfm 1920: Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main, Rechenschaftsbericht für die Jahre 1913 bis 1919. Frankfurt a.M.

Levinsohn-Wolf, Thea 1996: Stationen einer jüdischen Krankenschwester. Deutschland – Ägypten – Israel. Frankfurt a.M.

Lorey, Jürgen 2014: Interkonfessionell gesunden. In Straßburg entsteht aus dem Zusammenschluss dreier konfessioneller Krankenhäuser eine neue Klinik. In: Mittelbadische Presse, Zeitungen der Ortenau, 03.10.2014, http://www.bo.de/nachrichten/nachrichten-regional/interkonfessionell-gesunden

Seemann, Birgit 2014: „Wir wollen sein ein einig Volk von Schwestern“. Jüdische Krankenpflege und der Erste Weltkrieg. In: Tobias, Jim G./ Schlichting, Nicola (Hg.) 2014: nurinst – Jahrbuch 2014. Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte. Schwerpunktthema: Davidstern und Eisernes Kreuz – Juden im Ersten Weltkrieg. Im Auftrag des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts hg. Nürnberg: 87-101

Steppe, Hilde 1997: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre …“. Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt a.M.

Steppe, Hilde 1997a: Organisationsformen und Institutionalisierung. In: dies. 1997: 90-127

Steppe, Hilde 1997b: Jüdische Krankenpflege im ersten Weltkrieg. In: ebd.: 128-131

Steppe, Hilde 1997c: Der erste Weltkrieg und das Jahr 1919. In: ebd.: 215-220

Strassburg 1894: Architekten- und Ingenieur-Verein für Elsass-Lothringen (Hg.) 1894: Strassburg und seine Bauten. Mit 655 Abb. im Text, 11 Tafeln u. e. Plan der Stadt Strassburg. Strassburg, online: https://archive.org/stream/strassburgundsei00arch/strassburgundsei00arch_djvu.txt

Wallach, Peter 2006: Jüdisches Leben in der Europahauptstadt Straßburg. In: Freiburger Rundbrief. Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung 13 (2006) 4: 289, online: http://www.freiburger-rundbrief.de/de/?item=1133

Joseph und Hannchen May’sche Stiftung für Kranke und Hilfsbedürftige – Die Stiftungsgeschichte

Die Schenkung von Grundstücken und einem Gebäude für Kranke und Arme

Dokument: Schenkungsvertrag Maysche Stifung, Rödelheim.
Schenkungsvertrag nach einer Kopie in der Magistratsakte V339
© Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main

Am 11. Oktober 1874 bewegte sich ein „stattlicher Zug“ von Rödelheimer Bürgerinnen und Bürgern vom Rathaus zum neuen Kranken- und Armenhaus. Das Haus lag „in der Fortsetzung der Alexanderstraße zur Rechten“ (Trümpert 1881: 39). Landrath Rath aus Wiesbaden und der Frankfurter Polizeipräsident Hergenhahn waren vor Ort. Der katholische Pfarrer Hungari und sein evangelischer Kollege Trümpert hielten Weihereden, wofür sie von den Stiftern des Hauses Julius und Arthur May bezahlt wurden (vgl. Trümpert 1881: 39). Die Brüder May sowie zu einem kleineren Teil Recha Seligstein, eine der Schwestern von Julius und Arthur, mit ihrem Mann Samuel hatten das Kranken- und Armenhaus im Wert von etwa 18.000 Gulden (vgl. Lustiger 1988: 147) der Gemeinde Rödelheim geschenkt.
Der Schenkungsvertrag ist auf den 20. Mai 1874 datiert und beginnt mit den Worten: „Nachdem sich für die Gemeinde Rödelheim schon häufig als Mangel fühlbar gemacht hat, dass sie kein Kranken- und Armenhaus besitzt, worin die zu Unterstützenden verpflegt werden, haben die Herren Julius May & Arthur May in Frankfurt a/M. zu diesem Zwecke und zugleich zum Andenken an ihre verstorbenen Eltern, den Herrn Jos. Hirsch May und dessen Ehefrau Hannchen geb. Mayer, auf den ihnen zugeschriebenen Grundstücken der Rödelheimer Gemarkung Flur 7 No. 137.6 138.3 139.3 140.3 141.3 & 142 ein zur Krankenverpflegung und Armenversorgung geeignete Behausung, wovon in der Anlage ein Riss beiliegt, auf ihre Kosten erbauen lassen.“ Die einzelnen Vertragspunkte sind im nebenstehenden Rahmen aufgelistet.
Der Vertrag ist unterzeichnet von den Schenkenden, für die Gemeinde Rödelheim von Bürgermeister Müller und seinen Gemeinderäten und für den Vorstand der israelitischen Gemeinde von Josef Neumann, J. Lehrberger, B. J. Schott, M. Ehrmann und S. M. Mandelbaum (vgl. ISG Ffm: Magistratsakten V 339: 1-3).

Für das Jahr 1897 ist es möglich, den Vorstand des Spitals aus dem Adressbuch Rödelheim zu rekonstruieren: Der christliche Vorstand setzte sich zusammen aus dem Bürgermeister Stubberg, dem Arzt Dr. Hermann Momberger, der das Rödelheimer Spital medizinisch betreute, dem Chemie-Fabrikanten Franz Schulz und Wilhelm Schmidt, der eine Bettfedernreinigung betrieb. Der jüdische Vorstand bestand aus dem Buchdruckereibesitzer Mayer Lehrberger, dem Kaufmann Simon Mandelbaum und dem Metzger Leopold Fleisch (vgl. Dippel 1995).

Eingemeindung Rödelheims zu Frankfurt
Im Zuge der Eingemeindung von Rödelheim zur Stadt Frankfurt am Main im Jahr 1910 ging das Krankenhaus an das städtische Krankenhaus über, während die israelitische Gemeinde weiterhin unabhängig blieb (siehe Lustiger 1988: 147). Den Vorsitz des Vorstands übernahm, gemäß eines Magistratsbeschlusses, der Vorsitzende der Anstaltsdeputation, der Verwaltung der Kranken- und Armenhäuser der Stadt Frankfurt am Main (vgl. ISG Ffm: Magistratsakten V 339: 1).

Die Umwandlung zum Altenheim
1922 beantragte die Anstaltsdeputation beim Magistrat die Einrichtung des Krankenhauses Rödelheim als Siechenhaus. Der Bedarf an Unterbringungsmöglichkeiten von Siechen war stark gestiegen, und man sah das Rödelheimer Spital als sehr geeignet dafür an, da seine 31 Krankenbetten durch die Rödelheimer Bürgerinnen und Bürger nicht ausgelastet waren und der Stiftungszweck „zur Krankenverpflegung und Armen-Versorgung“ durch die Veränderung nicht beeinflusst würde. Der Antrag wurde genehmigt unter den Bedingungen, dass Einwohner des Stadtbezirks Rödelheim bei der Unterbringung bevorzugt würden, dass die Krankenhauspflege, falls notwendig, wieder hergestellt werden könne und, dass das Personal mit übernommen werden würde (vgl. ISG Ffm: Magistratsakten V 339: 17.3.1922).

Dass die Konsequenzen aus der Umwandlung zum Siechenhaus nicht ganz klar waren, zeigt ein Disput zwischen dem Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde Rödelheim Heinrich Hammel und dem Magistrat. Heinrich Hammel hatte 1924 den erkrankten Synagogendiener Markus in das Israelitische Krankenhaus in der Gagernstraße einweisen lassen und war der Meinung, dass dies kostenlos erfolgen müsse, da durch die Umwandlung in ein Siechenheim keine Krankenbetten mehr zur Verfügung standen und diese durch die Stadt gestellt werden müssten. Vermutlich begründete er dies durch §4 des Schenkungsvertrags, der die Sondernutzung durch israelitische Arbeitsunfähige regelte. Der Magistrat teilte jedoch diese Meinung nicht, da es sich nicht um Arbeitsunfähigkeit, sondern um Krankheit handele, wollte in diesem Fall jedoch aus Kulanz nicht auf die Rückzahlung der Verpflegungskosten bestehen (vgl. ISG Ffm: Magistratsakten V 339: 36-37).

Die nationalsozialistische Einflussnahme

Fotografie: Siechenhaus Rödelheim, Hofansicht.
Siechenhaus Rödelheim, Hofansicht
Aus: Nosbisch 1930

Der §6 der Schenkungsurkunde von 1874 sah vor, dass im Kranken- und Armenhaus ein „Betsaal für den israelitischen Gottesdienst zu reservieren“ (ISG Ffm: Magistratsakten V 339: 1-3) sei. Gemäß der Auskunft von Arthur Hammel, dem Sohn des letzten Gemeindevorstehers der jüdischen Gemeinde Rödelheim, Heinrich Hammel, bestand der Betsaal im Jahr 1933 noch: „Im Hospital verstorbene Juden wurden in diesem Raum aufgebahrt und von hier aus auf dem jüdischen Friedhof Rödelheim, Westhausen, beerdigt“ (Dippel 1995).

Im März 1937 beantragte der Frankfurter Verband für Altersfürsorge e.V. beim Rechtsamt in der Stiftungsabteilung den Betraum für „bessere Zwecke“ nutzen zu dürfen, d. h. für Pflegezwecke, da die Raumnot groß sei. Außerdem würde der Raum fast das ganze Jahr leerstehen und nur von wenigen Menschen genutzt, „es kommt hinzu, dass diese wenigen Menschen als Juden der deutschen Volksgemeinschaft nicht angehören, während das Heim ausschließlich mit deutschen Volksgenossen belegt ist“ (ISG Ffm: Stiftungsabteilung 311-312: 23.4.1937). Die Genehmigung der Umwandlung des Betraums wurde damit begründet, dass die ursprüngliche Nutzung nur von den Erben der Schenkenden eingefordert werden dürfe, diese jedoch nicht mehr am Leben seien [was nicht richtig ist, siehe Beitrag: „Die Stifterfamilie May“ (in Vorbereitungt) d. A.]. Auch gäbe es kein öffentliches Interesse an der ursprünglichen Nutzung. Im Gutachten der Stiftungsabteilung des Rechtsamts vom 23.4.1937 heißt es: „Praktisch liegt der Fall so, dass der Vorstand der jüdischen Kultusgemeinde, Heinrich Hammel […] je einmal im Februar und August mit 8-9 Gemeindemitgliedern einen etwa ½-stündigen Gottesdienst in dem Zimmer abhält. Das ursprüngliche Gebetszimmer ist längst den Umbauten zum Opfer gefallen, dafür wurde ein Ersatzraum in einem Seitenflügel eingerichtet. […] Den Juden sei vorgeschlagen worden, die beiden Gedächtnisstunden in der Rödelheimer Synagoge abzuhalten, sie wollten aber darauf nicht eingehen.“ Weiter heißt es, dass auch andere durch die Stiftungsurkunde festgelegte Vergünstigungen für Juden (Belegung von mindestens vier Zimmern des Armenhauses mit Israeliten und Anspruch auf rituelle Verpflegung) wohl spätestens 1922 bei der Umwandlung in ein Altersheim aufgegeben worden seien. Es wird betont, dass inzwischen die früheren jüdischen Einflüsse auf das Heim bzw. seine Leitung und Verwaltung „vollkommen ausgeschaltet“ seien (vgl. ISG Ffm: Stiftungsabteilung 311-312: 23.4.1937).

Schenkung oder Stiftung und die Folgen

Fotografie: Burgfriedenstraße 5, Wohnhaus von Heinrich Hammel, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Rödelheim.
Burgfriedenstraße 5, Wohnhaus von Heinrich Hammel, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Rödelheim, und seiner Familie
© Edgar Bönisch

Da in den unterschiedlichen Papieren mal von Schenkung mal von Stiftung die Rede ist, versuchte das Rechtsamt der Stiftungsabteilung der Stadt Frankfurt 1941 Klarheit zu schaffen. Festgestellt wurde, dass die als Stiftung bezeichnete Joseph und Hannchen May Stiftung eine Schenkung der Brüder May war. Weiterhin stellte man klar, dass es sich bei zwei weiteren Transfers ebenfalls um Schenkungen handelte: zum einen 10.000 Mark im Mai 1886 durch Arthur May an die Israelitische Kultusgemeinde Rödelheim zur Osterspeisung armer Israeliten (Lustiger 1988: 28) und 12.000 Mark im Mai des Jahrs 1891 durch Julius May zur Unterstützung Armer an die Israelitische Gemeinde Rödelheim. Beide Beträge seien in den Unterlagen der Rödelheimer Gemeinde als Überweisung an die Josef und Hannchen May’sche Stiftung bezeichnet worden, da es sich jeweils um Schenkungen handele und es sich nicht um einen staatliche Beaufsichtigung handelte, könnte man jedoch nicht von einer Stiftung sprechen (vgl. ISG Ffm: Stiftungsabteilung 311-312: 12.3.1941). Durch die Einordnung als Schenkung wurde es einfacher mit dem Zweck der Schenkung willkürlich zu verfahren.

Nachkriegszeit
In den 1950er Jahren erfolgte ein weiterer Umbau. Dies war auch in den 1970er Jahren geplant, jedoch stellte man fest, dass das Gebäude inzwischen völlig veraltet war, worauf 1983 der Abriss folgte und ein anschließender Neubau im Jahr 1987 eingeweiht wurde (vgl. ISG Ffm: Fürsorgeamt 3.944).
Der heutige Eigentümer des Sozial- und Rehazentrums West in Rödelheim, der Frankfurter Verband e.V., macht auf die Ursprünge des Heims durch eine kleine Ausstellung aufmerksam (Stand 2012), die der ehemalige evangelische Pfarrer von Rödelheim Heinrich Dippel zusammengestellt hat und die bedingt zugänglich ist. Das Andenken an Joseph und Hannchen May im Sinne ihrer Kinder soll dieser Artikel unterstützen.

Edgar Bönisch 2013

Unveröffentlichte Quellen:
Abkürzung ISG Ffm = Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main

ISG Ffm: Fürsorgeamt 3.944

ISG Ffm: Magistratsakten V 339 1874, 1910-1941: Krankenhaus in Rödelheim (MAYsche Stiftung), ab 1922 Siechenhaus

ISG Ffm: Stiftungsabteilung 311-312, vom 23.4.1937

 
Literatur

Lustiger, Arnold (Hg.) 1988: Jüdische Stiftungen in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main

Nosbisch, W. (Bearbeiter) 1930: Das Wohnungswesen der Stadt Frankfurt a. M. Herausgegeben im Auftrage des Magistrats aus Anlass der diesjährigen deutschen Tagung für Wohnungswesen vom Hochbauamt und Wirtschaftsamt. Frankfurt am Main

Trümpert, Rudolph 1881: „Chronik“ der Stadt Rödelheim von Rudolph Trümpert ev. Pfarrer daselbst. Rödelheim

 
 Ausstellungsdokumente

Dippel, Heinrich 1995: Ausstellung im Sozial- und Rehazentrum West, Alexanderstr. 96, Frankfurt am Main

Frankfurter Grabsteine als letzte Zeugen – die Krankenschwestern Bertha Schönfeld und Thekla Dinkelspühler

Durchgang vom Eingangshof zum Friedhof, Jüdischer Friedhof Eckenheimer Landstraße, 2010
© Edgar Bönisch

Auf dem neueren Friedhof der Jüdischen Gemeinde Frankfurt in der Eckenheimer Landstraße zeugen etwa 800 Grabsteine von antisemitisch Verfolgten, die sich in den Jahren 1938 bis 1943 der nationalsozialistischen Verfolgung und Deportation durch Freitod entzogen haben. Sie bieten ein eindrucksvolles Zeugnis dieser tragischen historischen Ereignisse (http://www.jg-ffm.de/de/religioeses-leben/juedische-friedhoefe, letzter Aufruf dieses und aller folgenden Links am 19.10.2017). Ihre Namen trug in mühevoller Kleinarbeit der Chronist und Schoah-Überlebende Adolf Diamant (1924-2008) zusammen (vgl. ders. 1983). Auch zwei Krankenschwestern des früheren jüdischen Krankenhauses in der Gagernstraße sind darunter: Bertha Schönfeld und Thekla Dinkelspühler, beide gebürtige Hessinnen. Woher kamen sie, wie haben sie gelebt?

Schwester Bertha Schönfeld (1883 Kesselbach/Rabenau – 1941 Frankfurt a.M.)

Schwester Bertha Schönfeld im OP, 1931
Thea Levinsohn-Wolf, Stationen einer jüdischen Krankenschwester. Deutschland – Ägypten – Israel, Frankfurt am Main 1996, S. 28

Herkunft
Schwester Bertha entstammte dem Landjudentum im mittleren Hessen (nördlich von Frankfurt am Main). Geboren am 13. September 1883 um 8.00 Uhr in der elterlichen Wohnung in dem Dorf Kesselbach (heute Ortsteil von Rabenau, Landkreis Gießen), war sie, wie damals auf dem Land üblich, eine ‚Hausgeburt‘ (OuSt Rabenau). In Kesselbach lebten um diese Zeit sieben jüdische Familien (etwa 30 Personen), die der Synagogengemeinde im größeren Nachbarort Londorf angehörten. Die jüdischen Kesselbacherinnen waren für ihre besonderes Engagement in der ehrenamtlichen Krankenpflege bekannt; sie versorgten Glaubensgenossen in angrenzenden Dörfern und möglicherweise ebenso christliche Nachbarn: „[…] so haben sich die hiesigen Frauen zusammengefunden und eine Frauen-Chebra gegründet, deren Tätigkeit darin bestehen soll, den Armen bei Krankheit und Trauerfällen hilfreich beizustehen“ („Der Israelit“ v. 01.04.1889, zit. n. http://www.alemannia-judaica.de/londorf_synagoge.htm). Von handwerklichen und landwirtschaftlichen Berufen in der Regel ausgeschlossen, arbeiteten auch die Kesselbacher Juden hauptsächlich „als Viehhändler, als Metzger oder als Kleinkaufleute“; sie lebten wie ihre christlichen Nachbarn „in durchweg einfachen Verhältnissen“ (zit. n. ebd.). Die Eltern Bertha Schönfelds waren:

  • Zimmel „gen.[annt] Emilie“ Schönfeld geb. Wallenstein (geb. 24.07.1859) aus Alten-Buseck (vgl. http://www.alemannia-judaica.de/alten-buseck_synagoge.htm) im Landkreis Gießen, Tochter des Handelsmanns Abraham Wallenstein und der Hannchen geb. Stern (OuSt Rabenau);
  • Simon Schönfeld (geb. 20.07.1850) aus Kesselbach, von Beruf Kaufmann, Sohn des Handelsmanns Moses Schönfeld und der Rebekka geb. Maas.

Bertha Schönfeld war die Zweitgeborene von sechs Geschwistern, deren Lebensdaten zum Teil ebenfalls rekonstruiert werden konnten:

  • Rebekka (Rebeka, Rivka) Fuld (01.11.1881 Kesselbach – 05.02.1939 Frankfurt a.M.), die Älteste, welche als einzige noch einen jüdischem Vornamen trug;
  • Gertrud Schönfeld (21.05.1886 Kesselbach – 05.03.1889 Kesselbach), bereits als Kleinkind verstorben;
  • Adolph Friedrich Schönfeld (27.07.1888 Kesselbach – 17.12.1915), der einzige Bruder, gefallen im Ersten Weltkrieg;
  • Amalie Schönfeld (geb. 09.07.1890 in Kesselbach);
  • Johanna Senger geb. Schönfeld (22.06.1894 Kesselbach – [1942 deportiert]).

Bertha Schönfeld und ihre Geschwister besuchten wahrscheinlich die jüdische Schule in Londorf, wo sich auch eine Synagoge und der jüdische Friedhof befanden. Für jüdische Mädchen auf dem Lande mangelte es an beruflichen Aussichten ebenso wie an geeigneten Heiratskandidaten. Was Bertha Schönfeld betraf, legte sie zeitlebens großen Wert auf ihre persönliche Unabhängigkeit (vgl. Levinsohn-Wolf 1996: 27). Im September 1904 mit 21 Jahren volljährig geworden, verließ sie ihr Heimatdorf und nahm Kurs auf die Großstadt Frankfurt am Main, um bei dem überregional angesehenen Verein für jüdische Krankenpflegerinnen Krankenschwester zu lernen.

Stationen einer Krankenschwester: Privatpflege – Israelitisches Krankenhaus Straßburg – OP-Schwester in der Chirurgie des Jüdischen Krankenhauses Frankfurt a.M.
Als tatkräftige junge Frau Anfang Zwanzig startete Bertha Schönfeld noch in der ‚alten‘ Klinik („Königswarter Hospital„) der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main und dem ebenfalls in der Königswarterstraße gelegenen Schwesternhaus des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen (im Folgenden bezeichnet als: Frankfurter jüdischer Schwesternverein) ihre Ausbildung. Wie alle Bewerberinnen hatte sie den Richtlinien des Deutschen Verbandes Jüdischer Krankenpflegerinnenvereine von 1905 zufolge „einen ihrem künftigem Beruf entsprechenden Bildungsgrad, Gesundheitszustand und moralischen Lebenswandel“ (zit. n. Steppe 1997: 374) nachzuweisen. 1906 (vgl. ebd: 228) schloss sie ihre Ausbildung erfolgreich ab und war im Anschluss laut Satzungen des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins zu einer dreijährigen Dienstzeit verpflichtet. Der Verein hielt Bertha Schönfeld, wohl infolge ihrer Eigenständigkeit, für die ambulante häusliche Pflege befähigt: Die in Privathaushalten eingesetzten Schwestern hatten die Weisungen des Hausarztes zu befolgen, waren aber in keine Krankenhaushierarchie eingebunden, sondern bei pflegerischen Entscheidungen und im Umgang mit Kranken und deren Angehörigen auf sich gestellt. Hierzu waren „Schlüsselqualifikationen“ (siehe Palesch (Hg.) u.a. 2012: 9) wie selbständige Arbeitsweise, Organisationsvermögen, Belastbarkeit, Zuverlässigkeit und Einfühlungsvermögen unerlässlich. Nicht selten oblag der Schwester neben der eigentlichen Krankenpflege die gesamte Haushaltsführung inklusive Kinderbetreuung, Verköstigung und Wäschereinigung. Zum Schutz der Pflegekräfte vor beständiger Verfügbarkeit und Überlastung stellte der Frankfurter jüdische Schwesternverein ein eigenes Regelwerk auf, beaufsichtigt von Oberin Minna Hirsch: So sollte die in der Privatpflege tätige Schwester „täglich 1 bis 2 Stunden das Haus, in welchem sie pflegt, verlassen, um sich in frischer Luft zu erholen. Die Zeit des Ausgangs ist je nach der Lage des Krankheitsfalls in Uebereinstimmung mit dem behandelnden Arzte und der Familie festzusetzen“ (zit. n. Steppe 1997: 384). Auch war es ihr „im Interesse ihrer eigenen Gesundheit streng untersagt, mehr als zwei aufeinanderfolgende Nachtwachen zu leisten. Die zweite Nachtwache darf nur unter Zustimmung der Oberin oder deren Stellvertreterin geleistet werden“ (ebd.). Grundsätzlich konnte die Privatpflege auch in nichtjüdischen Haushalten stattfinden, doch waren gerade jüdische Haushalte wegen der gesicherten rituellen Versorgung an einer jüdischen Pflegekraft interessiert. Damit ihr eigenes religiöses Leben nicht zu kurz kam, konnte die Pflegende beim Schwesternverein eine Hilfskraft anfordern.


1911 stand Bertha Schönfeld vor einer neuen beruflichen Herausforderung: Ihr Arbeitsplatz verlagerte sich von Frankfurt in das Elsass (bis 1918 Verwaltungsgebiet des Deutschen Reiches), wo der Frankfurter jüdische Schwesternverein unter der Leitung von Oberin Julie Glaser die Pflege am Israelitischen Krankenhaus Straßburg (Clinique Adassa) übernommen hatte. Noch vor dem Ersten Weltkrieg kehrte Schwester Bertha wieder zurück, da das im Mai 1914 neu eröffnete große Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main in der Gagernstraße (im Folgenden bezeichnet als: Krankenhaus Gagernstraße) weiteres qualifiziertes Pflegepersonal benötigte; sie wohnte im neuen modernen jüdischen Schwesternhaus in der angrenzenden Bornheimer Landwehr. Als nur wenig später, im August 1914, die Völkerschlacht des Ersten Weltkriegs begann, wurde Schwester Bertha zunächst nicht in den in Krankenhaus und Schwesternhaus eingerichteten Lazaretten eingesetzt. Stattdessen leistete sie zusammen mit Oberschwester Ida (vermutlich Ida Elise Holz) und einer weiteren (namentlich unbekannten) Kollegin Verwundetenpflege im Städtischen Lazarett „Krankenhaus Ost“ (vgl. Rechenschaftsbericht 1920: 37, 63); dort arbeiteten die drei Jüdinnen mit hauptsächlich nichtjüdischen/christlichen Pflegekräften und Ärzten zusammen.
Mitten im Krieg, am 1. Februar 1917, erhielt Bertha Schönfeld, inzwischen Operationsschwester in der Chirurgischen Abteilung des Krankenhauses Gagernstraße, für zehnjährige „treue Tätigkeit“ die goldene Brosche des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins (Rechenschaftsbericht 1920: 62). Gewiss erlebte sie die Kapitulation 1918 des so siegesgewiss angetretenen wilhelminischen Kaiserreichs wie die großen Mehrheit der Deutschen, ob jüdisch oder nichtjüdisch, als Schmach. Wie mochte sie zugleich die antisemitischen Hetzkampagnen, die ‚die Juden‘ sowie ‚die Linken‘ als Schuldige der Niederlage darstellten, empfunden haben, zumal sich unter den insgesamt etwa 12.000 gefallenen deutsch-jüdischen Soldaten auch ihr einziger Bruder Friedrich befand?


Wohl aus organisatorischen Gründen zog Bertha Schönfeld am 30. Dezember 1925 vom Schwesternhaus in das Krankenhaus um (ISG Ffm: HB 686: 56). Sie war eine tüchtige und erfahrene Pflegekraft, galt aber im persönlichen Umgang als schwierig (vgl. Levinsohn-Wolf 1996: 26-28). Sah sich die unverheiratet und kinderlos gebliebene über Vierzigjährige als ’spätes Mädchen‘ und ‚alte Jungfer‘, wie es zu dieser Zeit abschätzig hieß? Wurde sie bei anstehenden Beförderungen, etwa zur Oberschwester, übergangen? Mangels veröffentlichter Selbstzeugnisse ist über die Kommunikation zwischen Pflegenden und ihren ärztlichen Vorgesetzten sowie untereinander wenig bekannt. Umso wertvoller sind die Einblicke in den Großbetrieb des Krankenhauses Gagernstraße, die uns Thea Levinsohn-Wolf, eine jüngere Kollegin Bertha Schönfelds, durch ihre Autobiographie gewährt. Wie an nahezu jeder Arbeitsstätte gab es dort neben Teamsolidarität auch zwischenmenschliche Konflikte. Im Operationssaal der Chirurgie, so berichtet Schwester Thea, „herrschte seit vielen Jahren Schwester Bertha. Sie behielt ihre vielen jeweiligen Hilfen allerhöchstens für ein Jahr. Böse Zungen sagten von ihr, daß sie fürchterlich eifersüchtig auf jede junge Schwester sei, auf deren eventuelle Tüchtigkeit und eine möglicherweise wachsende Vorliebe des Chirurgen für sie als instrumentierende Schwester. Die Ärzte hätten allerdings niemals gewagt, einen Finger zu rühren – ohne Schwester Berthas vorherige Einwilligung“ (Levinsohn-Wolf 1996: 26f.). Chefarzt der Chirurgie war Dr. Emil Altschüler, sein Stellvertreter Dr. Fritz Katz. Zusammen mit ihrer Kollegin Rosa Spiero (der jüngsten Schwester von Rahel Seckbach, Oberin des Gumpertz´schen Siechenhauses) oblag Bertha Schönfeld nicht nur die Assistenz bei den Operationen, sondern die pflegerische Verantwortung für die gesamte chirurgische Abteilung. Oberschwester war allerdings die etwas jüngere Rosa Spiero und damit Bertha Schönfelds direkte Vorgesetzte und zudem Anästhesieschwester. Ihre beruflichen Wege hatten sich immer wieder gekreuzt: Sie waren der gleiche Abschlussjahrgang (1906) im jüdischen Schwesternhaus und hatten beide vor dem Ersten Weltkrieg im Israelitischen Krankenhaus Straßburg gepflegt. Freundinnen wurden sie nicht. Thea Levinsohn-Wolf erinnert sich: „[…] wir jungen Schwestern hatten einen Heidenspaß an diesen beiden Kampfhähnen, denn sie konnten sich ganz schön laut anschreien, was für Abwechslung und Luftbereinigung sorgte“ (ebd., 27). Und sie fügt hinzu: „Beide Schwestern waren starke Charaktere“ (ebd.).

NS-Zeit

Grab der Bertha Schönfeld auf dem Jüdischen Friedhof Eckenheimer Landstraße, 2011
© Birgit Seemann

Seit dem 3. Februar 1934 war Bertha Schönfeld in der Waldschmidtstraße 82 gemeldet (ISG Ffm: HB 686: 56). Weshalb sie während der NS-Zeit für einige Jahre außerhalb von Krankenhaus und Schwesternhaus wohnte, ist unbekannt. Leistete sie trotz eigener gesundheitlicher Beschwerden wieder Privatpflege? Unterstützte sie Verwandte? Vielleicht war sie bereits Rentnerin und hatte eine eigene Wohnung bezogen, obwohl ihr ein Alterssitz im Frankfurter jüdischen Schwesternhaus zustand. Später wohnte sie in der Hanauer Landstraße 27. Als Bertha Schönfeld, möglicherweise unter dem Eindruck des Novemberpogroms und seiner Nachwirkungen, am 5. Dezember 1938 wieder in das Schwesternhaus zurückkehrte, war sie in den Akten als ‚Schwester in Rente‘ vermerkt (ISG Ffm: HB 655: 59). Seit dem 1. Januar 1939 musste sie gemäß der von den Nationalsozialisten zwangsverordneten Änderung von Familiennamen und Vornamen den Zusatznamen „Sara“ (bei Männern: „Israel“) tragen. Am 5. Februar 1939 traf sie ein schwerer persönlicher Schicksalsschlag: Ihre ältere Schwester Rebekka Fuld nahm sich in Frankfurt am Main mit 57 Jahren das Leben (Yad Vashem: Datenbank, Gedenkblatt). Bertha Schönfelds Schwager August Fuld (geb. 11.01.1882 in Wolfenhausen) – Dekorateur, Tapezierer und Inhaber der bei dem Novemberpogrom 1938 zerstörten Polsterwerkstatt „A. Fuld“ (Jüdisches Museum Frankfurt a.M.: interne Datenbank) – war zuvor aus dem KZ Buchenwald zurückgekehrt und schlug sich fortan als Hilfsarbeiter durch; am 11. November 1941 wurde er von Frankfurt in das Ghetto Minsk (Weißrussland) deportiert und später für tot erklärt. Berthas jüngste Schwester Johanna Senger – sie hatte nach Sachsen-Anhalt geheiratet – wurde am 14. April 1942 ab Magdeburg, zusammen mit Felix Senger (geb. 23.07.1882 in Ueckermünde/Pommern) und Friedrich Senger (geb. 14.07.1925 in Bernburg), vermutlich Ehemann und Sohn, in das Ghetto Warschau verschleppt, wo sich ihre Spuren verlieren.
Am 19. November 1940 vertrieb die NS-Zwangsräumung des Schwesternhauses Bertha Schönfeld von ihrem Alterssitz, sie musste zusammen mit ihren Kolleginnen in das Krankenhaus Gagernstraße umziehen (ISG Ffm: HB 655: 59). Wie die letzten Monate ihres Lebens verliefen, ist unbekannt. Doch war sie sich angesichts der starken Fluktuation des medizinischen und Pflegepersonals durch Emigration (etwa von Oberschwester Rosa Spiero, ihrer früheren Kontrahentin, am 24. März 1941) und der Räumung (1941) des Gumpertz’schen Siechenhauses und der Rothschild’schen Spitäler im Röderbergweg darüber im Klaren, dass sich auch das Krankenhaus Gagernstraße in Auflösung befand. Die letzte Frankfurter jüdische Klinik, Zuflucht für kranke, alte und und weitere Hilfe suchende antisemitisch Verfolgte, war völlig überfüllt und wurde als NS-Sammelstelle vor den Deportationen missbraucht. Am 29. Juni 1941 schied Bertha Schönfeld durch Gift aus dem Leben (ISG Ffm: HB 687: 326) – mit 57 Jahren, wie ihre Schwester Rebekka. Thea Levinsohn-Wolf (1996: 27) schreibt: „Schwester Bertha hatte beschlossen, ihr Leben auf ihre Art zu leben und gegebenenfalls auch zu beenden. Um nicht die Schmach der Deportation erdulden zu müssen, nahm sie sich das Leben.“
Der Suizid Verfolgter unter dem NS-Regime wird in der Forschung unterschiedlich gedeutet (vgl. etwa Fischer (Hg.) 2007; Goeschel 2011): War es ein „Akt der Verzweiflung“, ein letzter „Fluchtweg“, eine bewusste „Entziehung, die gar eine aktive Widerstandshandlung implizieren kann“ (Ohnhäuser 2010: 23)? Für die NS-Täter bedeutete der Suizid eines Opfers offenbar eine Art Niederlage, entzogen sich doch die Betroffenen durch einen eigenständigen Akt ihrer totalitären Kontrolle; „so dominierte in der zweiten Hälfte der NS-Herrschaft der Anspruch der Machthaber auf die Entscheidungsgewalt über Leben und Tod ihrer ausgesuchten ‚Gegner'“ (ebd.: 24). Der Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig verzeichnet für 1942 zwei Dissertationen an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien: ‚Der Selbstmord, unter besonderer Berücksichtigung der Juden‘ (Wolfgang Damus) und – im NS-Jargon – ‚Der Selbstmord bei Juden und Judenmischlingen‘ (Hans Kallenbach).
In seiner Studie zu dem Berliner Internisten a.o. Prof. Dr. med. Arthur Nicolaier (geb. 1862), welcher sich 1942 das Leben nahm, verweist Tim Ohnhäuser zudem darauf, dass dieser schon längst den ’sozialen Tod‘ der aus dem NS-Alltag selektierten jüdischen Deutschen erlitten hatte. Den zweiten ’sozialen Tod‘ ereilte Dr. Nicolaier dann nach der NS-Zeit durch „Vergessen als Teil der Vernichtung“ (Ohnhäuser 2010: 31): Lange Zeit erinnerte sich kaum jemand an den Entdecker des Tetanuserregers, der wesentlich dazu beitrug, den Wundstarrkrampf zu besiegen.

Auch Bertha Schönfeld, deren Pflege so vielen jüdischen wie nichtjüdischen Kranken zugutekam, ist heute vergessen. Wie ihre Schwester Rebekka Fuld wurde sie auf dem Jüdischen Friedhof in der Eckenheimer Landstraße beerdigt; der Eintrag im Gräberverzeichnis und auf dem Grabstein lautet „Berta Schonfeld“. Schwester Thekla Dinkelspühler (1901 [Bad] Homburg v.d.H. – 1942 Frankfurt a.M.)

Geburtsurkunde von Thekla Dinkelspühler
© Stadtarchiv Bad Homburg

Anders als Bertha Schönfeld war Thekla Dinkelspühler wohl keine Krankenschwester aus Berufung, sondern aus Not: Mit 38 Jahren trat sie unter den repressiven Bedingungen der NS-Zeit als Lernschwester in das Krankenhaus Gagernstraße ein. Während Schwester Bertha aus einem kleinen hessischen Dorf stammte und „echten Frankfurter Dialekt“ (Levinsohn-Wolf 1996: 28) sprach, war Schwester Thekla städtisch geprägt und in einem mittelständischen Geschäftshaushalt aufgewachsen.
Geboren wurde Thekla Dinkelspühler am 4. Juni 1904 zusammen mit ihrer kurz nach ihr auf die Welt gekommenen Zwillingsschwester Luise (auch: Louise; urkundlich: Louisa) in der Wohnung ihrer Eltern, Louisenstraße 34, in der südhessischen Kurstadt Homburg vor der Höhe (seit 1912 Bad Homburg). Sie waren die jüngsten Töchter des Kaufmanns Moritz Dinkelspühler (01.11.1856 Fürth – 01.05.1917 [Bad Homburg v.d.H.]) und seiner Frau Klara (Clara) geb. Eichenberg (20.10.1867 Bad Homburg – 30.05.1934 [Bad Homburg v.d.H.]); der Familienname Dinkelspühler leitet sich vermutlich von der bayerisch-mittelfränkischen Reichsstadt Dinkelsbühl her. Thekla und Luise hatten drei Schwestern:

  • Minna (Mina) Dörnberg (09.07.1888 Homburg v.d.H. – 23.01.1943 Ghetto Theresienstadt [Suizid]) (vgl. auch Daume u.a. (Hg.) 2013, 413);
  • Hedwig Sandberg (1890 Homburg v.d.H. – 1940 oder 1941);
  • Frieda Sandberg (11.10.1892 Homburg v.d.H. – [12.10.1944 deportiert nach Auschwitz]).
  • Die Zwillingsschwester Luise Dinkelspühler, bis zu ihrer NS-bedingten Entlassung als Stenotypistin und Büroangestellte in Bad Homburg sowie in einer Zwieback-Fabrik im nahgelegenen Friedrichsdorf/Ts. tätig, konnte im April 1937 in die USA flüchten. In New York arbeitete sie als Krankenschwester: seit 1941 im Krankenhaus, seit 1946 als Privatschwester (HHStA Wiesbaden).

Moritz Dinkelspühler hatte in das Manufakturwarengeschäft Lehmann & Eichenberg in der Louisenstraße 23 eingeheiratet, er war Mitglied des angesehenen Talmud-Thora-Vereins (vgl. Grosche 1991: 29). Nach seinem Tod (1917) führte die Witwe Klara Dinkelspühler das Geschäft für Textilien, Stoffe, Garne und Damen- und Herrenwäsche fort (ebd.: 44); sie selbst verstarb 1934. Ein Jahr zuvor hatte sie am 1. April noch den staatlich organisierten NS-Boykott jüdischer Unternehmen miterlebt. Ob das Haus Louisenstraße 23 vor oder erst nach der ‚Arisierung‘ einem nichtjüdischen Kohlenhändler gehörte, bleibt noch näher zu prüfen. In den 1930er Jahren wohnte Thekla Dinkelspühler zusammen mit einer ihrer Schwestern im 2. Stock zur Miete (ebd.: 79). Geschäft und Erbe waren verloren. Als 1938 der Novemberpogrom in Bad Homburg tagsüber, vor aller Augen, stattfand, blieb ihre Wohnung nicht verschont. Anlässlich eines nach dem Krieg angestrengten Gerichtsverfahrens berichtete ein Tatbeteiligter: „Auf der ersten Treppe nach oben begegnete ich den Geschwistern Dinkelspühler. Ich ging sodann in den II. Stock […]. Dort waren mehrere Leute […] mit der Demolierung der Wohnungseinrichtung beschäftigt. […] Ich will bekunden, daß ich einen der Männer daran gehindert habe, einige Toilettenseifen einzustecken“ (zit. n. Grosche 1991: 79). Zeugen warfen dem NS-Täter vor, er habe sich sehr wohl „in der Wohnung der Geschwister Dinkelspühler an der Zerstörung der Wohnungseinrichtung aktiv beteiligt“, wo er sogar „auch das Bad zerschlagen“ wollte (Tätervernehmung, zit. n. ebd.: 80).
Am 30. April 1939 hob das NS-Regime den Mieterschutz für alle von ihm als Juden Klassifizierte auf. Auch Thekla Dinkelspühler drohte nun die Zwangseinweisung in ein Ghettohaus (‚Judenhaus‘). Möglicherweise bemühte sie sich vergeblich um eine Ausreise aus Nazideutschland. Sie nutzte die noch verbliebenen wenigen Handlungsoptionen und verließ ihre Geburtsstadt Richtung Frankfurt am Main. Am 14. August 1939 nahm sie der Frankfurter jüdische Schwesternverein als Lernschwester auf (ISG Ffm: HB 655: 64); nicht bekannt ist, ob sie bereits über Pflegeerfahrung verfügte. Sie wohnte wie Bertha Schönfeld im Schwesternhaus und war am 19. November 1940 ebenfalls vom Zwangsumzug in das Krankenhaus Gagernstraße betroffen (vgl. ebd.). Dort beteiligte sie sich vermutlich an der Kranken- und Altenpflege, die infolge der zunehmenden NS-Repressionen unter immer schwierigeren Bedingungen stattfand. Von Schwester Berthas Suizid im Juni 1941 erhielt sie gewiss Kenntnis.

Fotografie: Grab von Thekla Dinkelspühler, Jüdischer Friedhof Eckenheimer Landstraße, Frankfurt a.M., 2011
Grab von Thekla Dinkelspühler, Jüdischer Friedhof Eckenheimer Landstraße, 2011
© Birgit Seemann
Fotografie: Gebetstext am Eingang zum Jüdischen Friedhof Eckenheimer Landstraße, Frankfurt a.M., 2011
Gebetstext am Eingang zum Jüdischen Friedhof Eckenheimer Landstraße, 2011
© Birgit Seemann

Auch Thekla Dinkelspühler nahm sich am 22. Mai 1942 im Krankenhaus Gagernstraße das Leben (ISG Ffm: HB 687, S. 48). Sie wurde 40 Jahre alt. Nur zwei Tage später fand eine weitere große Deportation von Frankfurt nach Polen, diesmal nach Majdanek oder in das Durchgangslager Izbica, statt, von der niemand zurückkehrte. Anders als die in der Schoah Ermordeten erhielt Schwester Thekla auf dem Jüdischen Friedhof Eckenheimer Landstraße ein eigenes Grab. Weder von Thekla Dinkelspühler noch von Bertha Schönfeld sind bislang autobiographische Quellen, etwa Briefe und Tagebücher, überliefert, sie gelten als verschollen. So kann auch dieser Artikel nur eine Annäherung an ihre Biographien sein.

Die Autorin dankt Frau Mira Schneider (Ordnungs- und Standesamt Rabenau), Frau Dr. Krüger und Herrn Mengl (Stadtarchiv Bad Homburg) sowie Dr. Siegbert Wolf (Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a.M.) für ihre Unterstützung und wertvollen Hinweise. Ohne Adolf Diamants, Thea Levinsohn-Wolfs, Allan Hirshs oder Hilde Steppes Erinnerungsarbeit wären Bertha Schönfeld und Thekla Dinkelspühler heute wohl völlig vergessen.

Birgit Seemann, 2014, updated 2017

Ungedruckte Quellen

ISG Ffm: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main Hausstandsbücher:

HB 655: Hausstandsbuch Bornheimer Landwehr 85 (Verein der jüdischen Krankenpflegerinnen zu Frankfurt a.M.), Sign. 655

HB 686: Hausstandsbücher Gagernstraße 36 (Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde Frankfurt a.M.), Sign. 686, Teil 1

HB 687: Hausstandsbücher Gagernstraße 36 (Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde Frankfurt a.M.), Sign. 687, Teil 2

 OuSt Rabenau: Ordnungs- und Standesamt Rabenau:

Personenstandsunterlagen Familie Schönfeld

 HHStA Wiesbaden: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden:

Entschädigungsakte Luise Dinkelspühler, Sign. 518/10299.

 StAHG: Stadtarchiv Bad Homburg, Personenstandsunterlagen:

Geburtsurkunde Nr. 129 Dinkelspühler, Thekla

Geburtsurkunde Nr. 130 Dinkelspühler, Louisa

Literatur


Alicke, Klaus-Dieter 2008: Lexikon der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum. Gütersloh, 3 Bde.

Améry, Jean 2012: Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod. 14. Aufl. Stuttgart.

Daume, Heinz u.a. (Hg.) 2013: Getauft, ausgestoßen – und vergessen? Zum Umgang der evangelischen Kirchen in Hessen mit den Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus. Ein Arbeits-, Lese- und Gedenkbuch. Red.: Renate Hebauf u. Hartmut Schmidt. Hanau.

Diamant, Adolf 1983: Durch Freitod aus dem Leben geschiedene Frankfurter Juden. 1933–1943. Frankfurt a.M. [Selbstverlag].

Fischer, Anna (Hg.) 2007: Erzwungener Freitod. Spuren und Zeugnisse in den Freitod getriebener Juden der Jahre 1938–1945 in Berlin. Berlin.

Goeschel, Christian 2011: Selbstmord im Dritten Reich. Berlin.

Grosche, Heinz 1991: Geschichte der Juden in Bad Homburg vor der Höhe. 1866 bis 1945. Hg. v. Magistrat der Stadt Bad Homburg vor der Höhe. In Zsarb. mit Klaus Rohde. Mit e. Beitr. v. Oberbürgermeister Wolfgang R. Assmann. Frankfurt a.M.

Herz, Yitzhak Sophoni 1981: Meine Erinnerung an Bad Homburg und seine 600jährige jüdische Gemeinde. (1335–1942). Rechovoth (Israel): Y. S. Herz; Bad Homburg v.d.H. – 2. Aufl. 1983.

Kieser, Harro o. J.: Jüdische Erinnerungsstätten in Bad Homburg. In: Gemeinschaftskreis UNSER HOMBURG: http://www.gemeinschaftskreis-unser-homburg.de/wp-content/uploads/2010/03/Jüdische-Erinnerungsstätten-in-Bad-Homburg.pdf.

Kingreen, Monica (Hg.) 1999: „Nach der Kristallnacht“. Jüdisches Leben und antijüdische Politik in Frankfurt am Main 1938–1945. Frankfurt a.M., New York.

Levinsohn-Wolf, Thea 1996: Stationen einer jüdischen Krankenschwester. Deutschland – Ägypten – Israel. Frankfurt a.M.

Ohnhäuser, Tim 2010: Der Arzt und Hochschullehrer Arthur Nicolaier (1862–1942). Eine Annäherung an die Suizide der als „nicht arisch“ verfolgten Ärzte im Nationalsozialismus. In: Kühl, Richard u.a. (Hg.): Verfolger und Verfolgte. Bilder ärztlichen Handelns im Nationalsozialismus. Münster, 15-38.

Palesch, Anja u.a. (Hg.) 2012: Leitfaden Ambulante Pflege. Unter Mitarb. v. Anne Ewering u. Tengü Topuzoglu. 3. Aufl. München.

Rechenschaftsbericht 1920: Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main, Rechenschaftsbericht für die Jahre 1913 bis 1919, Frankfurt a.M., 1920.

Steppe, Hilde 1997: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre …“. Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt a.M.

Internetquellen (aufgerufen am 19.10.2017)


Alemannia Judaica (Alten-Buseck/ Buseck, Kreis Gießen): http://www.alemannia-judaica.de/alten-buseck_synagoge.htm

Alemannia Judaica (Bad Homburg): http://www.alemannia-judaica.de/bad_homburg_vdh_synagoge.htm

Alemannia Judaica (Kesselbach/ Rabenau): http://www.alemannia-judaica.de/londorf_synagoge.htm

Gedenkbuch BA Koblenz: Bundesarchiv Koblenz: Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945. Gedenkbuch: http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/directory.html.de

Hirsh, Allan o.J.: Bamberger/Wassermann Family Tree [private genealogische Website]: http://www.ahirsh.com/pdfs/BAMBERGER-WASSERMANN_TREE.pdf

Jüdische Friedhöfe in Frankfurt: http://www.jg-ffm.de/de/religioeses-leben/juedische-friedhoefe

Jüdisches Museum Frankfurt am Main (mit interner Datenbank der aus Frankfurt Deportierten): http://www.juedischesmuseum.de

Spurensuche. Jüdische Friedhöfe in Deutschland. Eine Einführung für Lehrer und Schüler. Website des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen, Duisburg: http://spurensuche.steinheim-institut.org/index.html

Yad Vashem (Jerusalem): Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer: http://www.yadvashem.org

Henry und Emma Budge-Heim für alleinstehende alte Menschen

Stiftungs- und Baugeschichte

Die Stiftungsgeschichte

Gemälde: Henry Budge.
Henry Budge
© Henry und Emma Budge-Stiftung

Am 20.12.1920 schrieb Henry Budge anlässlich seines 80. Geburtstages an die Stadt Frankfurt am Main: „Aus Anlaß eines freudigen Ereignisses errichte ich zum Andenken an meine geliebten seligen Eltern Moritz und Henriette Budge in Frankfurt unter dem Namen ‚Henry und Emma Budge-Stiftung‘ eine Stiftung mit einem Kapital von einer Million Mark“ (Arnsberg 1972: 38). Zweck der Stiftung sollte die Fürsorge für Erholungsbedürftige nach einer Krankheit sein. Geplant waren Geldbeihilfen, die je zur Hälfte Juden und Christen zukommen sollten. Entscheidungsberechtigt sollten die Stiftung, der Almosenkasten der Israelitischen Gemeinde und das Städtische Fürsorgeamt sein (vgl. Arnsberg 1972: 43).

Ein halbes Jahr später konstituierte sich der Stiftungsvorstand mit Bürgermeister Eduard Gräf, Stadtrat Dr. Karl Schlosser und zwei Mitgliedern, die das Städtische Wohlfahrtsamt benannte. Jüdische Mitglieder des Vorstands waren Philipp Schiff und Eduard Stern für den Israelitischen Almosenkasten und Bernhard Simon, Dr. Albert Ettlinger und Stephanie Forchheimer als Vertreter der Israelitischen Gemeinde (vgl. Arnsberg 1972: 38).

Die überwiesene Million wurde jedoch unter dem Einfluss der Inflation nahezu vernichtet. Henry Budge schoss im März 1922 nochmals 500.000 und im Februar 1923 weitere 3 Millionen Mark nach. „Wie grotesk sich die Inflation für die Stiftung auswirkte, zeigt der Brief vom 7.8.1923 an den Magistrat, worin sich Henry Budge bereit erklärte, dem ‚jetzigen Kapital von 15 Millionen Reichsmark‘ einen weiteren Betrag von ‚Zweihundert Dollar hinzuzufügen (die Akten besagen, daß dies dem Wert von 800.000.000 Mark!! [sic] entsprochen habe)'“ (Arnsberg 1972: 39).

Mit der Währungsreform vom Oktober 1923 stabilisierte sich die Lage. Henry Budge hatte bis dahin 70.406 Goldmark in die Stiftung investiert, die zum größten Teil an Bedürftige ausgezahlt worden waren. 1928 änderte man den Zweck der Stiftung in den Bau eines Altersheims und begann mit Planungsarbeiten (vgl. Arnsberg 1972: 40).

Die Kosten für das Altersheim betrugen 1.012.410 RM, die die Stiftung und die Stadt Frankfurt gemeinsam aufbrachten (vgl. Magistratsakte V 691, zit. nach Picard 1997: 9). Die Verwaltung und der Betrieb des Heims gingen zu Lasten der Stadt (vgl. Arnsberg 1972: 44).
Henry Budge erlebte den Fortgang der Dinge nicht mehr, er starb im Oktober 1928. Seine Frau Emma Budge nahm bis zu ihrem Tod im Februar 1937 am Werdegang der Stiftung und des Altersheims teil, musste sich jedoch mehr und mehr mit dem Druck der nationalsozialistischen Regierung auseinandersetzen; so wurde etwa der „satzungsmäßige Anteil jüdischer Bewohner 1935 auf ein Drittel verkleinert“ (Picard 1997: 10). Seit 1938 gab es im Heim eine Trennung in eine jüdische und in eine „arische“ Abteilung (vgl. Hütte 2008). 1939 trat Max L. Cahn dem Stiftungsvorstand bei. Der Jurist Cahn blieb als jüdischer Konsulent in Deutschland und spielte nach dem Krieg bei der Neugründung der Frankfurter Jüdischen Gemeinde eine wichtige Rolle (vgl. Hütte 2012). Am 1.4.1939 musste das Heim an die Stadt abgetreten werden. Von nun an hieß das Haus „Heim am Dornbusch“ und sollte nur noch von „arischen Volksgenossen“ bewohnt werden (vgl. Lustiger 1994: 316).

1941 ging die Hälfte des Stiftungsvermögens für mildtätige Zwecke an die Stadt Frankfurt. Die fünf Mitglieder des jüdischen Gesamtvorstandes (Kauffmann, Marxheimer, Weil, Wolfskehl und Cahn) akzeptierten die Auflösung der anderen, der jüdischen Hälfte der Stiftung, sie ging an die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zur Unterstützung der jüdischen Wohlfahrtspflege. Das Stiftungsvermögen betrug zu dieser Zeit noch 180.000 RM, von denen das Finanzamt 140.000 RM als Schenkungssteuernachzahlung forderte, einer Steuer, die nur von Juden erhoben wurde. Für die Reichsvereinigung der Juden blieben letztlich ca. 33.000 RM. Bereits im Dezember 1941 ging der größte Teil dieser Zahlungen auf ein Sperrkonto der Gestapo-Institution „Reichsvereinigung“ und trug dazu bei, die Rechnungen für die Transporte nach Auschwitz zu bezahlen (vgl. Lustiger 1994: 317; Picard 1997: 11).

1945 beschlagnahmten die Amerikaner das schwer beschädigte Gebäude am Edingerweg. Ab 1951 wurden Wiedergutmachungsansprüche nach dem Bundesentschädigungsgesetz geltend gemacht. Nach einer Vereinbarung der Stadt Frankfurt am Main, der Jüdischen Gemeinde und der Nachfolgeorganisation des Israelitischen Almosenkastens „ISRO“ wurde die Stiftung 1956 in ihre alten Rechte und Vermögenstitel wieder eingesetzt und die Weiterführung des Altenheims, gemäß Stiftungssatzung, wurde vorgesehen. Von nun an bezahlten die Amerikaner jährlich 94.000 DM an Miete.

1958 setzte sich der Vorstand aus folgenden Personen zusammen: Stadtrat Dr. Rudolf Prestel, Rechtsanwalt und Notar Max L. Cahn, Landgerichtsdirektor Dr. Kurt Bruck, Rechtsanwalt Martin Meyer, Kaufmann Max Meyer, Redakteur Hans Nassauer, Stadtrat Dr. Erich Zeitz, Obermagistratsrat Baldes und Magistratsrat Grossmann.

1964 übernahm die Bundesvermögensverwaltung das Haus und das Grundstück für 1,8 Millionen DM. Der Betrag bildete zusammen mit den Mieteinnahmen die Basis für den Bau eines neuen Altenheims durch die wieder aufgebaute Stiftung (vgl. Arnsberg 1972: 47-52).

Die Baugeschichte des Heims

Zeichnung: Henry und Emma Budge-Heim für alleinstehende alte Menschen, Entwurfszeichung.
Henry und Emma Budge-Heim für alleinstehende alte Menschen, Entwurfszeichung.
© Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main

Im September 1928 hatten die Architekten Ferdinand Kramer, Erika Habermann, Mart Stam und Werner Moser den ausgeschriebenen Architekturwettbewerb, unter dem Vorsitz des Stadtbaurats Ernst May, gewonnen (vgl. Risse 1984: 225). Am 04.07.1929 wurde der Grundstein im Edingerweg 9 gelegt, man vergrub eine Urkunde, die bis heute nicht wieder aufgefunden werden konnte (vgl. Arnsberg 1972: 5). Die Einweihung des Heims fand im Juni 1930 statt.

Im Februar 1944 beschädigte ein Bombentreffer das Gebäude schwer, der zentrale Querbau wurde zerstört. Laut mündlicher Information aus dem Institut für Stadtgeschichte in Frankurt am Main gibt es alte Malerrechnungen, die besagen, dass das Gebäude in den letzten Kriegstagen einen Tarnanstrich erhalten hatte (Picard 2012). Die letzten Bewohner mussten das „Heim am Dornbusch“ 1945 verlassen, sie wurden zunächst auf andere Häuser im Stadtgebiet verteilt, bevor sie nach Bad Salzhausen gebracht wurden und weiter ins Schloss Wächtersbach. Nach der Nutzung von 1945 bis 1995 durch das V. Armeekorps der Amerikaner als Zahnklinik stand das Gebäude bis 1997 leer (vgl. Picard 1997: 11). Nach einem Ideenwettbewerb, initiiert durch das Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a. M. und das Deutsche Museum für Architektur, folgte eine denkmalgeschützte Renovierung, und es zog wieder ein Altenheim unter neuer Leitung und dem Namen „Seniorenwohnanlage Grünhof“ ein.

Die baugeschichtliche Bedeutung
Der Bau des Budge-Heims fand im Rahmen des „Neuen Frankfurt“ statt. Oberbürgermeister Ludwig Landmann (1924-1933) hatte mit großer Tatkraft begonnen, die Wohnmissstände in Frankfurt zu beseitigen, wobei er sowohl die psychische als auch die physische Gesundheit der Menschen im Auge hatte. Er schuf das Siedlungsamt und stellte ihm Ernst May vor, unterstützt durch den künstlerischen Direktor Martin Elsaesser. Ziel des „Neuen Frankfurt“ war es, die soziale und kulturelle Qualität des Massenwohnungsbaus zu heben, wobei es jedoch nie avantgardistisch, im Sinne der Modernität eines Le Corbusier, wurde, obwohl „man dazu durchaus die gestalterischen Qualitäten im Hochbauamt gehabt hätte, [was] […] solche hervorragenden Einzelbauten wie das Budge-Heim [und andere] [belegen]“ (Mohr 1984: 68).

Architekturwettbewerb und grundlegende Ideen
Die dem Neubau zugrunde liegende Planungsidee wird im Wettbewerbstext erläutert: „1. Gib jedem Rentner möglichst viel Bewegungsfläche, sperr ihn nicht in ein Zimmer, eine Schachtel ein, sondern laß ihn, so lange es seine Kräfte ihm erlauben, seine Terrasse und den Garten als ihm gehörend betrachten […]. 2. Die Bewirtschaftung ist eine technisch-organisatorische Frage. Sie soll möglichst einfach und reibungslos, das heißt auf dem kürzesten Wege vor sich gehen. […] Wir haben die Wirtschaftsräume daher in die Mitte projektiert […]“ (Das neue Frankfurt 1928: 191f., zit. n. Mohr 1984: 270).
Eine detaillierte Beschreibung der innovativen Architektur der einzelnen Wohnungen findet sich ebenfalls in „Das neue Frankfurt“: Jede Wohnung bestand aus Vorraum, Abstellraum, Wohnzimmer und Balkon. Im Vorraum befand sich eine Kleiderablage mit Schirmständer, Waschtisch mit Spiegel und Glastablett, ein Schränkchen mit emaillierter Abdeckplatte als Kochschränkchen und ein großer Wandschrank für Kleider und Wäsche. Die Wand hinter dem Waschtisch war abwaschbar. Im Abstellraum gab es Platz für Koffer. Das eigentliche Zimmer war sowohl Wohn- als auch Schlafzimmer. Das große Fenster, fast von Wand zu Wand und über die gesamte Zimmerhöhe, schuf eine Beziehung nach draußen, was durch den direkten Zugang auf den Balkon verstärkt wurde und einen geräumigen Eindruck vermittelte. Obwohl alle Räume so klein wie nur möglich waren, wurde durch die offenen Raumbegrenzungen jeder bedrückende und beengende Eindruck von vornherein ausgeschlossen. Bemerkenswert war die konsequente Südausrichtung der Zimmer (vgl. „Das neue Frankfurt“ 1930: 172, zit. n. Mohr 1984: 270). Durch die H-Formation des Gebäudes wurden die Wohnungen mit den zentralen Gemeinschaftsräumen in Beziehung gebracht, es entstanden kurze Wege, eine zentrale Versorgung, die Öffnung ins Freie sowie Betriebs- und Baukosteneinsparungen (vgl. Mohr 1984: 271). „Die Ansprüche des Kollektivs und der Privatheit sind in idealer Weise ausgewogen. Das Henry und Emma Budge-Altersheim ist einer der intellektuellsten Sonderbauten des Neuen Frankfurt und im Hinblick auf rationelle Bebauungsweisen im Städtebau ein Experimentobjekt“ (Mohr 1984: 271).

Edgar Bönisch 2013

Literatur

Arnsberg, Paul 1972: Henry Budge. Der „geliebten Vaterstadt – Segen gestiftet“. Frankfurt am Main

Lustiger, Arno 1994: Wie die Budge-Stiftung von den Nazis ausgeraubt wurde. In: Schiebler, Gerhard; Lustiger, Arno (Hrsg.): Jüdische Stiftungen in Frankfurt am Main. Sigmaringen

Mohr, Christoph / Müller, Michel 1984: Funktionalität und Moderne. Das Neue Frankfurt und seine Bauten 1925-1933. Frankfurt am Main

Picard, Tobias 1997: Die Rückkehr des Stifters aus Amerika: das ehemalige Henry und Emma Budge-Altenwohnheim am Edinger Weg/Ecke Hansaallee im stadtgeschichtlichen Kontext. In: Möller, Werner (Konzeption)1997: Die Zukunft des ehemaligen Henry und Emma Budge-Heims. Frankfurt am Main

Risse, Heike 1984: Frühe Moderne in Frankfurt am Main 1920-1933. Architektur der zwanziger Jahre in Frankfurt a. M. Traditionalismus – Expressionismus – Neue Sachlichkeit. Frankfurt am Main

 
Zeitschrift

Das neue Frankfurt. Internationale Monatsschrift für die Probleme kultureller Neugestaltung

 
Internet

Hütte, Volker 2008: Historische Erkenntnisse auf Grundlage der gefundenen Bewohnerliste des ersten Henry und Emma Budge-Heims. http://www.budge-stiftung.de/uploads/Vortrag.doc (26.11.2008)

Hütte, Volker 2012: Vorträge zur Geschichte der Henry und Emma Budge-Stiftung: Johann Nathan und Max L. Cahn – zwei Männer in schwieriger Mission. http://budge-stiftung.de/news.php?category=3&id=1027 (26.4.2013)

 
Mündliche Auskunft

Picard, Tobias 2012: mündliche Auskunft durch Herrn Tobias Picard vom Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main

Frankfurter jüdische Altenpflege und Altenhilfe – ein historischer Überblick

…wo alte, im Kampf des Lebens zu kurz gekommene Personen in Frieden hinscheiden dürfen.”

(Elkan Nathan Adler, 1895)

Dokument: Titelblatt der Statuten des Rothschild'schen Altersheims / Titelblatt Statuten.
Titelblatt der Statuten des Rothschild’schen Altersheims / Titelblatt Statuten.
© Universitätsbibliothek Frankfurt am Main

Ohne die Zerstörungen der NS-Zeit könnte Frankfurt am Main heute auf eine fast 170-jährige ungebrochene Tradition institutionalisierter jüdischer Altenpflege und Altenhilfe zurückblicken. Der wachsende Bedarf an außerhäuslicher Versorgung und Pflege auch in den beiden Frankfurter jüdischen Gemeinden ließ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch großzügige Stiftungstätigkeit die Versorgungsanstalt für Israeliten und das Gumpertz’sche Siechenhaus entstehen. Darauf folgten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts das Freiherrlich Wilhelm und Freifrau Mathilde von Rothschild’sche Altersheim für Israelitische Frauen und Jungfrauen besserer Stände, das Israelitische Lehrerinnen und Studentinnen-Heim e.V., das Altersheim des Krankenhauses der Israelitischen Krankenkassen sowie mit dem Altersheim des Frankfurter Verbands für Altersfürsorge (vormals Rödelheimer jüdisches Krankenhaus und Pflegeheim) und dem Henry und Emma Budge-Heim für alleinstehende alte Menschen zwei jüdisch-christliche Einrichtungen. In der NS-Zeit wurden die Heime zwangsaufgelöst, ‚arisiert‘ und als Sammellager (Ghettohäuser, ‚Judenhäuser‘) vor den Deportationen missbraucht. Doch konnten nach der Schoah – anders als bei der Krankenpflege – zwei wieder begründete Institutionen an die Tradition der Frankfurter jüdischen Altenpflege und Altenhilfe anknüpfen: das Altenzentrum der Jüdischen Gemeinde (auf dem Gelände des ehemaligen Frankfurter jüdischen Krankenhauses Gagernstraße) und die jüdisch-christliche Senioren-Wohnanlage und Pflegeheim der Henry und Emma Budge-Stiftung.

Altersheime, Pflegeheime und Stiftungen
Das erste Seniorenheim, die Versorgungsanstalt für Israeliten der Frankfurter jüdischen Gemeinde, wurde 1845 im damaligen Wollgraben 8, nahe der früheren „Judengasse“, eröffnet (Kirchheim 1911; Arnsberg 1983, Bd. 2, S. 87; Schiebler 1988, S. 129f.). Anfangs bot es bedürftigen jüdischen Frankfurterinnen und Frankfurtern ab 60 Jahren, „deren Erwerbsunfähigkeit auf Altersschwäche beruhte“, aber auch „durch Krankheit oder Gebrechen“ (zit. n. Schiebler 1988, S. 129) frühzeitig aus dem Erwerbsleben Geschiedenen ab 40 Jahren eine Heimstatt. Das Heim war nicht für die Kranken- und Liegendpflege ausgestattet: Die Antragsteller/innen mussten (bis zur Einführung der gesetzlichen Invaliditäts- und Altersversicherung 1889) entweder in der Israelitischen Frauen- und Männerkrankenkasse versichert sein oder eine Pflegemöglichkeit außerhalb der Versorgungsanstalt nachweisen für den Fall, dass sie erkrankten und/ oder bettlägerig wurden. Die in den Statuten zudem vorgesehene geschlechterparitätische Belegung konnte nicht immer eingehalten werden, da es mehr weibliche als männliche Anfragen gab. 1847 beherbergte die Israelitische Versorgungsanstalt sechs, nach ihrem Umzug im Dezember 1852 in den benachbarten Wollgraben 6 schon elf „Pfleglinge“ (zit. n. ebd., S. 130). 1889 wechselte sie in ihr neues Domizil im Röderbergweg 77 mit 47 Plätzen. Um 1925 betrug die Zahl der belegten Betten 24 (Frauen) bzw. 15 (Männer) (Segall/ Weinreich 1925, S. 3). Am 23. Oktober 1939 gliederten die nationalsozialistischen Behörden die traditionsreiche Institution in die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ ein. Letzte Leiterin war Rosa Schuster, unterstützt von ihren Töchtern Bertha Schuster (Betty Kale) und Margot Schuster. Im Mai 1941 (Kingreen 1999b, S. 147) räumten die NS-Behörden das Altersheim und stellten es der Wehrmacht zur Verfügung. Die Bewohner/innen wurden in das seit dem 1. November 1942 von den NS-Behörden als „Gemeinschaftsunterkunft für Juden“ ausgewiesene Sammellager im Hermesweg 5-7 verlegt, wo sich später auch die letzte Frankfurter jüdische Krankenstation befand. Im August 1942 wurden die gebrechlichen und teils hochbetagten Menschen in das Altersghetto und Durchgangslager Theresienstadt deportiert (Kingreen 1999b, S. 384f.), einen Monat später auch Rosa Schuster und ihre beiden Töchter. Nur Bertha Schuster überlebte die Schoah.

Für pflegebedürftige arme Glaubensgenossinnen und -genossen schuf Betty Gumpertz 1888 das Gumpertz’sche Siechenhaus (Hauptstandort: Röderbergweg 62-64). Unter einem Dach vereinte es Kranken-, Schwerbehinderten-, Alten- und Armenpflege sowie Hospizarbeit für Sterbende. Die Pflege leitete von etwa 1894 bis zu ihrer Heirat 1907 Oberin Thekla Mandel, gefolgt von Oberin Rahel (Spiero) Seckbach, die ihre Ausbildung beide im Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main e.V. erhielten. Als Vorsitzende (Präsidenten) des Siechenhauses amtierten u.a. Ferdinand Gamburg, Charles L. Hallgarten und Julius Goldschmidt. Für das Heim engagierten sich sich außer Betty Gumpertz weitere Stifter/innen wie Träutchen Höchberg, Raphael Ettlinger sowie Minna Caroline (Minka) von Goldschmidt-Rothschild. Nach deren Tod (1903) wurde die Minka von Goldschmidt-Rothschild-Stiftung errichtet und der Gumpertz’schen Stiftung angegliedert – weshalb das Kranken- und Pflegeheim auch als „Rothschild’sches Siechenhaus“ bekannt war. Um die Stiftung kümmerten sich Minkas Witwer Maximilian Benedikt von Goldschmidt-Rothschild, die gemeinsame Tochter Lili Schey von Koromla und weitere Angehörige. Zu den im Siechenhaus Betreuten gehörten auch im hessisch-jüdischen Gemeindeleben bekannte Persönlichkeiten wie Gerson Mannheimer und Salomon Goldschmidt. Das segensreiche Wirken des Gumpertz’schen Siechenhauses endete 1938/39 mit den ‚Arisierungs-‚Maßnahmen der NS-Machthaber, zuletzt (bis 1941) befand es sich am Danziger Platz 15. 1944 zerstörten alliierte Luftangriffe die vormalige Gumpertz´sche Liegenschaft im Röderbergweg. Seit 1956 befindet sich auf dem einstigen Grundstück des jüdischen Siechenhauses mit dem August-Stunz-Zentrum eine Altenpflegeeinrichtung der Arbeiterwohlfahrt (heute Röderbergweg 82).

Für gebrechliche, ältere und besonders bedürftige israelitische Männer mit „streng religiösem Lebenswandel nach Maßgaben des traditionellen Judentums“ (Schiebler, 124, siehe auch Andernacht/ Sterling 1963, S. 144) sorgte im Rahmen der Altenhilfe die kleinere Sussmann-Una-Stiftung. Sie entstand am 18. Oktober 1901 dank einer testamentarischen Verfügung des am 23. Juni 1899 verstorbenen Privatiers Sussmann Una. Am 27. November 1939 zwangen die NS-Behörden auch diese Stiftung in die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“. Nicht anders erging es der ebenfalls „Israeliten in Alter und Krankheit“ unterstützenden „Michael und Adelaide Rothschild geb. Honig und deren Kinder Josef und Emily-Stiftung“, über die bislang wenig bekannt ist (hierzu Arnsberg Bd. 2, S. 97, Schiebler 1994, S. 120). Beide Stiftungen unterhielten offenbar keine eigenen Heime, so dass sie wohl vor allem Alltagshilfe, Medikamentenversorgung und Aufsuchende Pflege ermöglichten.

Zum Andenken an ihren 1901 verstorbenen Ehemann Wilhelm Carl von Rothschild errichtete Hannah Mathilde von Rothschild am 27. März 1903 eine Stiftung mit dem Ziel, „alleinstehenden hilfsbedürftigen israelitischen“ Frauen ab dem 50. Lebensjahr mit „Unterstützungswohnsitz in Frankfurt a. M. oder in einem Umkreise von 100 Kilometer Luftlinie […] ein gesichertes Heim zu gewähren“ (Statut Rothschild’sches Altersheim 1907, S. 3). Noch im gleichen Jahr wurde das „Freiherrlich Wilhelm u. Freifrau Mathilde von Rothschild`sche Altersheim für Israelitische Frauen und Jungfrauen besserer Stände“, „Rothschild’sches Altersheim“ genannt, im alten Rothschild’schen Palais, Zeil 92, mit 25 Plätzen eröffnet; zum Stiftungsvermögen gehörte zudem das Haus Liebigstraße 24 (Arnsberg 1983 Bd. 2, S. 86f.; Schiebler 1994, S. 119f.). Als Ehrenpräsidentin des Vorstands beteiligte sich Hannah Mathilde von Rothschild aktiv an der Leitung des Hauses und nutzte dort eigene Räumlichkeiten. Vom Konzept her entsprach das Seniorinnenheim, dessen Bewohnerinnen der gehobenen Bildungsschicht entstammen und einen den damaligen Gepflogenheiten entsprechenden tadellosen Lebenswandel führen sollten, dem christlichen Damenstift: Heiratete eine Bewohnerin, schied sie aus dem Heim aus. Seniorinnen, die dauerhaft pflegebedürftig wurden, kamen in hierfür ausgestattete Institutionen wie das Gumpertz’sche Siechenhaus. Nach dem Tod ihrer Mutter Hannah Mathilde und der ebenfalls engagierten Schwester Minka von Goldschmidt-Rothschild unterstützte Adelheid de Rothschild von Paris aus weiterhin großzügig das Heim. Mit der Geschichte der Institution ebenfalls eng verbunden ist die Biographie Jenny Hahns, seit 1917 Angestellte und von 1930 bis um 1940 Verwalterin des Rothschild’schen Altersheims. Am 27. September 1940 gliederten die NS-Behörden die Stiftung in die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ ein. Etwa ein Jahr später folgte die Zwangsräumung des Heims; die Bewohnerinnen wurden in verschiedene Altersheime (NS-Sammellager) und die Altenpflege-Abteilung des Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde in der Gagernstraße verlegt (vgl. Andernacht/Sterling 1963, S. 471). Die alten Menschen wurden deportiert und ermordet, ebenso die Verwalterin Jenny Hahn. Ein Wohnprojekt für alleinstehende ältere Mieterinnen aller Konfessionen initiierte 1902 Minka von Goldschmidt-Rothschild: 1911 wurde das „Damenheim“ der Freiherrlich Wilhelm Carl von Rothschild’schen Stiftung für wohltätige und gemeinnützige Zwecke in der Hügelstraße 142-146 eröffnet; das Rothschild´sche Seniorinnenheim besteht bis heute.

Ein kleineres jüdisches Altersheim für Frauen, das „Israelitische Lehrerinnen und Studentinnen-Heim e.V.“, stifteten 1908 Clara und Isaac Bermann in der Rückertstraße 53 mit 8 Plätzen (Segall/Weinrich 1925, S. 4f; Schiebler 1994, S. 202; siehe auch Kirchheim 1911, S. 21; Arnsberg 1983 Bd. 2, S. 110). Das Heim, in dem zeitweise auch Studentinnen wohnten, beherbergte „Lehrerinnen, Erzieherinnen, Kindergärtnerinnen, Haus- und sonstige Beamtinnen sowie andere weibliche Angestellte höherer Bildung“, die ihren Beruf durch Alter oder Gebrechen nicht mehr ausüben konnten. Neben einer mindestens zehnjährigen Erwerbstätigkeit sollten sie in der Regel das 45. Lebensjahr überschritten haben. Die Gründung eines jüdischen Lehrerinnenheims erfolgte wohl auch im Zuge des 1880 im Wilhelminischen Kaiserreich eingeführten ‚Lehrerinnenzölibats‘: Bei Eheschließung mussten Lehrerinnen und Beamtinnen aus dem Berufsleben ausscheiden, weshalb viele unverheiratet und ohne Nachkommen blieben, was Christinnen wie Jüdinnen gleichermaßen betraf. Jedoch: „Und wir jüdischen Frauen haben noch mit der besonderen Schwierigkeit zu kämpfen, die man überall der Jüdin entgegensetzt“ (Löffler 1932, S. 40; siehe auch Bericht 1911). Am 20. Mai 1932 gedachte das Heim seiner am 14. April 1932 mit fast 79 Jahren verstorbenen Mitbegründerin und „ersten und ältesten Vorstandsdame“ Ida Dann (zit. nach Gedenkfeier 1932, Familienname im Artikel irrtümlich „Damm“). Im Februar 1933 feierten dort zwei langjährige Bewohnerinnen, Ida Bernstein und Rosalie Heinemann, ihren 75. bzw. 85. Geburtstag. Für den Herbst 1933 war eine Jubiläumsfeier zum 25-jährigen Bestehen des Heims geplant (P.R. 1933). Seit dem 1. Juni 1942 führten die NS-Behörden das Israelitische Lehrerinnenheim als ‚Jüdisches Altersheim‘ Rückertstraße (siehe unten).

Das 1874 in Rödelheim eröffnete und 1910 infolge der Eingemeindung Rödelheims nach Frankfurt am Main dem städtischen Krankenhaus zugeordnete Jüdische Krankenhaus der Joseph und Hannchen May´schen Stiftung, Alexanderstraße 96, wurde 1922 umgewandelt in Altersheim des Frankfurter Verbands für Altersfürsorge. Die Institution blieb interkonfessionell: Dort verlebten jüdische und christliche Seniorinnen und Senioren gemeinsam ihren Lebensabend – bis zur nationalsozialistischen Zäsur 1933. Offenbar bestand im Hause noch bis Juli 1937 ein jüdischer Betsaal. Heute befindet sich am Standort Alexanderstraße 94-96 mit dem Sozial- und Rehazentrum West weiterhin ein (nichtjüdisches) Alten- und Pflegeheim, in dem eine kleine Ausstellung an dessen jüdische Geschichte erinnert.

Ebenso wie das Jüdische Krankenhaus der Joseph und Hannchen May’schen Stiftung in Rödelheim wurde auch das Krankenhaus der Israelitischen Krankenkassen, Röderbergweg 18-20, seit Beginn der 1920er Jahre zunehmend als Altersheim genutzt; die Bettenzahl betrug 18 (Frauenkrankenkasse) bzw. 15 (Männerkrankenkasse) (Segall/Weinreich 1925, S. 4f.). Die mindestens zwei Jahrhunderte umfassende, in der Ghettozeit wurzelnde Geschichte der wohl ältesten Frankfurter jüdischen Pflegeinstitution endete als NS-Sammelager vor den Deportationen; alliierte Luftangriffe zerstörten die ‚arisierten‘ Gebäude.

Die Senioren-Wohnanlage und Pflegeheim der Henry und Emma Budge-Stiftung, seit 1967 im Frankfurter Stadtteil Seckbach, Wilhelmshöher Straße, ansässig, hat sich dem jüdisch-christlichen Zusammenleben nach der Schoah verpflichtet. Damit setzt sie die Tradition ihrer 1930 im Edingerweg eröffneten Vorläuferin, dem von Emma Budge und Henry Budge bereits 1920 gestifteten Henry und Emma Budge-Heim für alleinstehende alte Menschen fort, die satzungsgemäß eine je zur Hälfte jüdische und christliche Belegung vorsah. 1938 verfügte der nationalsozialistische Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt die rassistische Trennung der Bewohner/innen in eine jüdische und eine ‚arische‘ Abteilung. Zu dieser Zeit wohnten noch 60 jüdische Menschen im Heim, die aber bis zum 31. März 1939 das Budge-Heim verlassen mussten. Das Budge-Heim hieß nun „Heim am Dornbusch“; nichts sollte mehr an das jüdische Stifterehepaar erinnern. 1942 wurden ehemalige jüdische Bewohnerinnen und Bewohner des Budge-Heims in die Vernichtung deportiert; die christlichen wurden wegen der Luftangriffe in anderen Häusern im Frankfurter Stadtgebiet verlegt, dann nach Bad Salzhausen evakuiert und schließlich im Schloss Wächtersbach untergebracht. Nach der Kapitulation beschlagnahmten die amerikanischen Militärbehörden das schwer beschädigte Gebäude im Edingerweg, das sie seit der Wiederbelebung der Henry und Emma Budge-Stiftung 1956 als Mieter weiterhin nutzten.

Über die in der Stadt unterhaltenen Einrichtungen hinaus gab es Institutionen der jüdischen Seniorenpflege in Kurgebieten, die von Frankfurt am Main aus initiiert und verwaltet wurden, etwa das 1930 im Bade- und Kurort Bad Ems (Rheinland-Pfalz) eröffnete Erholungs- und Altersheim für jüdische Lehrer, Kantoren und Gelehrte. Es bestand bis 1939.

NS-Zeit: vom Altersheim zum Ghettohaus
Ein besonders deprimierendes und beschämendes Kapitel betrifft die Einrichtung jüdischer ‚Altersheime‘ als Sammellager im nationalsozialistischen Frankfurt. Der Bedarf an jüdischen Alters- und Pflegeheimplätzen stieg u.a. durch Zuzug aus dem hessischen Umland und die Vertreibung jüngerer antisemitisch Verfolgter, die ihre gebrechlichen Angehörigen – auch wegen Einreisebeschränkungen der Aufnahmeländer – zurücklassen mussten. Neben der verstärkten Inanspruchnahme bestehender Institutionen wie der Versorgungsanstalt für Israeliten und des Krankenhauses der Israelitischen Krankenkassen wurden auch Altersheime als Ghettohäuser (‚Judenhäuser‘) belegt. Wegen der hohen Fluktuation wurden die Heime zuletzt häufig von fachfremdem Personal geleitet. Folgende NS-Sammellager für alte Menschen sind bisher bekannt (Andernacht/ Sterling 1963, S. 481, S. 507-533):
– die als „Gemeinschaftsunterkunft“ Hermesweg 5/7 ausgewiesene letzte jüdische Kranken- und Pflegestation;
‚Jüdisches Altersheim‘ Feuerbachstraße 14, zuletzt geleitet von Erna Blum. Zum Pflegepersonal gehörte Nora Gottfeld, die in der NS-Zeit ihren Beruf als Porzellanmalerin aufgeben musste und danach im Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde, im Altersheim Feuerbachstraße und zuletzt im Altersheim Niedenau als Kranken- und Altenpflegerin arbeitete. In die Feuerbachstraße wurden auch Bewohner/innen der Versorgungsanstalt für Israeliten verlegt, so der verwitwete Kaufmann Salomon Hirschberger.
‚Jüdisches Altersheim‘ Hans-Handwerk-Straße 30, geleitet von der früheren Verkäuferin Jenny Dahlberg. In dieses Sammellager wiesen die NS-Behörden vor allem Betreute der Jüdischen Wohlfahrtspflege wie Johanna (Hannchen) Löwenberg ein.
‚Jüdisches Altersheim‘ Niedenau 25, geleitet von Dora Kaufherr. Für die Bewohner/innen sei hier stellvertretend Rosa Natt-Fuchs genannt.
‚Jüdisches Altersheim‘ Rechneigrabenstraße (Krankenhaus der Israelitischen Krankenkassen), Rechneigrabenstraße 18-20 (Leitung bislang unbekannt);
‚Jüdisches Altersheim‘ Reuterweg 91, geleitet von Rosa (Rosel) Möser, die die Schoah überlebte;
‚Jüdisches Altersheim‘ Rückertstraße 49 (Leitung bislang unbekannt);
‚Jüdisches Altersheim‘ Sandweg 7 (Leitung bislang unbekannt);
‚Jüdisches Altersheim‘ Wöhlerstraße 6, 8, 13 (Leiterinnen: Cilly Bachrach, Martha Katzenstein), wohin die NS-Behörden zwangsweise aus ländlichen Gebieten nach Frankfurt zugezogene ältere Menschen einwiesen.

Zur letzten Frankfurter jüdischen Institution nicht nur der Krankenpflege, sondern auch der Altenpflege wurde das Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde, Gagernstraße 36: „Die zur Verfügung stehende Bettenzahl ließ sich […] von 324 um 49 auf 373 erhöhen. Ende September 1941 war das Krankenhaus belegt mit 120 Patienten, mit 128 Alten und Siechen, zusammen 248“ (Gestapo-Beauftragter Holland, zit. n. Andernacht/ Sterling 1963, S. 471). Der Betsaal wurde zum Schlafsaal, die koscher geführte Küche zur Notstandsküche, die Wäscherei des Klinikbetriebs versorgte die noch verbliebenen ‚jüdischen Altersheime‘ mit. Dass das Krankenhaus Gagernstraße vor den Deportationen für einige Monate zum letzten Refugium für jüdische Gebrechliche und Pflegebedürftige in Frankfurt wurde, war nicht zuletzt das Verdienst engagierter Krankenschwestern wie Thea Höchster. 1942 waren nach Hilde Steppes Angaben „fast 400 Menschen im Krankenhaus als Patienten untergebracht, dazu über 100 Angestellte und 37 Lehrschwestern“ (Steppe 1997: 246). Sie wurden während und nach der im September 1942 durchgeführten NS-Zwangsräumung in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert (siehe Kingreen 1999b sowie Karpf 2004). Die bereits eingeleitete ‚Arisierung‘ des letzten jüdischen Krankenhauses in Frankfurt am Main durchkreuzten 1943 alliierte Luftangriffe, die das Klinikgebäude stark beschädigten.

Nach 1945: Bruch, Kontinuität, Neuanfang
Nach dem Ende des Nationalsozialismus scheiterten Versuche, das Frankfurter jüdische Krankenhaus am Standort Gagernstraße in geringerem Umfang wieder zu errichten. Doch wurde im noch erhaltenen Rundbau 1946 ein Alters- und Siechenheim eingerichtet, dessen erste Leiterinnen, Rosa (Rosel) Möser und Else Herlitz, dort unter zunächst recht eingeschränkten Bedingungen betagte und pflegebedürftige Schoah-Überlebende versorgten. Seit 1952 erwuchs aus diesen widrigen Anfängen auf dem Areal Gagernstraße/ Bornheimer Landwehr des früheren Krankenhauses und Schwesternhauses das heutige Altenzentrum (Senioren- und Pflegeheim mit Ateret-Zwi-Synagoge) der Jüdischen Gemeinde. Nach umfassenden Baumaßnahmen birgt heute ein modernes Gebäudeensemble mit Parkanlage eine der größten jüdischen Senioreneinrichtungen Europas. Die Bewohner/innen kommen aus vielen Nationen, ein Teil ist nichtjüdisch. Wegweisend sind der Umgang mit (extrem-)traumatisierten alten Menschen und das interkulturelle Pflegekonzept. Als zweite zentrale Frankfurter Institution jüdischer Altenhilfe und Altenpflege nach der Schoah wurde 1967 die jüdisch-christliche Senioren-Wohnanlage und Pflegeheim der Henry und Emma Budge-Stiftung, Wilhelmshöher Straße, wieder eröffnet. Mit ihrer im November 2011 eingeweihten Gedenkstätte, unter deren 23 Namen sich auch der von Emma Israel befindet, schuf sie ein Erinnerungsdenkmal für die ermordeten Bewohnerinnen und Bewohner des ‚alten‘ Budge-Heims.
Die Forschung zu Persönlichkeiten, Institutionen und Anliegen der Frankfurter jüdischen Altenpflege und Altenhilfe gilt es fortzusetzen. Die Autorin dankt Monica Kingreen † (Jüdisches Museum und Fritz Bauer Institut, Frankfurt/M.) für wertvolle Informationen und Anregungen.

Birgit Seemann, 2012, aktualisiert 2017

Ausgewählte Literatur


Andernacht, Dietrich/ Sterling, Eleonore (Bearb.) 1963: Dokumente zur Geschichte der Frankfurter Juden 1933-1945. Hg.: Kommission zur Erforschung der Geschichte der Frankfurter Juden. Frankfurt/M.

Arnsberg, Paul 1983: Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution. Darmstadt, 3 Bände

Bergmann, Michel 2010: Die Teilacher. Roman. Zürich, Hamburg

Bergmann, Michel 2011: Machloikes. Roman. Zürich, Hamburg

Bericht 1911: o.Verf., Frankfurt a. M. [Bericht zur Anstellung jüdischer Lehrkräfte]. In: Im deutschen Reich 17 (1911) 2, S. 96-97, Online-Ausg.: www.compactmemory.de

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Karpf, Ernst 2004: Judendeportationen von August 1942 bis März 1945, http://www.ffmhist.de/

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Seide, Adam 1987: Rebecca oder ein Haus für Jungfrauen jüdischen Glaubens besserer Stände in Frankfurt am Main. Roman. Frankfurt/M.

Statut Rothschild´sches Altersheim 1907: Statut der Stiftung: Freiherrlich Wilhelm u. Freifrau Mathilde von Rothschild’sches Altersheim für Israelitische Frauen und Jungfrauen besserer Stände [um 1907]. Online-Ausg. Frankfurt/M.: Univ.-Bibl., 2011, http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/judaicaffm/urn/urn:nbn:de:hebis:30:1-307739

Steppe, Hilde 1997: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre …“. Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt/M.

Tauber, Alon 2008: Zwischen Kontinuität und Neuanfang. Die Entstehung der jüdischen Nachkriegsgemeinde in Frankfurt am Main 1945-1949. Wiesbaden

Internetquellen in Auswahl (Aufruf aller Links im Beitrag am 24.10.2017)


Budge-Heim: Henry und Emma Budge-Stiftung (Seniorenanlage und Pflegeheim): https://www.budge-stiftung.de/

ISG Ffm: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main (mit Datenbank): www.stadtgeschichte-ffm.de sowie http://www.ffmhist.de/

JAZ Ffm: Jüdisches Altenzentrum Frankfurt am Main mit Seniorenheim: http://www.altenzentrum.jg-ffm.de/

JM Ffm: Jüdisches Museum und Museum Judengasse Frankfurt am Main (mit der internen biographischen Datenbank der Gedenkstätte Neuer Börneplatz): www.juedischesmuseum.de

Stolpersteine Ffm: Initiative „Stolpersteine“ Frankfurt am Main: www.stolpersteine-frankfurt.de

www.vor-dem-holocaust.de

ZWST: Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland: http://www.zwst.org/de/home/

Das Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung (1870–1941) Teil 4: biographische Wegweiser

Denn der Mensch ist keine Maschine,
es gibt auch kein Schema in der Medizin;
da jeder Mensch ein Individuum für sich ist,
so trägt er auch seine Bestimmung und sein Geschick für sich
.“

Dr. Willy Hofmann, Chirurg, zur Einweihung des Hospital-Umbaus (Hofmann 1932, S. 13)

[…] diese Anstalt ist mehr als ein gewöhnliches Krankenhaus,
hier sind die Patienten keine Nummern,
hier sind sie Hausgenossen bzw. Glieder einer grossen Familie
.“

Verwaltungskommission des Rothschild’schen Hospitals, Jahresbericht 1900(1901), S. 4

Einführung
Auch Teil 4 der Artikelserie über das Frankfurter Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung im Röderbergweg markiert wissenschaftliches Neuland: Während Teil 1, Teil 2 und Teil 3 erstmals die Geschichte des Rothschild’schen Hospitals nachzeichnen, folgt dieser Beitrag den biographischen Spuren seiner Krankenschwestern und Pfleger und ihrer ärztlichen Vorgesetzten. Den Patientenkreis, um den sie sich kümmerten, hatte das Stifterpaar Mathilde und Wilhelm von Rothschild in den Gründungsstatuten ausdrücklich festgelegt: bedürftige Glaubensgenossen beiderlei Geschlechts, „welchen ein Anspruch auf unentgeldliche Aufnahme in eine der anderen hiesigen jüdischen Heilanstalten laut deren Statuten nicht zusteht“ (RothHospStatut 1878: 5). Es war ihr erklärter „Wille, dass diese Anstalt für ewige Zeiten streng nach den religiösen Vorschriften des orthodoxen Judenthums gehandhabt werden soll“ (ebd.: 7). Hierzu gehören – neben der Einhaltung des Schabbat (‚Ruhetag‘ am Samstag), der jüdischen Feiertage und der rituellen Speisevorschriften (Kaschrut) – die Mitzwot (jüdisch-religiöse Pflichten) der medizinischen Betreuung (vgl. Hofmann 1932) und der Krankenpflege (hebr.: Bikkur Cholim).

Das Rothschild’sche Hospital zählte zum Krankenhausnetz der neo-orthodoxen Frankfurter Austrittsgemeinde ‚Israelitische Religionsgesellschaft‘ (IRG) (vgl. Teil 1). Zuständig für das Personal war die Verwaltungskommission, die dem aus IRG-Mitgliedern zusammengesetzten Hospital-Vorstand unterstand. Ärzte, Pflegekräfte und weitere Angestellte sollten – hierbei spielte möglicherweise die Abgrenzung der traditionell-jüdischen IRG zur größeren liberalen Israelitischen Gemeinde Frankfurt eine Rolle – die orthodox-jüdische Richtung vertreten. Doch konnte laut Satzung auch christliches Personal eingestellt werden, das der Rabbiner der IRG – Dr. Samson Raphael Hirsch und seine Nachfolger Dr. Salomon Breuer und Josef Jona Zwi Horovitz – in die religionsgesetzlichen Vorschriften einwies; es wurde vor allem am Schabbat und an den jüdischen Feiertagen tätig. Alle Rothschild’schen Angestellten hatten die humane und gewissenhafte Behandlung der Erkrankten zur Auflage – sogar „bei Androhung des Verlustes der Anstellung“ (RothHospStatut 1878: 22). Denn „diese Anstalt ist mehr als ein gewöhnliches Krankenhaus, hier sind die Patienten keine Nummern, hier sind sie Hausgenossen bzw. Glieder einer grossen Familie. […] Die hier geübte Wohlthätigkeit erstreckt sich häufig noch über den Aufenthalt im Hospital hinaus, indem Patienten, die es benöthigen, neu gekleidet und mit Reisegeld versehen werden“ (Jahres-Bericht der Verwaltungs-Commission der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung. Frankfurt a.M. 1900(1901), S. 4).

Die Ärzte

Dr. Marcus Hirsch, Portrait, undatiert (um 1873)
Dr. Marcus Hirsch, Portrait, undatiert (um 1873)
Nachweis: [Nachruf:] Dr. med. Markus Hirsch [sel. A.] – Frankfurt a.M. In: Der Israelit. Ein Centralorgan für das orthodoxe Judenthum 34 (06.11.1893) 88, Beilage, S. 1675

Weder die Biographien der Krankenschwestern und Pfleger des Rothschild’schen Hospitals noch die ihrer ärztlichen Vorgesetzten wurden bislang erforscht. Die folgenden Hinweise sollen zur Spurensuche und Erinnerungsarbeit anregen.

Dr. Marcus Hirsch: Gründungsarzt – Leiter einer Kurklinik – Mitbegründer des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins
Die Anfänge des Rothschild’schen Hospitals im Unterweg 20 (heute Schleidenstraße 20) seit 1870 und seine Expansion im neuen großen Klinikgebäude Röderbergweg 97 seit 1878 sind mit dem Namen seines Gründungs- und ersten Chefarztes Dr. Marcus Hirsch verbunden. Zuvor hatte der praktische Arzt in Würzburg promoviert und berufliche Erfahrungen an Frauenkliniken in Prag und vermutlich auch Bozen (Südtirol) gesammelt. Geboren wurde Dr. Marcus Hirsch 1838 in Oldenburg (Niedersachsen) als Sohn des 1850 von der Israelitischen Religionsgesellschaft nach Frankfurt am Main berufenen Rabbiners Dr. Salomon Raphael Hirsch – bekannt als Begründer der jüdischen Neo-Orthodoxie in Deutschland – und seiner Frau Johanna geb. Jüdel (vgl. Arnsberg 1983, Bd. 1: 659). Er wuchs mit zahlreichen Geschwistern auf, die erste Medizinprofessorin Preußens, Dr. Rahel Hirsch, war seine Nichte. Verheiratet war er mit Johanna geb. Schwabacher und nach deren Tod mit Clementine geb. Tedesco; seine Enkel Dr. Remy Hirsch und Dr. Therese Friedemann praktizierten als Hautärzte.

Anzeige von Dr. Hirsch's Kurklinik zu Falkenstein im Taunus, 1879
Anzeige von Dr. Hirsch’s Kurklinik zu Falkenstein im Taunus, 1879
Der Israelit, 26.11.1879, http://www.alemannia-judaica.de/falkenstein_synagoge.htm

Die Recherche ergab, dass Dr. Marcus Hirsch seit den 1870er Jahren – zusätzlich zu seiner leitenden Tätigkeit im Rothschild’schen Hospital – im Kurort Falkenstein (heute Stadtteil von Königstein im Taunus) bei Frankfurt mit großem Erfolg eine orthodox-jüdische Kurklinik betrieb: die Dr. Hirsch’s Klimatische Heilanstalt für Brustkranke, Blutarme und Nervenleidende. In dem Periodikum Der Israelit vom 20. Juli 1881 berichtete ein Kurgast: „Erst seit wenigen Jahren hat Herr Dr. med. Hirsch aus Frankfurt am Main hier eine Anstalt gegründet, die […] sich eines großen und in der Tat wohlverdienten Rufes erfreut. Dieselbe […] erfreut sich einer so lebhaften Frequenz, dass in diesem Jahre zwei weitere Häuser zur Unterbringung der Fremden gemietet wurden und der Besitzer genötigt ist, eine weitgehende bauliche Vergrößerung der Anstalt vorzunehmen. Deutsche, Russen, Engländer, Franzosen und Holländer verkehren hier in einer so herzlichen, ungezwungenen Weise, dass man sich in eine große, zusammengehörige Familie versetzt glaubt […]. Auch Nichtjuden zählt der gesellige Kreis. […] Dass sämtliche Speisen und Getränke den rigorosesten Anforderungen des Religionsgesetzes entsprechen, braucht nicht erst erwähnt zu werden. […] Einer der christlichen Gäste hielt mir dieser Tage einen ganzen Lobhymnus über die jüdische Küche, die er hier zum ersten Male kennen lernte. Dabei sind im Vergleich zu anderen Kurorten und der Reichlichkeit alles hier Gebotenen die Preise so außerordentlich billig, dass auch weniger bemittelte Leute in der Lage sind, einige Wochen hier zu leben. […] Es ist jedenfalls nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, dass die hiesige Pensions-Anstalt des Herrn Dr. Hirsch in ihrer Art einzig dasteht […]“ (Anonym. 1881: 730). In den 1880er Jahren wurde Dr. Hirschs Kurklinik in Falkenstein weiter ausgebaut und modernisiert.

Deckblatt: Marcus Hirsch, Kulturdefizit am Ende des 19. Jahrhunderts.
Marcus Hirsch, Kulturdefizit am Ende des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1893, Cover

Derweil ruhte auch in Frankfurt am Main die Arbeit nicht, wo Dr. Marcus Hirsch zusätzlich im ebenfalls orthodox-jüdisch geleiteten Krankenhaus der Israelitischen Krankenkassen behandelte. 1889 bewegte ihn die Armut vieler Glaubensgenossen zur Gründung des Vereins zur Pflege und Unterstützung israelitischer Kranker ‚Bikkur Cholim‘, der bedürftige jüdische Kranke und Genesende nach ärztlicher Anweisung kostenlos mit Lebens-, Stärkungs- und Heilmitteln versorgte. Besondere Verdienste erwarb sich Dr. Marcus Hirsch bezüglich der Professionalisierung der Krankenpflege als jüdischem Frauenberuf: Er war Mitinitiator der ersten jüdischen Schwesternvereinigung des Kaiserreichs, dem Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main. Die Gründung im Oktober 1893 konnte er noch erleben, verstarb aber, keine 55 Jahre alt, in der Nacht vom 1. auf den 2. November 1893. So verlor der Vorstand des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins „bereits im ersten Vereinsjahre […] einen trefflichen Arzt und hochgeschätzten Führer des gesetzestreuen Judentums“ (Jüdischer Schwesternverein Ffm 1920: 32f.). Auf dem Jüdischen Friedhof Rat-Beil-Straße sprach auch Dr. Simon Kirchheim, Vorsitzender des Schwesternvereins und Chefarzt des Königswarter Hospitals der liberalen Israelitischen Gemeinde Frankfurt, am Grab seines orthodox-jüdischen Kollegen. Für wenige Stunden schlug die Beerdigungsfeier für Dr. Marcus Hirsch eine Brücke zwischen den beiden einander entfremdeten Frankfurter jüdischen Gemeinden.
Der Nachwelt hinterließ Dr. Marcus Hirsch das Buch Kulturdefizit am Ende des 19. Jahrhunderts (vgl. Hirsch 1893, siehe auch ders. 1866 sowie 1890) als Vermächtnis, in dem er eindringlich vor dem Antisemitismus warnte – „anerkanntermaßen eines der hervorragendsten, eingehendsten, schlagendsten und populärsten Werke, die zur Abwehr der schmählichen Angriffe auf Juden und Judenthum verfasst worden sind“ (Hirsch [Nachruf] 1893: 1675).

Fotografie: Geheimer Sanitätsrat Dr. med. Elieser Rosenbaum, Chefarzt des Rothschild'schen Hospitals, undatiert (um 1910
Geheimer Sanitätsrat Dr. med. Elieser Rosenbaum, Chefarzt des Rothschild’schen Hospitals, undatiert (um 1910)
© Courtesy of the Leo Baeck Institute: Paul Arnsberg Collection AR 7206

Die Chefärzte Geheimer Sanitätsrat Dr. Elieser Rosenbaum und Dr. Sally Rosenbaum (Vater und Sohn), weitere Ärzte


Dr. Marcus Hirschs Nachfolger als Chefarzt des Rothschild’schen Hospitals – die gleiche Position bekleidete er später auch im benachbarten Mathilde von Rothschild’schen Kinderhospital – wurde Geheimer Sanitätsrat Dr. Elieser Rosenbaum. Der praktische Arzt war langjähriger Vorsitzender der Israelitischen Religionsgesellschaft Frankfurt am Main. Dr. Elieser Rosenbaum wurde 1850 geboren. Die Angaben zu seinem Geburtsort sind widersprüchlich, sehr wahrscheinlich stammt er aus der bayerisch-fränkischen Rabbiner- und Gelehrtenfamilie Rosenbaum. Mit seiner Frau Ida hatte er mehrere Kinder; ein Enkel war Rabbiner Jehuda Leo Ansbacher (vgl. Arnsberg 1983, Bd. 3: 20). Im Januar 1922 verstarb Dr. Elieser Rosenbaum an seiner Wirkungsstätte, dem Rothschild’schen Hospital. Wie Dr. Marcus Hirsch liegt er auf dem Jüdischen Friedhof Rat-Beil-Straße begraben. In die Fußstapfen als Chefarzt der beiden Rothschild’schen Spitäler trat 1922 sein Sohn Dr. Sally Rosenbaum, Jahrgang 1877 und ein gebürtiger Frankfurter. Ende 1939 musste der praktische Arzt und Kinderarzt die Klinikleitung wegen eines Augenleidens aufgeben. Am 20. Oktober 1941 wurde Dr. Sally Rosenbaum zusammen mit seiner Frau Lina, die aus der alteingesessenen Frankfurter jüdischen Familie Schwarzschild stammte, in das Lager Litzmannstadt/Lodz (vgl. Löw 2006) deportiert; das Ehepaar gilt als verschollen.

Die Satzungen des von seinem Selbstverständnis her orthodox-jüdischen Rothschild’schen Hospitals hielt die Möglichkeit einer Einstellung nichtjüdischer und christlicher Ärzte ausdrücklich fest. So waren die Stellvertreter von Dr. Marcus Hirsch und Dr. Elieser Rosenbaum, Dr. Heinrich Schmidt (seit 1878) und sein Nachfolger Dr. (Carl?) Cassian (vermutlich seit 1890) sowie Hofarzt Dr. Heinrich Roth sehr wahrscheinlich nichtjüdisch. Zu den jüdischen Ärzten des Hospitals gehörte der Chirurg und Urologe Dr. Willy Hofmann, ein Schwiegersohn von Abraham Erlanger, dem Begründer und langjährigen Vorsteher der jüdischen Gemeinde zu Luzern (Schweiz). Anlässlich der feierlichen Einweihung des großen Hospital-Umbaus im September 1932 hielt er eine Rede über die Verbindungen von jüdischer Sozialethik und medizinischer Heilung (vgl. Hofmann 1932).

Publikation von Dr. med. Willy Hofmann (Deckblatt); Die Stellung der jüdischen Weltanschauung zu Krankheit, Arzt und Medizin. Rede zur Einweihungsfeier des Hospital-Umbaus der Georgine Sara von Rothschildschen Stiftung zu Frankfurt a. M. am 18. September 1932
Publikation von Dr. med. Willy Hofmann (Deckblatt)
Nachweis: Hofmann, Willy 1932: Die Stellung der jüdischen Weltanschauung zu Krankheit, Arzt und Medizin. Rede zur Einweihungsfeier des Hospital-Umbaus der Georgine Sara von Rothschildschen Stiftung zu Frankfurt a.M. am 17. Elul 5692, 18. Sept. 1932. Frankfurt a.M.

Sein weit über Frankfurts Grenzen hinaus als Spezialist für Blinddarmoperationen gefragter Kollege Dr. Sidney Adolf Lilienfeld praktizierte zugleich auch im evangelischen Bethanien-Krankenhaus (vgl. Nördinger/Bauer 2008). In seiner Geburtsstadt Frankfurt war Dr. Lilienfeld, Bruder (Mitglied) der angesehenen Hermann-Cohen-Loge (B’nai B’rith, Frankfurt a.M.), überdies als Sammler von Francofurtensien und Förderer klassischer Musik bekannt, mitunter spielte er selbst Geige im Orchester der Frankfurter Oper. Als er infolge der rassistischen NS-Repressalien seine langjährige Arbeitsstätte, das Bethanien-Krankenhaus, nicht mehr betreten durfte, übernahm er bis zu seiner erzwungenen Emigration 1939 nach England die Leitung der Chirurgie des Rothschild’schen Hospitals. Ein weiterer renommierter Chirurg, tätig an beiden Rothschild’schen Spitälern sowie im Gumpertz‘ schen Siechenhaus, war Geheimer Sanitätsrat Dr. Oskar Pinner. Der praktische Arzt und Geburtshelfer Dr. Godchaux Schnerb entstammte mit hoher Wahrscheinlichkeit der Rabbiner- und Gelehrtenfamilie Schnerb aus Merzig (Saarland) und war vermutlich ein Sohn des Frankfurter Münzkaufmanns Moses Schnerb, Leiter des Synagogenchors der Israelitischen Religionsgesellschaft zu Frankfurt und 1937 im Rothschild’schen Hospital verstorben. Nicht unerwähnt bleiben sollen auch Dr. Adolf Löwenthal (Urologie) und Dr. Arnold Merzbach (Neurologie).

Der letzte Chefarzt: Dr. Franz Grossmann
Als Nachfolger des 1939 ausgeschiedenen Dr. Sally Rosenbaum beauftragte die Frankfurter jüdische Gemeinde einen Katholiken: den Chirurgen Dr. Franz Stefan Grossmann, der von dem kaufmännischen Leiter des Rothschild’schen Hospitals, Artur Rothschild, unterstützt wurde. Dr. Grossmann, 1904 in Berlin als Jude geboren, war vor seiner Trauung mit einer Christin 1931 zum katholischen Glauben konvertiert, galt aber nach den Nürnberger NS-Rassegesetzen dennoch als „Volljude“. Angeblich deshalb, weil er sich nicht als Mitglied der Frankfurter jüdischen Gemeinde gemeldet hatte, geriet er im Januar 1943 in Gestapohaft. Zu diesem Zeitpunkt waren alle Frankfurter jüdischen Krankenhäuser längst zwangsaufgelöst und ‚arisiert‘. Dr. Franz Grossmann konnte das Vernichtungslager Auschwitz als Häftlingsarzt überleben und war zuletzt im KZ Mauthausen (Österreich) inhaftiert. Nach der Befreiung kehrte er zu seiner in Frankfurt zurückgebliebenen Familie zurück. Trotz gesundheitlicher Schäden setzte der angesehene Chirurg seine Laufbahn fort und wurde in der südhessischen Kurstadt Bad Homburg ärztlicher Direktor des Kreiskrankenhauses Obertaunus. 1953 holten ihn die Spätfolgen der KZ-Haft ein: Dr. Franz Grossmann erlag mit 48 Jahren einem Herzinfarkt. „Am Todestag des Vaters erfuhr sein damals 17 Jahre alter Sohn Franz […], dass sein Vater, den er nur als sehr frommen Katholiken kannte, jüdischer Abstammung war“ (zit. n. Hirschmann 2011: 12). Auf den Namen des letzten Chefarztes des Rothschild’schen Hospitals stieß die Autorin dieses Artikels dank der biographischen Spurensuche des Sohnes Franz Grossmann.

Die Pflegenden

Fotografie: Zilli Heinrich, Krankenschwester, um 1939
Zilli Heinrich, um 1939
© Yad Vashem, Jerusalem (Gedenkblatt)

Als schwierig erweist sich die Spurensuche nach Pflegenden sowie weiterem Personal auch im Hinblick auf das Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung und das Mathilde von Rothschild’sche Kinderhospital; so sind Schwestern und Pfleger in Jahres- und Rechenschaftsberichten nicht namentlich erwähnt. Eher zufällig stieß die Verfasserin dieses Beitrags im orthodox-jüdischen Presseorgan Der Israelit auf den Namen der christlichen Krankenschwester Anna Sang: Fast 35 Jahre lang, von etwa 1896 bis 1931, wirkte sie als Oberschwester des Rothschild’schen Hospitals; sie verstarb ein Jahr nach ihrem krankheitsbedingten Ausscheiden. Einige Personendaten enthalten die im Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main (ISG Ffm) aufbewahrten Hausstandsbücher Bornheimer Landwehr 85 (jüdisches Schwesternhaus) und Gagernstraße 36 (Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde). Zwischen dem Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main und dem Rothschild’schen Hospital können, wie Hilde Steppe 1997 in ihrer Doktorarbeit über die Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland konstatierte, „personelle Verbindungen erst in den 30er Jahren nachgewiesen werden, als 1932 drei Krankenschwestern des Vereins aus dem Schwesternhaus dorthin umziehen und in den folgenden Jahren einzelne Krankenschwestern sowohl von dort wieder in das Schwesternhaus zurückkommen als auch andere dorthin ziehen. Nach der Zwangsschließung […] ziehen sieben Krankenschwestern von dort in das Krankenhaus in der Gagernstraße 36 ein“ (Steppe 1997: 259f.). Die Autorin dieses Beitrags konnte im Institut für Stadtgeschichte zusätzlich das Hausstandsbuch Rhönstraße 47-55 – einem Gebäudekomplex nahe des Röderbergwegs, der sich teilweise im Besitz der Rothschild’schen Stiftung befand, die dort Personalwohnungen bereitstellte – recherchieren, das weitere verschollene Namen und Daten enthält. Dennoch bleibt die Quellenlage dürftig und der nun folgende Überblick über den Pflegepersonalbestand entsprechend lückenhaft. Vor allem fehlen bislang Informationen zu Rothschild’schen Pflegekräften der ersten Ausbildungsgeneration (1860er und 1870er Geburtsjahrgänge).

Jahrgänge 1886–1900

Fotografie: Ottilie Winter, Krankenschwester, o.J. (um 1930)
Ottilie Winter, o.J. (um 1930)
© Yad Vashem, Jerusalem (Gedenkblatt)

Ottilie Winter, genannt „Tille“, wurde 1886 in Kempen (Nordrhein-Westfalen) am Niederrhein geboren. 1915 erhielt sie ihre Ausbildung im Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main. Die erfahrene Krankenschwester pflegte im jüdischen Krankenhaus Gagernstraße und vermutlich auch im Seebad Kolberg (Hinterpommern). Im Amt der Oberin leitete sie die Pflege im Israelitischen Altersheim Sontheim bei Heilbronn, im Rothschild’schen Hospital (Nachfolge der verstorbenen christlichen Oberschwester Anna Sang) und im Israelitischen Kinderheim in der hessischen Kurstadt Bad Nauheim. Ottilie Winter wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert, ihr arbeitsreiches Leben im Dienste der Kranken endete vermutlich 1944 in Auschwitz.

Sara Jameson, 1887 in London geboren, war britische Staatsbürgerin. Am 29. Dezember 1934 meldeten britische Medien, dass Schwester Sara am 24. Dezember nach dem Verlassen eines Frankfurter jüdischen Schuhgeschäfts antisemitisch beleidigt wurde und sofort bei dem zuständigen Generalkonsul Beschwerde einlegte. Der Frankfurter Polizeipräsident musste sich daraufhin offiziell entschuldigen (vgl. findmypast.ie/search, Aufruf v. 02.02.2015). Aufgrund der nationalsozialistischen Verfolgung kehrte Sara Jameson vermutlich nach England zurück.

Erna Sara Heimberg, 1889 in dem Dorf Madfeld (Nordrhein-Westfalen) im Sauerland geboren, wurde 1911 im Verein für jüdische Krankenpflegerinnen ausgebildet. Im Ersten Weltkrieg versorgte sie als OP-Schwester verwundete Soldaten. 1936 kehrte sie aus Mannheim nach Frankfurt in das jüdische Schwesternhaus zurück. Ihre Fluchtversuche in das britisch kontrollierte Mandatsgebiet Palästina scheiterten. Erna Sara Heimberg war vermutlich die letzte Oberin des im Frühjahr 1941 NS-liquidierten Rothschild’schen Hospitals und danach des letzten Frankfurter jüdischen Krankenhauses in der Gagernstraße. Sie wurde am 15. September 1942 mit Ottilie Winter und weiteren Kolleginnen nach Theresienstadt deportiert und 1944 mit hoher Wahrscheinlichkeit in Auschwitz ermordet.

Fotografie: Amalie Stutzmann, Krankenschwester, undatiert (um 1938)
Amalie Stutzmann, undatiert (um 1938)
Nachweis: Markus Abraham Bar Ezer, Die Feuersäule, S. 2

Amalie Stutzmann, 1890 in Keskastel (Elsass, heute Frankreich) geboren und evangelisch getauft, trat 1931 zum Judentum über. Vermutlich hätte sie sich, nach den Nürnberger NS-Rassegesetzen als Nichtjüdin geltend, retten können, ging jedoch am 11. November 1941 gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen den Weg der Deportation. Er führte nach Minsk in Weißrussland, wo sich Amalie Stutzmanns Lebensspuren verlieren. Zu ihrem Gedenken wurde 2010 – in Anwesenheit ihres Sohnes Abraham Bar Ezer (Markus Stutzmann) und seiner Tochter Amalya – ein Stolperstein im Frankfurter Ostend (Sandweg 11) verlegt.

Ruth Kauders, 1894 in München geboren, wurde 1918 im Verein für jüdische Krankenpflegerinnen ausgebildet. Sie befand sich im gleichen Deportationszug wie Ottilie Winter und Erna Sara Heimberg. Schwester Ruth wurde vermutlich in Theresienstadt ermordet (vgl. Gedenkbuch München). Emilia Schäfer, 1898 in Langsdorf bei Gießen (Hessen) geboren, war wie Amalie Stutzmann evangelisch. Weder von ihr noch von Jetti Ettlinger (geb. Diamant), 1900 in Szolnok (Ungarn) geboren, sind weitere biographische Daten bekannt. Ungefähr im gleichen Alter war Ruth (Retha) Kahn; sie ging nach ihrer Ausbildung im Rothschild’schen Hospital nach Nürnberg und wurde 1920 Mitglied des dortigen jüdischen Schwesternvereins.

Jahrgänge 1905 bis 1912

Selma Lorch, um 1930 Nachweis: Keim, Günter 1993: Beiträge zur Geschichte der Juden in Dieburg. [Hg.: Magistrat der Stadt Dieburg]. Dieburg, S. 130 
© Stadtarchiv Dieburg

Käthe Popper wurde 1905 im niedersächsischen Lingen, nahe der niederländischen Grenze, geboren. Sie war die Tochter des Lehrers und Kantors Ignatz Popper, der u.a. Sophie Landsberg (siehe unten) unterrichtete. Schwester Käthe arbeitete seit den späten 1930er Jahren im Rothschild’schen Hospital. 1941 wurde sie mit ihren Eltern und ihrer Schwester Lea nach Kauen (Kowno, Litauen, vgl. Dieckmann 2011) deportiert; die Familie fiel am 25. November 1941 vermutlich den brutalen Massenerschießungen auf der Festung Fort IX zum Opfer.

Auch Selma Lorch, 1906 in Dieburg (Hessen) geboren, pflegte nur für kurze Zeit – als Lernschwester – im Rothschild’schen Hospital. Zuvor war sie als Hausangestellte gemeldet. Nach der Zwangsschließung des Hospitals musste sie in das jüdische Krankenhaus Gagernstraße umziehen und war dort bis zum 29. Juni 1942 gemeldet. Danach wurde sie „evakuiert“, was die Deportation in ein Vernichtungslager im Osten bedeutete. Zuvor hatten die Nationalsozialisten bereits Selma Lorchs Mutter und ihre beiden jüngeren Schwestern von Darmstadt in das Ghetto Piaski verschleppt. Alle vier Frauen gelten als verschollen, ihr Todestag wurde auf den 8. Mai 1945 festgelegt.

Regine Goldsteen wurde 1907 in Bentheim (heute Bad Bentheim, Niedersachsen) nahe der niederländischen Grenze geboren. 1929 zog die junge Frau nach Frankfurt am Main in das jüdische Schwesternhaus. Seit 1935 wohnte und pflegte sie im Rothschild’schen Hospital. Mit ihren Eltern und beiden Schwestern flüchtete sie im November 1939 in die Niederlande, die jedoch nur wenige Monate später nationalsozialistisch besetzt wurde. Regine Goldsteen wurde 1943 im NS-Lager Vught/Herzogenbusch inhaftiert und danach über das Durchgangslager Westerbork in das Vernichtungslager Sobibor (Polen) deportiert. Für die Familie Goldsteen wurden 2006 die ersten Stolpersteine in Bad Bentheim verlegt.

Luise Fleischmann kam 1908 im oberfränkischen Oberlangenstadt (heute Ortsteil von Küps, Bayern) zur Welt. 1931 zog sie nach Frankfurt am Main in das jüdische Schwesternhaus, 1932 als Lehrschwester in das Rothschild’sche Hospital. Luise Fleischmann kehrte Nazideutschland am 15. März 1933 den Rücken und emigrierte nach Paris. Ebenfalls aus Bayern stammte die 1909 in Würzburg (Unterfranken) geborene Rosa (Ruth) Goldschmidt. 1928 zog sie von Hanau (Hessen) nach Frankfurt in das jüdische Schwesternhaus und von dort 1932 in das Rothschild’sche Hospital. 1936 ging sie nach Bad Kissingen (Unterfranken, Bayern).

Bertha Klein (geb. Feldmann), 1910 in Frankfurts Nachbarstadt Offenbach am Main geboren, war eine jüdische Judenretterin (vgl. Bonavita 2009). Auch sie gehörte in den 1930er Jahren zum Pflegepersonal des Rothschild’schen Hospitals. Selbst antisemitisch gefährdet, unterstützten Schwester Bertha und ihr Ehemann, der Mathematiker, Physiker und Lehrer Emil Klein, jüdische NS-Verfolgte auf der Flucht. Emil Klein wurde verhaftet und in Auschwitz ermordet. Bertha Klein und ihre kleinen Söhne Ralph und Alex konnten überleben und wanderten 1950 nach Israel aus.

Fotografie: Selma Lorch mit ihren Eltern Rosa und Gustav Lorch II und ihrer Schwester Ilse im Garten des Elternhauses, 1933
Selma Lorch mit ihren Eltern Rosa und Gustav Lorch II und ihrer Schwester Ilse im Garten des Elternhauses, 1933 Nachweis: Keim, Günter 1993: Beiträge zur Geschichte der Juden in Dieburg. [Hg.: Magistrat der Stadt Dieburg]. Dieburg, S. 130
© Stadtarchiv Dieburg
Selma Lorch, 1940, Kennkarte Nr. 606
Selma Lorch, 1940, Kennkarte Nr. 606
Nachweis: Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland, Sig. B 5.1., Abt. IV, 606

Auf eine weitere Krankenschwester sowie zwei Mitarbeiterinnen des Rothschild’schen Hospitals machte uns Amalie Stutzmanns Enkelin Amalya Shachal aufmerksam: Adele Nafschi (geb. Seligmann), 1911 in Hamburg geboren, zog 1930 von Berlin nach Frankfurt in das jüdische Schwesternhaus. Von 1931 bis 1933 pflegte sie im Rothschild’schen Hospital, wo auch Bella Flörsheim (geb. Posen) sowie in der Küche der Klinik Aranka Kreismann arbeiteten. Alle drei Frauen retteten sich vor der nationalsozialistischen Verfolgung nach Palästina (vgl. Shachal 2010).

Alfred Hahn gehörte zu den wenigen Männern in der Krankenpflege, wobei er diesen Beruf vermutlich deshalb ergriff, um emigrieren zu können. Er wurde 1911 in Gudensberg (Hessen) geboren und kam 1938 von Kassel nach Frankfurt am Main. Vermutlich lernte er seine Ehefrau, die 1911 in Kitzingen (Unterfranken, Bayern) geborene Krankenschwester Berta Hahn (geb. Schuster) – sie kam 1940 aus Fürth nach Frankfurt – im Rothschild’schen Hospital kennen. Nach der NS-Zwangsauflösung der Klinik zogen beide im Mai 1941 in das jüdische Krankenhaus Gagernstraße um. Am 24. September 1942 wurde das Ehepaar Hahn mit anderen Kolleginnen und Kollegen über Berlin nach Raasiku bei Reval (Estland) deportiert. Die 33jährige Berta Hahn wurde am 19. Januar 1945 im KZ Stutthof bei Danzig (Polen) ermordet, wohin vermutlich auch Alfred Hahn, der als verschollen gilt, verschleppt wurde. Ebenfalls in Stutthof ermordet wurde Juliane Wolff, zuletzt Stationsschwester im Rothschild’schen Hospital. Der 1912 in Bocholt (Nordrhein-Westfalen) geborenen Tochter der ersten jüdischen Bundestagsabgeordneten Jeanette Wolff ist ein eigener Artikel (Teil 5) gewidmet.

Jahrgänge 1915-1922

Fotografie: Regina Herz, o.J. (um 1940)
Regina Herz, o.J. (um 1940)
Gedenkstätte Yad Vashem, Jerusalem (Gedenkblatt)

Dass das Rothschild’sche Hospital während der NS-Zeit antisemitisch Verfolgten Unterschlupf bot, zeigt das Beispiel von Regina Herz (geb. 1915 in Bengel an der Mosel, Rheinland-Pfalz): Nach der Verwüstung ihrer Offenbacher Wohnung während des Novemberpogroms 1938 war sie gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Johanna in das benachbarte Frankfurt geflüchtet. Sie war vermutlich nicht die einzige, die sich im Rothschild’schen Hospital ‚illegal‘ aufhielt. Dort beteiligte sie sich an der Versorgung der Kranken, war doch die Klinik angesichts des NS-bedingten fluktuierenden Personalbestands froh über jede tüchtige Pflegekraft, auch wenn Regina Herz vermutlich keine ausgebildete Krankenschwester war.
Hingegen lernte Johanna Herz, 1921 in Bengel geboren, Krankenschwester im Frankfurter jüdischen Schwesternhaus; sie pflegte im Krankenhaus Gagernstraße. Um 1941 verschlug es die Schwestern Herz nach Berlin, wo beide Zwangsarbeit leisten mussten. Während sich ihre Mutter noch rechtzeitig nach Argentinien retten konnte, wurden Regina und Johanna Herz im März 1943 mit zwei unterschiedlichen Transporten in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Das Datum der Ermordung der beiden jungen Frauen wurde auf den 31. Dezember 1945 festgesetzt.

Jonas Neuberger wurde 1916 in Berlin geboren, wo sein Vater Menachem Max Neuberger als Gemeindesekretär der dortigen orthodox-jüdischen Israelitischen Synagogen-Gemeinde (Adass Jisroel) tätig war. Nach Abschluss seiner kaufmännischen Lehre in einem Berliner Metallbetrieb wurde er dort als Angestellter übernommen, verlor aber 1936 aufgrund der NS-Verfolgung seinen Arbeitsplatz. Jonas Neuberger strebte die Hachschara, die Vorbereitung auf eine Rückkehr aus der Galut (deutsch: Verbannung; jüdische Diaspora) in das Gelobte Land der Väter (Israel) an. Um seine Chancen auf eine Emigration aus Nazideutschland zu verbessern, ließ er sich von 1936 bis um 1939 im Berliner orthodox-jüdischen Israelitischen Krankenheim (Adass Jisroel), Elsässer Straße 85, zum Krankenpfleger ausbilden. Nach erfolgreicher Diplomprüfung ging er im Oktober 1940 nach Frankfurt am Main, wo er vermutlich sofort im Rothschild’schen Hospital arbeitete. Nach der Klinikauflösung im Mai 1941 wohnte er vorübergehend in einer Rothschild’schen Personalwohnung in der Rhönstraße und war danach im Krankenhaus Gagernstraße gemeldet. Die Umstände seiner Deportation sind bislang unbekannt. Noch keine 26 Jahre alt, wurde Jonas Neuberger am 25. Juli 1942 im Vernichtungslager Majdanek ermordet.

Fotografie: Johanna Herz, o.J. (um 1940)
Johanna Herz, o.J. (um 1940)
Gedenkstätte Yad Vashem, Jerusalem (Gedenkblatt)

Auch das junge Leben der 1920 in Leer (Niedersachsen) geborenen jüdischen Ostfriesin Sophie Landsberg endete in der Schoah. Schwester Sophie, auch Sonni oder Henny gerufen, pflegte vermutlich von 1939 bis zur Klinikauflösung im Mai 1941 im Rothschild’schen Hospital. Kurz darauf verließ sie Frankfurt in Richtung Würzburg; ihr Deportationsweg verlief ab Nürnberg über Theresienstadt nach Auschwitz. Zu der jüngsten und infolge der Schoah letzten Generation deutsch-jüdischer Krankenschwestern gehörte auch die 1921 in Würzburg (Unterfranken, Bayern) geborene Fanny Ansbacher. Sie lernte vom Mai 1940 bis Februar 1941 Krankenschwester am Rothschild´schen Hospital. Wie bei Jonas Neuberger scheiterte die von ihr beabsichtigte Hachschara. Am 3. März 1943 wurde sie von Berlin nach Auschwitz deportiert, wo sie zunächst als Krankenpflegerin auf der Krankenstation Birkenau überleben konnte. Noch im gleichen Jahr erkrankte sie an Typhus und erlag den Folgen von Aushungerung und Unterversorgung. Für Fanny Ansbacher und ihre Familie wurden 2006 in Würzburg Stolpersteine verlegt.

Zilli Heinrich, Jahrgang 1922, war eine der wenigen gebürtigen Frankfurterinnen im Rothschild’schen Hospital. Nach dem Besuch der Samson-Raphael-Hirsch-Schule lernte sie Krankenschwester im Rothschild’schen Hospital, auch ihre Mutter Emilie Hirsch war dort gemeldet. Vermutlich pflegte Zilli Heinrich auch im Rothschild’schen Kinderhospital. 1940 wurde sie aus ihrem beruflichen Werdegang gerissen, um Zwangsarbeit in einer Waffenfabrik zu leisten. Von Frankfurt (letzte Wohnadresse: Am Tiergarten 28) wurden Zilli und Emilie Heinrich am 22. November 1941 nach Kauen (Kowno, Litauen) deportiert. Dort fiel sie – wie ihre älteren Kolleginnen Käthe Popper (siehe oben) und Käthe Mariam – am 25. November 1941 mit ihrer Mutter gleich nach der Ankunft den Massenerschießungen im Fort IX zum Opfer.

Fotografie: Zilli Heinrich und ihre Mutter Emilie Heinrich, um 1939

Schlussbemerkung und Dank
Die hier vorgestellten biographischen Wegweiser führten zu 23 Pflegekräften des Rothschild’schen Hospitals. Von ihnen waren zwei männlich. Zwei waren evangelische Christinnen vermutlich nichtjüdischer Herkunft, von denen eine zum Judentum konvertierte. Jeweils drei Pflegende stammten aus den heutigen nördlichen Bundesländern Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, eine aus der heutigen Rheinland-Pfalz, eine aus Hamburg, einer aus Berlin, fünf aus Bayern, eine aus England, eine aus Ungarn, eine aus dem heute französischen Elsass, bei einer Pflegenden ist die Herkunft unbekannt. Fünf wurden in Hessen geboren, darunter als einzige Frankfurterin Zilli Heinrich. Nur wenigen gelang die Emigration, die meisten wurden in der Schoah ermordet.
An dieser Stelle sei auch an Emma Rothschild (geb. 1894 in Echzell, Hessen) erinnert. Aus schwierigen Verhältnissen – sie war zeitweise Heimkind im Frankfurter Israelitischen Waisenhaus im Röderbergweg – hatte sie sich zur langjährigen Oberin des Rothschild’schen Kinderhospitals hochgearbeitet. Oberin Emma war keine gelernte Krankenschwester, sondern Kindergärtnerin; das renommierte reformpädagogische Fröbel-Kindergärtnerinnen-Seminar verließ sie mit einem Examen erster Klasse. Nach der NS-Zwangsschließung des Rothschild’schen Kinderhospitals im Juni 1941 leitete sie die Mädchenabteilung der Israelitischen Waisenanstalt. Emma Rothschild wurde (wie ihre Schwestern Sophie und Dina Rothschild) am 8. Mai 1945 für tot erklärt; Deportationsdatum und Deportationsziel konnten bislang nicht herausgefunden werden.

Der besondere Dank der Autorin geht an Dr. Peter Honigmann (Zentralarchiv zur Erforschung der Juden in Deutschland, Heidelberg), Sandra Jahnke und Dr. Siegbert Wolf (Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a.M.), Michael Simonson und Lottie Kestenbaum (Leo Baeck Institute), Gisela Marzin und Janine Wolfsdorff (Stadtarchiv Dinslaken), Monika Rohde-Reith (Stadtarchiv Dieburg), Michael Lenarz (Jüdisches Museum Frankfurt a.M.) und die Pflegehistorikerin Petra Betzien (Düsseldorf).

Birgit Seemann, 2017

 

Unveröffentlichte Quellen


CAHJP: The Central Archives for the History of the Jewish People Jerusalem:

Sammlung Familien Friedemann / Hirsch – P 59 (1828-1947), mit Dokumenten zur Dr. Marcus Hirsch und seiner Familie

 HHStAW Wiesbaden: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden:

Entschädigungs-, Rückerstattungs- und Devisenakten

 ISG Ffm: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main:

Hausstandsbuch Sig. 186/742: Rhönstraße 47-55 (Personalwohnungen der Rothschild’schen Stiftung)

Hausstandsbuch Sig. 655: Bornheimer Landwehr 85 (Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main, Schwesternhaus)

Hausstandsbücher Sig. 686, Sig. 687: Gagernstraße 36 (Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde Frankfurt a.M.) Magistratsakten V Sig. 707 (1922)

Hirsch, Marcus: Sammlung Personengeschichte S 2, Sig. 15.893 (mit Auszug aus dem Frankfurter Einwohnermelderegister)

Lilienfeld, Sidney Adolf, Sammlung Personengeschichte S 2, Sig. 390

Pinner, Oskar, Nachlass Sig. S 1-368 (Laufzeit 1926-1928)


Rosenbaum, Elieser, Sterbeurkunde, Personenstandsunterlagen, Sig. 1922/V/35

 StA Dinslaken: Stadtarchiv Dinslaken:

Sammlung Jeanette Wolff: Wolff, Juliane: Dokumente, Fotos

 Zentralarchiv Heidelberg: Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland, Heidelberg:

Personenstandsregister: Archivaliensammlung Frankfurt: Abteilung IV: Kennkarten, Mainz 1939: http://www.uni-heidelberg.de/institute/sonst/aj/STANDREG/FFM1/117-152.htm: Lorch, Selma (27.10.1906) Frankfurt, 606

Literatur


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Dieckmann, Christoph 2011: Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944. 2 Bände, GöttingenHeidel, Caris-Petra (Hg.) 2011: Jüdische Medizin – Jüdisches in der Medizin – Medizin der Juden? Frankfurt a.M.

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Klein, Hans-Peter/Pettelkau, Hans (Hg.) 2014: Juden in Nordhessen: http://jinh.lima-city.de/index.htm (Stand: 10.08.2017)

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Livnat, Andrea/ Tobias, Jim G.: Jüdische Ärzte aus Deutschland und ihr Anteil am Aufbau des israelischen Gesundheitswesens, http://aerzte.erez-israel.de

Seckbach, Raziel Yohai 2014a: Eliezer [sic] Rosenbaum, http://www.geni.com/people/Eliezer-Rosenbaum/6000000002528345033 (private genealogische Website, Stand: 21.11.2014)

Seckbach, Raziel Yohai 2014b: Sally Rosenbaum, http://www.geni.com/people/Sally-Rosenbaum/6000000003674607604 (private genealogische Website, Stand: 29.11.2014)

Stolz, Benita/ Försch, Helmut: Würzburger Stolpersteine, http://www.stolpersteine-wuerzburg.de

Bad Nauheimer jüdische Krankenschwestern

Bad Nauheim übte als Kurort seit ca. 1869, als es den Namenszusatz „Bad“ erhielt, bis zu den 1930er Jahren eine große Anziehungskraft auf ein internationales Kurpublikum aus. Gerne kamen auch jüdische Gäste, da sie durch die vielen jüdischen und nicht-jüdischen hoch angesehenen Ärzte und Spezialisten für Herzleiden sich in guten Händen wussten und in den jüdisch geführten Hotels und Pensionen rituell adäquate Bedingungen vorfanden. In der Gruppe der jüdischen Gäste spielten die Frankfurterinnen und Frankfurter eine besondere Rolle. Zum einen traten sie als Stifterinnen und Stifter auf, wie z. B. Mathilde und Adelheid von Rothschild oder Michael Moses Mainz und die Frankfurt-Loge, die sich insbesondere um das Israelitische Kinderheim und das Israelitische Frauenkurheim verdient machten. Zum anderen kamen auch viele Wochenendgäste aus dem nahegelegenen Frankfurt (vgl. Kolb 1987: 104f.). Bei weitem nicht alle jüdische Bad Nauheimer Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger konnte ich ausfindig machen. Die identifizierten stelle ich in alphabetischer Reihenfolge vor.

Die Krankenschwestern

Ida Aaron wird als Krankenschwester von dem Historiker Stephan Kolb erwähnt (vgl. Kolb 1987: 82). Im Stadtarchiv von Bad Nauheim konnte ihre Anwesenheit in Bad Nauheim nicht verifiziert werden (StABN 09.04.14).

Sara Beit wird als Krankenschwester ebenfalls von dem Historiker Stephan Kolb erwähnt (vgl. Kolb 1987: 82). Ihre Anwesenheit in Bad Nauheim konnte im Stadtarchiv nicht verifiziert werden (StABN 09.04.2014). Vermutlich handelt es sich um die spätere Sara Kallner, verheiratet mit Dr. Adolf Kallner, die zusammen die Villa Aspira, ein streng rituell geführtes Erholungsheim in Bad Soden, führten (Link) und deren Schwester Ida Beith, die Oberin der Bad Sodener Israelitischen Kuranstalt war.

Friedel (Frieda) Fröhlich, geb. Löwenstein, wurde am 6. Oktober 1907 in Fulda geboren. Sie zog am 3. April 1929 von Bad Dürrheim in das Schwesternhaus des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main, dort war sie als Krankenschwester eingetragen, also sehr wahrscheinlich ein Mitglied des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main. Am 22. Februar 1933 verzog sie nach Fulda (vgl. ISG 655). Sie heiratete am 14. Mai 1933 den Hilfsarbeiter Julius Fröhlich, und am 25. März 1935 wurde ihr Sohn Walter in Nieder Weisel, das heute zu Butzbach gehört, geboren. In die Hermann-Göring-Straße 103 zog sie am 25. Februar 1936 (vgl. StABN 25.08.2014) und übernahm dort die Leitung der Kinderheilstätte (vgl. Kingreen 1997). Nachdem die Kinderheilstätte im selben Jahr, nach Beendigung der Kursaison, auf grund fehlender finanzieller Mittel, geschlossen werden musste, übernahm Friedel Fröhlich die Oberinnenstelle in der am selben Ort neu gegründeten jüdischen Bezirksschule (Januar 1937). Auf dem Foto (oben) sehen wir Friedel Fröhlich als Oberin der Bezirksschule Bad Nauheim mit dem Lehrerkollegium im Jahr 1938. Im Mai 1939 musste die Schule geschlossen werden.


1940 zog Friedel Fröhlich mehrfach um. Ihre Wohnadressen waren die Hermann-Göring-Straße 65 und 103 (ehemaliges Frauenkurheim) und zusammen mit ihrer Familie die Karlstraße 28 (Villa Flörsheim) und die Hermann-Göring-Straße 58 (ehemaliges Männerkurheim). Ihr Mann konnte am 27. April 1940 ausreisen. Der geborene Butzbacher erreichte am 30. April in Genua das Schiff „S.S. Rex“ und landete am 9. Mai 1940 in New York (vgl. Ancestry). Sie selbst konnte mit ihrem Sohn am 24. Juli 1940 nach Frankfurt a. M. ziehen. Dort war sie unter der Adresse Danziger Platz 15 (Gumpertz‘sches Siechenhaus) gemeldet. Am 3. April 1941 zog in das Krankenhaus in der Gagernstraße 36, von wo sie am 3. Juni 1941 nach Alpena, USA, entkam (vgl. ISG 687).

Fotografie: Das Lehrerkollegium der Bezirksschule Bad Nauheim, mit Schwester Rosi Klibanksi (5.v.l.) und Schwester Oberin Friedel Fröhlich (6.v.l.).
Das Lehrerkollegium der Bezirksschule Bad Nauheim, mit Schwester Rosi Klibanksi (5.v.l.) und Schwester Oberin Friedel Fröhlich (6.v.l.)
© Sammlung Monica Kingreen

Auf dem selben Foto, neben Friedel Fröhlich, ist auch Rosi Klibansky (Klibanski) zu sehen. Sie wurde am 5. Dezember 1902 als Rosi Spier in Schwalbach, Kreis Wiesbaden, geboren. Am 4. September 1928 heiratete sie Joseph Klibansky. Aus der Ehe ging Sohn Wolfgang (geb. 4. Dezember 1934 in Frankfurt a. M.) hervor. Das Paar wurde jedoch am 3. August 1937 in Aschaffenburg geschieden. Am 8. April kam Frau Klibansky nach Bad Nauheim in die Frankfurter Str. 103, das Israelitische Kinderheim, welches zu dieser Zeit schon als jüdische Bezirksschule fungierte. Mutter und Sohn Klibansky konnten am 15. Januar 1939 nach New York entkommen (vgl. StABN 25.8.2014), beide schifften sich auf der „S.S. Hamburg“ am 26. Januar 1939 in Hamburg ein. In Hamburg lebt auch der Bruder von Frau Klibansky, Arthur Spier, den sie bei der Einreise in die USA als Kontaktperson angab. Ziel der Reise ist Rosi Klibanskys Onkel Herman Stern in Valley City, North Dakota. Mit 25 Dollar in der Tasche erreichen die beiden New York (vgl. Ellis Island). Herman Stern war bereits 1903 nach einer Lehre bei einem Kleidungshändler in Mainz ausgewandert. Er konnte bis 1941 ca. 120 Ausreisevisa für Familienmitglieder beschaffen (vgl. Stern).

Eine der Leiterinnen der Kinderheilstätte war Helene Koppel. Geboren wurde sie am 5. Januar 1883 in Altona als Tochter von Samuel Koppel, ihre Mutter war vermutlich eine geborene Leipheimer. Sie zog am 6. April 1921 in die Frankfurter Str. 67 und 1930 weiter in die Frankfurter Straße 103 (Kinderkurheim). Frau Koppel arbeitete in Bad Nauheim immer während der Kursaison (April bis Oktober). In den Jahren 1921 bis 1934 meldete sie sich außerhalb der Saison regelmäßig nach Altona ab (StABN 25.8.2014).

Es gibt einige Informationen über die Krankenschwester Henriette Jockelsohn (Jochilson) in Bad Nauheim, woraus jedoch nicht hervorgeht wo sie gearbeitet hat. Die wurde am 10. Februar 1880 in Mainz geboren und kam am 27. Juni 1922 nach Bad Nauheim, wo sie zuletzt in der Frankfurter Straße 58 (ehemaliges Männerkurheim) wohnte. Sie zog am 22. Juli 1941 als 61jährige nach Sayn bei Koblenz in die Heil- und Pflegeanstalt Bendorf (vgl. StABN 09.04.2014 und Kolb 1987: 82), wobei nicht geklärt ist, ob sie sich dort als Patientin oder als Pflegerin aufhielt. Henriette Jockelsohn war im Zug, der am 15. Juni 1942 über Köln und Düsseldorf in das Vernichtungslager Sobibor fuhr (vgl. Gedenkbuch).

Regina Lehmann wurde am 28. November 1881 in Würzburg geboren und zog am 15. April 1923 nach Bad Nauheim, wo sie in der Frankfurter Straße 63/65, dem Israelitischen Frauenkurheim, wohnte (vgl. StABN 09.04.2014). An anderer Stelle wird Rebekka Lehmann als Leiterin des Israelitischen Frauenheims im Jahr 1925 vermerkt (vgl. Alemannia Judaica). Sie ist vermutlich identisch mit der Oberin des Frauenkurheims Regina Lehmann, die 1930 zum 25-jährigen Bestehen des Heims angeführt wird: „die aufopferungsvolle Oberin, Frl. Regina Lehmann und die ihr zur Hand stehenden Schwestern und Helferinnen“ (vgl. Der Israelit 3. Juli 1930, zitiert nach Alemannia Judaica).
Nach der Schließung des Israelitischen Frauenkurheims 1937, wird als letzte Wohnadresse von Regina Lehmann in Bad Nauheim die Frankfurter Straße 49 genannt, von wo sie seit 21. Juni 1937 als „auf Reisen“ geführt wird (vgl. Kolb 1987: 276). Frau Lehmanns letzter feststellbarer Wohnort war dann in Würzburg, von wo sie am 27. Juli 1939 nach München verzog (vgl. Ancestry). Ihre Spur findet sich im Gedenkbuch des Bundesarchivs, welches das Deportationsziel Izbica, Ghetto, ab Düsseldorf 22. April 1942, angibt, als letzter Wohnort wird dort „München Gladbach“ genannt. Es gibt allerdings auch eine Auskunft, die der Historiker Stephan Kolb vermerkte: Danach hat die Nichte von Frau Lehmann berichtet, dass Regina Lehmann nach Palästina emigrieren konnte und in Israel verstorben sei (vgl. Kolb 1987: 276).

Fotografie: Lina Wagner, geb. Sandenell / Möglicherweise war Frau Wagner Krankenschwester in Bad Nauheim.
Lina Wagner, geb. Sandenell / Möglicherweise war Frau Wagner Krankenschwester in Bad Nauheim.
© Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden

Lina Wagner, geb. Sandenell (Sandinell) wurde am 9. September 1876 in Großlangheim, Unterfranken, geboren. Sie heiratete am 7. Mai 1924 in Bad Nauheim den Buchdruckereibesitzer Friedrich Wilhelm Wagner, dessen zweite Ehefrau sie war. Sie zählte zu den Überlebenden von Theresienstadt (Sh’arit ha-pl’atah, zit.nach United States Holocaust Memorial Museum). In Bad Nauheim wohnte sie am 26. Juni 1945 in der Stresemannstraße 36 und ab dem 1. Februar 1951 in der Karlstraße 28, der Residenz der Jüdischen Gemeinde im Haus Flörsheim. Lina Wagner starb am 6. Juli 1958 in Gießen. Stephan Kolb erwähnt ihren Beruf als Krankenschwester (vgl. Kolb 1987: 82).
In ihrer Wiedergutmachungsakte erwähnt Lina Wagner niemals ihre Tätigkeit als Krankenschwester. Ein möglicher Hinweis auf diesen Beruf könnte jedoch die Trauzeugenschaft bei Frau Wagners Hochzeit sein, die die Oberin Regine Lehmann übernommen hatte (vgl. HHStA).

Fotografie: Ottilie Winter, o.J. (um 1940)
Ottilie Winter / Ottilie Winter, o.J. (um 1940)
Gedenkstätte Yad Vashem, Jerusalem (Gedenkblatt)

Ottilie Winter wurde am 28. Dezember 1886 in Kempen/Rheinland geboren. Die Eltern waren Simon und Helene (Hannah) Winter (Yad Vashem, Gedenkblatt). Sie absolvierte ihre Ausbildung zur Krankenschwester 1915 im Verein für jüdische Krankenschwestern zu Frankfurt am Main und war anschließend im Krankenhaus in Frankfurt in der Gagernstraße 36 tätig (vgl. Steppe 1997: 231). Mit Unterbrechungen arbeitete sie auch in Kolberg und Sontheim. Das Hausstandsbuch des Schwesternhauses in der Bornheimer Landstraße 85 vermerkt, dass Ottilie Winter am 26. Juni 1924 aus Kolberg kam, dann im Schwesternhaus wohnte und am 29. Oktober 1931 nach Sontheim ging (ISG 655: 30). Zu einem unbekannten Zeitpunkt zog sie in den Röderbergweg 93 (Rothschildsches Krankenhaus) von wo aus sie am 2. Mai 1935 in die Bornheimer Landwehr 85, das Schwesternhaus des jüdischen Krankepflegerinnenvereins zu Frankfurt am Main, umzog. Von dort ging sie am 20. Juni 1935 nach Bad Nauheim (vgl. ISG 655: 45). Hier lebte und arbeitete sie in der Hermann-Göring-Straße 103 als Oberin der Kinderheilstätte, sie war also die Vorgängerin von Frieda Fröhlich. Von Bad Nauheim ging sie am 16. Januar 1936 zurück nach Frankfurt am Main. Hier war sie vom 22. Januar 1936 bis zum 19. November 1940 wieder im Schwesternhaus des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen gemeldet. Dann musste sie wegen der erzwungenen Auflösung des Vereins ins Israelitische Krankenhaus in der Gagernstraße 36 umziehen (vgl. ISG 655: 47). Von dort wurde sie am 15. September 1942 nach Theresienstadt verschleppt (vgl. ISG 687: 397). Am 16. Oktober 1944 kam sie in das Vernichtungslager Auschwitz (vgl. Gedenkbuch).

Für viele Informationen danke ich der Stadtarchivarin von Bad Nauheim, Brigitte Faatz.

Edgar Bönisch, 2015

Unveröffentlicht

HHStA = Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Signatur: Abt. 518 Nr. 44541 ISG = Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main

Hausstandsbuch 655, Bornheimer Landwehr 85

Hausstandsbuch 687, Gagernstraße 36

StABN = Stadtarchiv Bad Nauheim

09.04.2014 Einwohnermeldekartei, Mitteilung der Stadtarchivarin in Bad Nauheim, Frau Brigitte

Faatz
25.08.2014 Einwohnermeldekartei, Mitteilung der Stadtarchivarin in Bad Nauheim, Frau Brigitte Faatz

 
 
Literatur

Kingreen, Monica 1997: Die jüdischen Kurheime in Bad Nauheim. Kinderheilstätte I. In: Frankfurter Rundschau, Lokalrundschau, Ausgabe: Wetteraukreis, 29.10.1997: 2

Kolb, Stephan 1987: Die Geschichte der Bad Nauheimer Juden. Bad Nauheim

Steppe, Hilde 1997: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre…“.
Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt am Main

 
Links

Alemannia Judaica [Alemannia Judaica Bad Nauheim/Synagoge]:
Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Geschichte der Juden im süddeutschen und angrenzenden Raum: Bad Nauheim (Wetteraukreis) Jüdische Geschichte/Synagoge.
http://www.alemannia-judaica.de/bad_nauheim_synagoge.htm. (29.08.2014)

Ancestry: Eintrag: Julius Fröhlich, http://www.ancestry.de/ (03.09.2014)

Ancestry: Eintrag: Rosi Klibansky/Ellis Island, http://www.ancestry.de/ (03.09.2014)

Ancestry: Eintrag: Regina Lehmann, http://www.ancestry.de/ (29.8.2014)

Ellis Island: http://libertyellisfoundation.org/passenger-details/czoxMzoiOTAxMTk4MjI3MDczMSI7/czo5OiJwYXNzZW5nZXIiOw==#passengerListAnchor (12.03.15)

Gedenkbuch: Das Gedenkbuch des Bundesarchivs für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland (1933-1945), http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/directory.html (29.8.2014)

Sh’arit ha-pl’atah [], zit.nach United States Holocaust Memorial Museum
http://www.ushmm.org/online/hsv/person_view.php?PersonId=3955222 (16.02.2015)

Stern, Hermann http://web.mnstate.edu/shoptaug/HermanStern.htm (03.09.2014)

Yad Vashem: Gedenkblatt Ottilie Winter
http://db.yadvashem.org/names/nameDetails.html?itemId=1455018&language=de
http://db.yadvashem.org/names/nameDetails.html?itemId=1936553&language=de
http://db.yadvashem.org/names/nameDetails.html?itemId=1164975&language=de (29.8.2014)

Thea Wolf auf dem Weg zur jüdischen Krankenschwester

… und sie wurden richtig stolz auf ihre ‚Krankenschwester-Tochter‘.“

Die Ausbildung zur Krankenschwester in jüdischen Einrichtungen

Fotografie: Schwester Thea, 1932.
Schwester Thea, 1932
Aus: Thea Levinsohn-Wolf, Stationen einer jüdischen Krankenschwester. Deutschland – Ägypten – Israel, Frankfurt am Main 1996, S. 26

In den 1890er Jahren organisierten sich die ersten jüdischen Krankenpflegevereine. Sie widmeten sich der Ausbildung von Krankenschwesterschülerinnen und halfen so den Beruf der Krankenschwester zu etablieren. Dies bestätigt auch Schwester Selma Mayer, die in Hamburg ausgebildet worden war und 1916 nach Palästina ging. Sie berichtet, dass eine Kollegin und sie selbst die ersten jüdischen Schwestern waren, die ein deutsches staatliches Diplom erhielten: „The first time that Jewish nurses sat for examinations by the German authorities and received a German State Diploma was in 1913″.1

Noch 1921 ging man davon aus, dass für den Beruf der Krankenschwester „vorzugsweise Mädchen und Frauen von gutem Herkommen zu berücksichtigen“2 seien. Doch in der Praxis interessierten sich die angesprochenen Töchter aus wohlhabenden Häusern oftmals für ein Studium der Medizin. Da der Beruf der Krankenschwester eine gute soziale Absicherung bot, war er zudem attraktiv für Mädchen und junge Frauen, die auf ein geregeltes Einkommen angewiesen waren. So öffnete sich die Ausbildung auch für „niedere Kreise“ womit „Köchinnen, Dienstmädchen, Ladnerinnen, Gouvernanten, Kindergärtnerinnen und Elementarschullehrerinnen“ gemeint waren3. Das erwünschte Eintrittsalter zur Ausbildung lag zwischen 20 und 30 Jahren, so dass eine gewisse Reife, gewonnen durch Berufserfahrungen in unterschiedlichen Bereichen, vorausgesetzt werden konnte und Bildungsbereitschaft vorhanden war4.

Durch den Ersten Weltkrieg kam es jedoch zu einem Bruch. Gustav Feldmann, der in Stuttgart praktizierende jüdische Arzt, der sich immer wieder für die „Etablierung und fürsorgliche Ausgestaltung der beruflichen jüdischen Krankenpflege in Deutschland“5 einsetzte schrieb 1924, dass „während des Krieges der Zustrom der Schülerinnen in allen Vereinen fast vollkommen versiegte, in den ersten Nachkriegsjahren hat er überhaupt ganz aufgehört, weil die jungen Mädchen sich fast alle dem Handel und der Industrie zuwandten“6. In der Verarmung des Mittelstandes während der Wirtschaftskrise der 1920er Jahre sah er aber auch die Chance, dass der Pflegeberuf „in Kürze wieder seine volle Anziehungskraft ausüben“7 werde. In der Summe hatten mit Ende der 20er Jahre die jüdischen Vereine über 1.000 Schwestern ausgebildet, wobei sich für die Gestaltung der Ausbildung in den verschiedenen Vereinen „insgesamt ein sehr buntes und uneinheitliches Bild“8 ergab.

Thea Wolf entsprach dem oben skizzierten Anforderungsprofil, als sie 1927 dem Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main zur Ausbildung beitrat. Sie war 20 Jahre alt, hatte Berufserfahrung als Buchhalterin und Erzieherin gesammelt und suchte eine Möglichkeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Geboren wurde sie 1907 und lebte im gutbürgerlichen Haushalt ihrer Eltern dem Metzger Moritz Wolf und seiner Frau Jeanette am Rande des sogenannten „Arbeiterviertels“ in Essen. Schon als Jugendliche war Thea Mitglied der jüdischen Jugendbewegung und kümmerte sich um die jüdischen Emigranten aus Polen, die nach dem Ersten Weltkrieg in das Ruhrgebiet kamen. Thea Wolf besuchte dann die Höhere Handelsschule und wurde Buchhalterin, diesen Lebensabschnitt beurteilte sie später folgendermaßen: „Dort endete meine zweijährige Tätigkeit mit der Bankrotterklärung des Betriebes, und ich war überglücklich,“ da sie ihre Zeit nicht mit einer „leblosen Tätigkeit“ vergeuden wollte9.

Die Motivation Krankenschwester zu werden
Ein wesentliches Ziel der spezifisch jüdischen Pflege war es, den Beweis zu erbringen, dass jüdische Krankenschwestern genauso selbstlos, opferbereit und gehorsam waren wie ihre christlichen Kolleginnen und dass die Leistung der jüdischen Schwesternschaft denen der anderen Mutterhäuser ebenbürtig war, was z.B. 1928 und 1929 in Artikeln der Monatshefte der jüdischen Großloge B’nai B’rith10 dokumentiert wurde. Um dieses Ziel zu erreichen baute man in erster Linie auf weibliche Pflegekräfte und argumentierte, dass dieser Beruf „wie kein anderer den natürlichen Fähigkeiten und Neigungen des Weibes entspricht, der so viele innere Befriedigung gewährt und seiner Trägerin eine allgemein geachtete Stellung verbürgt“11.

Aus den Erzählungen der Schwestern selbst wird ersichtlich wie wichtig ihnen das Helfenwollen war. Schwester Selma formuliert es so: „Because I lost my mother very early […] a strong need grew in me to give people that which I had missed so much: mother-love and love of human beings. Therefore I chose the profession of nursing.”12 Auch Thea Wolf und ihre Schwester, die sich oft wünschten aus dem Armenviertel wegzuziehen, bekamen von ihrer Mutter immer wieder zu hören: „Kinder, wenn wir von hier fortziehen, vergessen wir die Armen, und das darf man nicht.“13 Thea war es auch gewohnt, zu ihrem eigenen Schulbrot auch solche für bedürftige Mitschüler mitzunehmen oder, wenn sie zu den Feiertagen neue Kleidung bekam, im Gegenzug ein altes Kleidungsstück für die Armen abzugeben.

Dass sich beim Eintritt in die Frankfurter Schwesternschaft für Thea Wolf ein großer Wunsch erfüllte, drücken ihre Worte aus: „Alles erschien mir sinnvoll, notwendig und die Ärzte und Schwestern mit einem heiligen Ernst und menschlicher Anteilnahme gesegnet.“ Sie hatte das Gefühl „ein Rädchen in einer wichtigen Gemeinschaft geworden zu sein. Ich konnte etwas tun, um Leiden zu lindern und unheilbar Kranken bei ihrem Hinübergehen in eine andere Welt ihre letzten Augenblicke auf dieser Welt erleichtern.“14

Familiäre Widerstände
Um ihr Ziel, Krankenschwester werden, zu erreichen, galt es für die jungen Frauen, Traditionen zu brechen. Als Thea Wolf sich als Jugendliche für die polnischen Flüchtlinge einsetzte, hörte sie jeden Tag von ihrer Mutter: „Bereite doch lieber Deine Aussteuer für Deinen künftigen Haushalt vor.“ Um dieser Art mütterlicher Fürsorge zu entkommen, verpflichtete sich Thea Wolf 1926 mit 19 Jahren heimlich als „Helferin ohne Gehalt“15 im „Waisenhaus des Frauenvereins von 1883“ in Berlin. Thea Wolf kommentierte die Reaktion ihrer Verwandtschaft darauf mit den Worten: „Sie alle waren über meine Berufswahl anhaltend entsetzt. Sie waren der Meinung, dass ich damit auf ein ’normales Leben‘ verzichten würde, dass ich eine Art Nonnenleben führen müsste, anstatt in ein Pensionat zu gehen, um dort zu einer guten Frau, einer guten Hausfrau ausgebildet zu werden, – und auch tanzen zu lernen, um dann zu heiraten. Ich aber wollte einen anderen, meinen Weg einschlagen, den Armen und Kranken helfen, denn um mich herum gab es so viel Elend, das ich während des Ersten Weltkrieges hautnah miterlebt hatte.“16 Die Zeit im Berliner Waisenhaus erfuhr Thea Wolf als lieblose Welt in der apathische Kinder lebten. Doch weder durch dieses deprimierende Erlebnis noch durch die ablehnende Haltung der Familie ließ sie sich in Ihrer Berufswahl beirren und meldete sich zur Ausbildung als Krankenschwester an. Es war später der Rabbi, der die Eltern beruhigen konnte, so dass sie mit der Zeit „richtig stolz auf ihre ‚Krankenschwester-Tochter'“ wurden.
Der oben erwähnte Gustav Feldmann sagte bereits 1901: „In der Regel soll die Bewerberin ledig sein.“17 Es wurde davon ausgegangen, dass die Berufstätigkeit in der Krankenpflege und die Ehe sich nicht vertragen, zumeist sind die Schwestern im Falle einer Heirat dann auch aus der Schwesternschaft ausgetreten. Um den Beruf trotzdem attraktiv zu halten, wurde er oft als ausgezeichnete Vorbereitung auf die Ehe beschrieben.

Ankunft als Schwesternschülerin im Frankfurter Verein für Krankenpflegerinnen

Fotografie: Speiseraum des Schwesternhauses in der Bornheimer Landwehr 85, Frankfurt am Main, 1920.
Speiseraum des Schwesternhauses in der Bornheimer Landwehr 85, Frankfurt am Main, 1920
Aus: Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main, Rechenschaftsbericht für die Jahre 1913 bis 1919, Frankfurt am Main 1920, S. 48f

1927 begann Thea Wolf ihre Ausbildung als Krankenschwesternschülerin in der Bornheimer Landwehr 85, dem Schwesternhaus des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main.
Rückblickend erinnert sie sich an ihren ersten Tag: „Als ich so dasaß, war mir für einige Minuten etwas beklommen ums Herz, aber dann betrat Schwester Sara Adelsheimer das Zimmer, begrüßte mich freundlich und sagte: >Ich bin die Oberschwester und bringe Sie zu Schwester Dora. Sie ist verantwortlich für das Schwesternhaus, und sie wird Sie zu ihrem Zimmer begleiten.
Das Zimmer lag im dritten Stock des Schwesternhauses. Ich teilte es während der nächsten zwei Jahre, der Lehrzeit bis zur staatlich geprüften Krankenschwester, mit zwei anderen Schülerinnen. Die praktische Ausbildung erhielten wir im Krankenhaus der Jüdischen Gemeinde in der Gagernstraße 36. […]

Ein Gong rief zum Mittagessen, das wir im Erdgeschoß in einem geräumigen Speisesaal einnahmen. Hier wurde ich auch erstmals unserer Frau Oberin Minna vorgestellt. Sie war bereits pensioniert und nicht mehr tätig. […] Ich wurde auch allen älteren Schwestern vorgestellt. Sie trugen alle goldene Broschen zum Zeichen, daß sie seit mehr als fünfundzwanzig Jahren berufstätig waren. […] Dann stellte Schwester Dora mich allen übrigen Schwestern vor: >Dies ist Schwester Thea, unser neuer Zuwachs.< Ich gehörte damit zu dieser Gemeinschaft, […] ich ging zurück in mein Zimmer und […] schrieb […] an meine Eltern und teilte ihnen mit, daß alles in bester Ordnung sei, ich gut angekommen sei und mich sehr wohl fühle.“18

Edgar Bönisch, 2009

Literatur

Feldmann, Gustav 1901: Jüdische Krankenpflegerinnen. Kassel

Feldmann, Gustav 1924a: Krankenschwestern und Mittelstand. In: Central-Verein-Zeitung. Blätter für Deutschtum und Judentum; C.V.-Zeitung; Organ des Central-Vereins Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens, Nr. 39, S. 592

Feldmann, Gustav 1924b: Krankenschwestern und Mittelstand. In: Central-Verein-Zeitung. Blätter für Deutschtum und Judentum; C.V.-Zeitung; Organ des Central-Vereins Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens, Nr. 40, S. 613

Levinsohn-Wolf, Thea 1996: Stationen einer jüdischen Krankenschwester. Deutschland – Ägypten – Israel. Frankfurt am Main

Schwester Selma 2001: My Life and Experiences at „Shaare Zedek“. In: www.szmc.org.il/Eng/_Uploads/18selmaeng.pdf, Aufruf 02.06.2009

Steppe, Hilde 1997: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre …“ Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt am Main

Unabhängiger Orden B’nai B’rith 1921: Monatsschrift der Berliner Logen UOBB. Mitteilungen und Materialien der Großloge für Deutschland, Nr. 1, zitiert nach Steppe 1997, S. 262

Horst-Peter Wolff (Hrsg.) 2001: Biographisches Lexikon zur Pflegegeschichte. „Who was who in nursing history“ Band 2. München

Fußnoten

1Schwester Selma 2001, S. 5 (Übers.: „1913 legten das erste Mal jüdische Schwestern eine Prüfung vor deutschen Behörden ab und erhielten ein deutsches staatliches Diplom.“)
2Unabhängiger Orden B’nai B’rith 1921
3DVJK Deutscher Verband Jüdischer Krankenpflegerinnenvereine, Nr. 1, S. 21, zitiert nach Steppe 1997, S. 266
4Steppe 1997, S. 262, Steppe zitiert eine Debatte, die in DVJK, Nr. 2, S. 92ff geführt wurde.
5Horst-Peter Wolff 2001, S. 65
6Feldmann 1924b, S. 613
7ebd.
8Steppe 1997, S. 114
9Levinsohn-Wolf 1996, S. 13
10Steppe 1997, S. 275
11Feldmann 1901, S. 5
12Schwester Selma 2001, S. 38 (Übers.: „Da ich sehr früh meine Mutter verlor […] entstand in mir ein starkes Bedürfnis Menschen das zu geben, was ich so sehr vermisste: Mutterliebe und Liebe für Menschen. Deshalb wählte ich den Beruf der Krankenschwester.“)
13Levinsohn-Wolf 1996, S. 13
14ebd., S. 23
15ebd., S. 15
16ebd., S. 22
17Feldmann 1901, S. 8
18Levinsohn-Wolf 1996, S. 21
Bne Briss - jüdisches Kochbuch - Erster Weltkrieg

„Ausdauer, Energie und Opferbereitschaft“ – Frankfurter jüdische Krankenschwestern im Ersten Weltkrieg

Gleich zu Kriegsbeginn Anfang August 1914 hatte der Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main das gesamte 1. Stockwerk und die Hälfte der 2. Etage seines gerade bezogenen Neubaus in der Bornheimer Landwehr als Lazarett eingerichtet. „Die Flagge mit dem Roten Kreuz hing hoch über unserem Hause“ (zit. n. Rechenschaftsbericht JüdSchwesternvereinFfm 1920: 28). Schon bald trafen die ersten Verwundeten ein.

Fotografie: Schwesternhaus des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main, Frontansicht, Bornheimer Landwehr 85, Frankfurt a.M.
Schwesternhaus des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main, Frontansicht, Bornheimer Landwehr 85, Frankfurt am Main
Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main, Rechenschaftsbericht für die Jahre 1913 bis 1919. Frankfurt a.M. 1919, S. 16f.

Die bis zum Ersten Weltkrieg gegründeten jüdischen Schwesternhäuser und -stationen des Kaiserreichs – nach Frankfurt a.M. (1893) in Berlin, Beuthen, Breslau, Dortmund, Hamburg, Heidelberg, Köln, Mannheim, Metz, München, Nürnberg, Stuttgart, Wiesbaden, Worms und Würzburg (vgl. Steppe 1997: 112-115; siehe auch Bönisch 2009) – bildeten die Basis einer sich rasch organisierenden jüdischen Kriegskrankenpflege (vgl. ausführlicher Seemann 2014a). Sie waren Teil der Mehrheit innerhalb des Judentums, welche durch die gemeinsame Vaterlandsverteidigung die antisemitisch gezogenen Grenzen zu den nichtjüdischen Deutschen überwinden, endlich ‚dazugehören‘ wollte (vgl. Mosse 1971; Tobias/Schlichting 2014). Die wenigen jüdischen und nichtjüdischen Stimmen gegen den Krieg blieben ungehört, zumal sich auch die weibliche Bevölkerung größtenteils patriotisch zeigte. Hierbei kämpften die deutschen Jüdinnen nicht nur für die Anerkennung als weibliche, sondern auch als jüdische Staatsbürgerinnen (vgl. Steer 2014, siehe auch Eschelbacher 1919).

Die Frankfurter jüdische Krankenpflege im Ersten Weltkrieg
Ungeachtet der jeweiligen liberalen, orthodoxen und (minoritären) zionistischen Richtung war der Einsatz der jüdischen Deutschen auch in der Garnison Frankfurt am Main hoch. Rabbiner Dr. Nehemia Anton Nobel betreute als Feldgeistlicher und Seelsorger die jüdischen Soldaten (vgl. Heuberger/Krohn 1988: 129-133; siehe auch Drews-Lehmann 2003). Auf dem Jüdischen Friedhof Rat-Beil-Straße liegen die Grabstätten von 467 jüdischen Gefallenen.
Unter den insgesamt 91 Lazaretten der Frankfurter Heeressanitätsverwaltung – daneben gab es noch etwa 200 Privatlazarette wie das Lazarett der Israelitischen Frauenkrankenkasse (vgl. Hoffmann u.a. (Bearb.) 1976: 428) – befanden sich drei wichtige Institutionen der jüdischen Krankenpflege: außer dem Schwesternhaus des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen (Lazarett 27), das als Lazarett 26 geführte Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde (im Folgenden bezeichnet als: Jüdisches Krankenhaus Gagernstraße) und das Gumpertz’sche Siechenhaus (Lazarett 33) im Röderbergweg. Gleich zu Kriegsbeginn koordinierte der Vorstand von Schwesternverein und Krankenhaus die Freistellung ausgebildeter Pflegekräfte (in dieser Zeit unterstanden sie dem Sanitätsdienst der Heeresverwaltung), die Fortführung des zivilen Krankenhausbetriebs sowie die Organisation und Schulung freiwilliger Helferinnen und Helfer. Seit August 1914 verfügten kaiserliche Erlasse die Verkürzung der Pflegeausbildung auf sechs Monate sowie eine der Kriegsdauer entsprechende befristete staatliche Anerkennung; Lernschwestern konnten eine vorzeitige Notprüfung ablegen. Der Aufgabenbereich jüdischer Kriegskrankenschwestern unterschied sich nicht von dem ihrer nichtjüdischen Kolleginnen: „Generell arbeiteten sie in den OP-Sälen, in der Pflege Verwundeter und Kranker. Sie richteten Lazarette ein und lösten sie auch wieder auf. Sie wurden beauftragt, Kriegsgefangene in Russland zu betreuen. Sie begleiteten Lazarettzüge, arbeiteten auf Lazarettschiffen, an Bahnhöfen, kochten und putzten, wuschen, bauten Gemüse und Kartoffeln an. Zudem kümmerten sie sich um den Nachschub an Verbandsmaterial, d.h. sie organisierten den gesamten Wirtschaftsbetrieb eines Lazarettes“ (Panke-Kochinke/Schaidhammer-Placke 2002: 16). Neben akuter Ansteckungsgefahr z.B. in Seuchenlazaretten waren ständige Verfügbarkeit und abrupte Wechsel von Stoßzeiten und Leerlauf zu bewältigen. Wenig erforscht wurden bislang Traumatisierungen von Kriegskrankenschwestern (vgl. für die englischen Pflegekräfte Hallett 2009).
Nach einer Meldung des Frankfurter Israelitischen Familienblatts vom 21. August 1914 stellte die Frankfurter jüdische Gemeinde dem Roten Kreuz mit 150 Betten sofort drei Viertel der Räumlichkeiten ihres erst kürzlich eröffneten Klinikneubaus in der Gagernstraße zur Verfügung. Den dortigen Pflegealltag schildert der Krankenhausvorstand im Rechenschaftsbericht: „Im Laufe des Krieges entwickelte sich das Verhältnis so, dass fast sämtliche schweren chirurgischen Fälle aus der großen Gruppe Reserve-Lazarett III unserem Krankenhause zur Operation und Pflege überwiesen wurden; ebenso wurden von dort die ansteckenden Krankheiten, wie Typhus, Paratyphus, Scharlach, Ruhr, Diphtherie und die am Anfang des Krieges noch häufigen Fälle von Wundstarrkrampf der Infektions-Abteilung unseres Krankenhauses überwiesen. Die medizinische Abteilung war mit schweren Tuberkulosen, Lungenentzündungen, den so häufigen Nierenentzündungen der Kriegsteilnehmer, Nervenstörungen und anderen schweren Erkrankungen besetzt. Zeitweilig bestand noch eine Station für Kehlkopf- und Ohrenkranke. Von Frühjahr 1918 an war die Tätigkeit durch das Auftreten der Grippe erschwert, die nicht nur unter den Soldaten, sondern auch unter den Schwestern Erkrankungen veranlasste. Zeitweilig musste nahezu die Hälfte der Schwesternschaft wegen eigener Erkrankung an Grippe gepflegt werden […]“ (zit. n. Rechenschaftsbericht JüdSchwesternvereinFfm 1920: 35). Zu den Anforderungen gehörte, dass die Pflegekräfte die Schwerverwundeten bei den oft nächtlichen Fliegerangriffen in sichere Räumlichkeiten transportieren mussten.
Auch das auf Bedürftige mit chronischen Leiden spezialisierte Gumpertz´sche Siechenhaus leistete unter der Leitung von Stabsarzt Dr. Jacob Meyer, Dr. Gustav Löffler und Oberin Rahel Spiero Außerordentliches: „Es war als Schwerkranken-Station für Offiziere und Mannschaften bestimmt und hatte 32, zeitweilig 40 Betten. Es war von der Mobilmachung bis zum 12. Dezember 1918 belegt, verpflegte 671 Soldaten, darunter 434 Verwundete. Außerdem wurden dort 154 Militärpersonen ambulant behandelt“ (zit. n. ebd.: 36; vgl. auch Rechenschaftsbericht GumpSiechenhaus 1916).

Das ‚Vereinslazarett 27 Verein für jüdische Krankenpflegerinnen‘
Höchste Anerkennung zollten Patienten und Militärbehörden auch dem Lazarett des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins. Das am 16. August 1914 als funktionsfähig gemeldete Lazarett wurde von der Frankfurter Lazarett-Kommission unter Führung von Oberbürgermeister Georg Voigt besichtigt, übernommen und dem Reservelazarett III als Teillazarett zugeteilt. Betreut wurden vor allem Schwerverwundete und Soldaten mit inneren Krankheiten – selbstverständlich ohne Beachtung ihrer Herkunft, für die rituelle Versorgung und Ernährung jüdischer Soldaten war zugleich gesorgt. Im Hause gingen „Geistliche aller Konfessionen […] ein und aus“; „Gelegenheit zu kleinen Feiern boten alljährlich Kaisers Geburtstag, Weihnachten und Chanuka. An diesen Feiern nahmen alle gemeinsam teil, Soldaten, Personal, Schwestern und Verwaltung“ (zit. n. Rechenschaftsbericht JüdSchwesternvereinFfm 1920: 31, 32). Das Schwesternhaus-Lazarett unterstand Dr. Adolf Deutsch, dem bisherigen Leiter der Poliklinik des Jüdischen Krankenhauses Gagernstraße. Im ersten Kriegsjahr assistierte ihm seine Kollegin Dr. Käthe Neumark, vor ihrem Medizinstudium Krankenschwester und Mitglied des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins. Oberin Minna Hirsch organisierte den Pflege- und Wirtschaftsdienst des Lazaretts, führte Narkosen und Röntgenaufnahmen durch und koordinierte den Freiwilligen-Einsatz. In dem eigens für die verwundeten Soldaten eingerichteten Operationsraum des Schwesternhauses taten u.a. Beate Berger, Erna Heimberg, Josephine „Irma“ Hirsch und Else Unger Dienst.
Der erste Verwundetentransport traf am 2. September 1914 ein: „Bleich, erschöpft, verschmutzt, viele vom Schmerz gequält oder vom Fieber geschüttelt, alle aber so müde! – so werden des Krieges Opfer ins Haus getragen, wo alle Hände bereit sind, sie zu empfangen und zu versorgen“ (ebd.: 29) – und dies mit großem medizinischen und pflegerischen Erfolg: „[…] Verpflegt wurden im ganzen 850 Soldaten, darunter 26 Offiziere. Unter den Verpflegten waren 116 Juden. Entlassen wurden als geheilt 677 Mann; dienstfähig: 324 Mann; arbeitsverwendungsfähig: 134 Mann; verlegt als fast geheilt: 219; in anderweitige Behandlung überführt: 113 Mann, entlassen als dienstunfähig: 50 Mann; gestorben: 10 Mann. Laut Operationsbuch wurden 216 Operationen ausgeführt. Röntgenaufnahmen und Durchleuchtungen wurden in 530 Fällen vorgenommen. Der Nachbehandlung wurde große Aufmerksamkeit zugewandt. Hitzebehandlung verschiedener Art, Lichtbehandlung, Gymnastik und Massage wurden reichlich angewandt“ (ebd.: 30). Im Rahmen der Rehabilitationsmaßnahmen leitete Schwester Margarethe Hartog ‚Handfertigungskurse‘: Genesende Soldaten halfen im großen Garten des Schwesternhauses beim Gemüseanbau, der Errichtung eines Gewächshauses, der Geflügelzucht und der Ziegenhaltung; dazu bot das Schwesternhaus kulturelle und pädagogische Angebote. Von August bis Oktober 1916 beteiligte sich der jüdische Schwesternverein zudem an der großen Kriegsausstellung im Frankfurter Holzhausenpark. Dort präsentierte er u.a. medizintechnische Geräte zur Behandlung und Unterstützung Schwerverwundeter, etwa „Hilfsapparate für Zugverbände zur Behandlung von Knochenbrüchen und Knochenschüssen“ oder „aus Gipsverbänden und Metallstreifen hergestellte unterbrochene Schienenverbände zur Behandlung vereiterter Gelenkschüsse“ und „abnehmbare Gehschienen für Knochenverletzte und für Amputierte“ (ebd.: 35).
Am 8. Dezember 1918 verließen die letzten gesund gepflegten Soldaten das Lazarett des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins.

„Im Operationssaal konnte man beim Verbinden die interessantesten Völkerstudien machen“: weitere Pflegestätten Frankfurter jüdischer Krankenschwestern im Krieg
Mitglieder des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins taten auch in nichtjüdischen Lazaretten der Stadt Dienst, etwa im ‚Kyffhäuser‘ und im ‚Krankenhaus Ost‘, wo Schwester Bertha Schönfeld und ihre beiden (namentlich unbekannten) Kolleginnen die einzigen Jüdinnen waren. Andere Schwestern leiteten als Oberinnen die Verwundetenpflege in zu Lazaretten umgerüsteten jüdischen Institutionen außerhalb Frankfurts, so Emma Pinkoffs im Israelitischen Krankenhaus Hannover und Sophie Meyer im Israelitischen Altersheim zu Aachen. Für das Israelitische Krankenhaus Straßburg hatte der Frankfurter jüdische Schwesternverein bereits 1911 den dortigen Pflegedienst übernommen, geleitet von Oberin Julie Glaser. Dessen Patientinnen und Patienten verließen zu Kriegsbeginn die Klinik aus Furcht vor der Besetzung durch französische Truppen. Julie Glaser wechselte als Lazarett-Oberin in das Festungslazarett XXII B, einem ehemaligen Lyzeum, und organisierte zusammen mit den Frankfurter jüdischen Schwestern Blondine Brück, Jenny Cahn, Gertrud Glaser, Ricka Levy, Bella Peritz und Rahel (Recha) Wieseneck die Kriegskrankenpflege: „Dieses Lazarett in Straßburg wird bald“ – so die Pflegehistorikerin Hilde Steppe (1997b: 217) – „zum hauptsächlichen Gefangenenlazarett für Verwundete aus Frankreich, Russland, Italien, Rumänien, England und Amerika und besteht bis November 1918.“ In ihrem Bericht notierte Oberin Julie Glaser: „Im Operationssaal konnte man beim Verbinden die interessantesten Völkerstudien machen […]“ (zit. n. Rechenschaftsbericht JüdSchwesternvereinFfm 1920: 39). Nach der deutschen Niederlage kehrten die Krankenschwestern nach Frankfurt zurück.
Von den Pflegenden in der Etappe – dabei handelte es sich um das Gebiet hinter der Front, wo sich neben den Lazaretteinheiten u.a. auch Verwaltungs-, Versorgungs- und Instandsetzungseinheiten befanden -, die der Frankfurter jüdische Schwesternverein dem Roten Kreuz zur Verfügung stellte, sind namentlich bekannt: Frieda Amram (Oberin des Frankfurter Kinderhauses ‚Weibliche Fürsorge‘), Clara Bender (Narkoseschwester und Innere Station), Emmy Grünebaum (Innere Station), Hilde Rewalt (zuständig für die Pflege der Zivilbevölkerung), Martha Miriam Sachs (Laboratorium) und Rosa Spiero (Operations- und Narkoseschwester); erwähnt sind zudem (ohne Familiennamen) ‚Wäscheschwester‘ Ella und die auf der Zahnstation tätige Schwester Susanne (vgl. ebd. 40-49). Sie pflegten als Teil des Kriegslazarettrupps 125 an der Westfront (u.a. Deynze, Roulers, Emelghem, Iseghem) und der Ostfront (Bialystok, Grodno, Lida (Rußland), Plewna, Bukarest), in Belgien (Chimay, Montmigny) und in Frankreich (Monthermé, Pesches, Rochefort, Jemelle u.a.). „So haben sie den meisten blutigen Schauplätzen dieses unerhört schweren und langen Kampfes tätig nahe gestanden, Höhepunkte und Tiefen des Ringens mit erlebt, unter günstigen und schwierigen Umständen ihre Pflicht getan und nach allen Strapazen und Entbehrungen des Feldzugs zum Schluss den neuen Jammer und die neuen Gefahren des Rückzuges mit durchgemacht. Was sie in so langen Zeiten, auf so vielen Plätzen, unter so verschiedenartigen Ansprüchen geleistet und erduldet haben, verlangt ein reiches Maß von Ausdauer, Energie und Opferbereitschaft und umfasst eine Fülle segensreicher Arbeit“ (zit. n. ebd.: 41). An der Ostfront lernten die deutsch-jüdischen Schwestern Not und Elend der aus den Kampfgebieten evakuierten jüdischen Bevölkerung (vgl. Schuster 2004) kennen und versuchten nach Kräften zu helfen.

Dokument: Dokument zum Lazarettzug P.I (1915) des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main
Dokument zum Lazarettzug P.I (1915) des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main
© Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, Sammlung Ortsgeschichte, S3/A, Sig. 6747

Eine anonyme Großspende ermöglichte 1915 den Einsatz Frankfurter jüdischer Krankenschwestern für die Deutsche Sanitätsmission für Bulgarien: Freiwillig meldeten sich Oberschwester Sara Adelsheimer (OP-Schwester), die erfahrene Frontschwester Beate Berger sowie Grete Seligmann und Lina Spier. Dort taten sie von Januar 1916 bis Oktober 1918 Dienst und organisierten zunächst den Krankenhausbetrieb in Jamboli. Danach pflegten sie im Alexander-Spital zu Sofia, einem Großkrankenhaus mit 1000 Betten und einer internationalen Patientenschaft.

Deckblatt: Kriegskochbuch für die rituelle Küche. Bne Briss - Kriegskochbuch
Bne Briss – Kriegskochbuch / Deckblatt: Kriegskochbuch für die rituelle Küche. Unter Benutzung des Kochbuchs der Lebensmittel-Kommission der Stadt Frankfurt am Main

Der Frankfurter Lazarettzug P.I und der Vereinslazarettzug M.3 der Bne Briss-Logen
Gleich zu Kriegsbeginn organisierten und finanzierten die deutschen Logen der sozial engagierten jüdischen Vereinigung Bne Briss (heute: B’nai B’rith; dt.: ‚Söhne des Bundes‘) einen eigenen Lazarettzug; er erhielt die offizielle Bezeichnung ‚Vereinslazarettzug M.3‘ und war im Februar 1915 fertiggestellt. Hieran beteiligten sich auch die Frankfurt-Loge (vgl. Gut 1928), „seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die bedeutendste jüdische Loge im deutschen Reich“ (Drews-Lehmann 2003: 49), und deren Frauenvereinigung; für den Frankfurter jüdischen Schwesternverein richteten sie sogar ein eigenes mobiles Lazarett ein: sechs neue Wagen mit kompletter Inneneinrichtung für den vom Frankfurter Roten Kreuz betriebenen ‚Frankfurter Lazarettzug P.I‘, die ab 1. März 1915 zum Einsatz kamen (vgl. Rechenschaftsbericht JüdSchwesternvereinFfm 1920: 54-56). Zudem bestand im Logenhaus in der Eschersheimer Landstraße ein Privatlazarett, wo unter der Regie der Logenschwestern (Frauenvereinigung der Loge) verwundete Soldaten betreut wurden. Die beiden Bne-Briss-Lazarettzüge standen der Allgemeinheit zur Verfügung und erhielten staatliche Zuschüsse, für Verpflegung und Versicherung des Zugpersonals sowie die Instandsetzung der Inneneinrichtung kamen die Logen selbst auf.


Für den Frankfurter Lazarettzug P.I waren ein Arzt und zwei Schwestern freigestellt: Dr. Adolf Deutsch und Schwester Ida Holz, zeitweise Emmy Grünebaum, Grete Seligmann, Else Unger sowie der Ersthelfer August Landsberg. Die Fahrt im Lazarettzug barg durchaus Gefahren, da trotz der Rot-Kreuz-Kennzeichnung auf den Wagendächern Fliegerangriffe drohten. Die ersten Reisen führten in die Kriegsgebiete Flandern und Frankreich. In vier Jahren und einem Monat wurden insgesamt 147 Transporte im Westen und im Osten bewältigt, 177.000 Kilometer zurückgelegt, fast 30.000 Menschen befördert. Ida Holz, eine Veteranin der jüdischen Kriegskrankenpflege, „blieb bis zur letzten Fahrt des Zuges am 31. Dezember 1918, also etwa drei Jahre […] in dessen Dienst. […]. Über die vorzügliche dienstliche und außerdienstliche Bewährung der Schwestern, besonders der Schwester Ida, hatten wir wiederholt Gelegenheit, die lobendsten Äußerungen von militärischen und ärztlichen Vorgesetzten (Major von der Marwitz, Sanitätsrat Dr. Werthmann) zu hören“ (zit. n. ebd.: 55).

Gedenktafel: Ehrentafel für die Schwesternschaft des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main, um 1918.
Ehrentafel für die Schwesternschaft des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main, um 1918 Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main
Rechenschaftsbericht für die Jahre 1913-1919. Frankfurt a.M. 1920, S. 164

Im Dezember 1918 war der Kriegspflegedienst auch für die Frankfurter jüdischen Krankenschwestern offiziell beendet. Sie hatten sich bewährt: „49 Schwestern erhielten im ganzen 78 Auszeichnungen, die meisten die Rote-Kreuz-Medaille III. Kl., einige auch II. Kl. und die Frankfurter Schwesternmedaille“ (zit. n. ebd.: 56). Die Verwaltung des Frankfurter Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen stiftete für das Schwesternhaus eine Ehrentafel mit der Inschrift: „Den Schwestern zum Gedenken treuer Pflichterfüllung in langen schweren Kriegsjahren“ (zit. n. Steppe 1997: 219).
Doch mussten sich insbesondere die Frontschwestern nach ihrer Rückkehr aus dem verlorenen Krieg in einen krisenhaften Alltag hineinfinden. Anders als ihre christlichen Kolleginnen waren sie zudem einem wiedererstarkenden Antisemitismus ausgesetzt – eine bittere Enttäuschung angesichts ihres entbehrungsreichen und aufopfernden Dienstes für Deutschland. Zugleich erlebten auch viele jüdische Krankenschwestern das Kriegsende „als tiefe Niederlage“, die Novemberrevolution 1918 „als fürchterliche Zeit“ (ebd.: 220). Hier zeigt sich einmal mehr ihre patriotische Einstellung. Andererseits hieß es im Rechenschaftsbericht des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins: „Ob uns Erfolge beschieden waren, inmitten einer Welt alter und neuer Vorurteile und Gehässigkeiten, wissen wir nicht“ (zit. n. Rechenschaftsbericht JüdSchwesternvereinFfm 1920: 57). Diese Aussage bezog sich gewiss auch auf die nachhaltige Wirkung der antisemitischen „Judenzählung“ des Kriegsministeriums im November 1916 auf die jüdischen Gemeinden (hierzu Rosenthal 2007). Nur anderthalb Jahrzehnte später waren alle jüdischen Bemühungen und Verdienste um Deutschland vergessen.

‚Veteraninnen‘ der Frankfurter jüdischen Kriegskrankenpflege in der NS-Zeit
Hinsichtlich der Aufarbeitung der deutsch-jüdischen Kriegskrankenpflege sind vorerst lediglich Hinweise auf die Lebenswege ehemaliger Frontschwestern unter dem Nationalsozialismus möglich (vgl. z.B. Ulmer 2009; Seemann/Bönisch 2013); in der Regel gehörten die Pflegenden den Alterskohorten zwischen 1860 und 1895 an. Minna Hirsch, die erste Oberin des Frankfurter jüdischen Krankenhauses und Schwesternvereins, musste die NS-Zeit noch miterleben. Doch entging sie durch ihren Tod am 27. April 1938 mit 77 Jahren Vertreibung und Emigration, den Novemberpogromen 1938, den Deportationen und der Schoah, die so viele ihrer Kolleginnen und Kollegen trafen. Recht gut dokumentiert ist die Lebensgeschichte der bislang einzigen namentlich bekannten Zionistin im Frankfurter jüdischen Schwesternverein, der Operationsschwester Beate Berger: Die spätere Leiterin des Berliner jüdischen Kinderheims Beit Ahawah rettete viele ihrer Schützlinge aus NS-Deutschland in das damalige Palästina. Auch Minna Hirschs Nachfolgerin als Oberin der Frankfurter jüdischen Schwesternvereins, Sara Adelsheimer, wie Beate Berger während des Ersten Weltkriegs in Bulgarien, erreichte Eretz Israel und starb in den 1960er Jahren in Tel Aviv. Nach Amerika flüchtete Frontschwester Irma Vorenberg aus Reinheim bei Darmstadt (ob sie Mitglied des Frankfurter jüdischen Schwesternhauses war, ist bislang unbekannt), welche sich noch im Sommer 1935 „unter den wenigen jüdischen Frauen“ befand, „die das Kriegsehrenkreuz erhielten“; sie war „die Gattin des Herrn Bernh.[ard] Vorenberg, welcher als Frontkämpfer ebenfalls dasselbe besitzt“ (zit. n. Der Israelit 76 (13.06.1935) 24, S. 11). Was geschah, wenn die Emigration scheiterte, zeigt das tragische Beispiel der Käthe Mariam. Dass sie, obwohl verheiratet und Mutter eines kleinen Sohnes, sich gleich zu Kriegsbeginn gemeinsam mit anderen ehemaligen Frankfurter jüdischen Kolleginnen zum Dienst bei Krankenhaus und Schwesternverein gemeldet hatte, spielte in der NS-Zeit keine Rolle mehr. Flugangst hinderte sie in letzter Minute an der Flucht, sie geriet in die Fänge ihrer Verfolger, die sie nach Litauen deportierten und am 25. November 1941 im Lager Fort IX in Kowno (Kaunas) ermordeten. Im Exil warteten vergeblich Ehemann, Sohn und Tochter.

Dr. Käthe Neumark: Krankenschwester, Kinderärztin, Sanitätsoffizierin, Emigrantin
Die vertriebenen deutsch-jüdischen Krankenschwestern und -pfleger waren dem organisierten NS-Massenmord entkommen, aber im Aufnahmeland häufig völlig auf sich allein gestellt. Sie mussten sich unter großen Anstrengungen eine neue Existenz aufbauen. Viele Lebenswege liegen noch im Dunkeln. Während die meisten Pflegenden nach England und Amerika flüchteten, verschlug es Dr. Käthe Neumark in die Niederlande. Die ungewöhnliche berufliche Biographie der Krankenschwester und Kinderärztin – sie war eine der ersten Frankfurter Schulärztinnen und gehört zu den ersten weiblichen Sanitätsoffizieren Deutschlands – soll hier abschließend kurz vorgestellt werden.
1871 im ostfriesischen Emden als Tochter eines Kaufmanns geboren, pflegte Käthe Neumark ihre Eltern bis zu deren Tod. Sie zog nach Frankfurt am Main und erlernte dort seit August 1897 den Beruf der Krankenschwester, danach ging sie in die Privatpflege. Im Februar 1902 verließ sie den Frankfurter jüdischen Schwesternverein mit dem Ziel, ihre unterbrochene Schulausbildung fortzusetzen und Medizin zu studieren. 1910 promovierte sie an der Universität München über Diabetes insipidus (umgangssprachlich: ‚Wasserharnruhr‘). Seit 1912 praktizierte sie in Frankfurt – mit kriegsbedingten Unterbrechungen – als Kinderärztin.
Dem Frankfurter jüdischen Schwesternverein fühlte sich Käthe Neumark weiterhin verbunden. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs stellte sie sich dem Schwesternhaus-Lazarett als Ärztin zur Verfügung – in dieser Funktion die einzige Frau: „Für Aushilfe und Vertretung des leitenden Arztes [Dr. Adolf Deutsch, d.V.] sowie für Assistenz bei Operationen sind wir zu großem Dank verpflichtet: Fräulein Dr. Käte [sic!] Neumark, den Herren Sanitätsrat Dr. Rudolf Oehler, Dr. Otto Victor Müller, Dr. M. Witebsky, Dr. Arthur Marum, Dr. Max Jüngster, Dr. Fritz Ansbacher“ (zit. n. Rechenschaftsbericht JüdSchwesternvereinFfm 1920: 33). Den Status eines Sanitätsoffiziers erhielt Käthe Neumark aber nicht in Frankfurt, sondern während ihres nachfolgenden Lazarettdienstes in Halle a.d. Saale (vgl. Bleker/Schleiermacher 2000: 78; Koch 2008: 24, Anm. 58; Dokumentation Ärztinnen 2013). Danach kehrte sie wieder nach Frankfurt zurück. Ihre erfolgreiche Tätigkeit als Kinderärztin und städtische Schulärztin im Nebenamt endete mit der NS-Machtübernahme. Nach dem antisemitischen Entzug der Kassenzulassung emigrierte sie in die Niederlande.

Zeitungsinserat: Anzeige der Kinderpension Dr. Käthe Neumark (Zandvoort, Niederlande).
Anzeige der Kinderpension Dr. Käthe Neumark (Zandvoort, Niederlande)
Nachweis: Frankfurter Israelitisches Gemeindeblatt 11 (1933) 12, August, S. 340

Im Nordseebad Zandvoort unweit von Amsterdam eröffnete Dr. Käthe Neumark Anfang September 1933 eine Kinderpension (vorher: Kinderheim Hiegentlich). Das jüdisch geführte Haus stand unter der religiösen Aufsicht des Oberrabbiners von Nordholland, Abraham ben Samson ha-Kohen Onderwijzer.

Nach einer Zwischenstation in der Oosterparkstraat – dort verbrachten 1934 nach bisherigem Kenntnisstand auch Anne Frank und ihre Schwester Margot einige Sommerwochen – leitete Dr. Käthe Neumark die Kinderpension in der Brederodestraat 35.

Von der Kinderpension waren es nur wenige Gehminuten zum nahen Nordseestrand. Die idyllische Lage des niederländischen Badeorts Zandvoort soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um ein erzwungenes Exil handelte: Käthe Neumark war und blieb eine vertriebene Frankfurterin. Am 30. Mai 1939 wurde sie in Zandvoort „tot aufgefunden“ (zit. n. Seidler 2007: 263). Die nationalsozialistische Besetzung der Niederlande nur ein Jahr später und die Deportationen der jüdischen Bevölkerung blieben ihr erspart.

Fotografie: Dr. Käthe Neumark, Exilort Zandvoort/Niederlande, Kinderpension, Brederodestraat 35, Juni 2014.
Dr. Käthe Neumark, Exilort Zandvoort/Niederlande, Kinderpension, Brederodestraat 35, Juni 2014
© 02.06.2014 by Dr. Birgit Seemann
Fotografie: Dr. Käthe Neumark, Exilort Zandvoort/Niederlande, Blick auf die Nordsee, Juni 2014.
Dr. Käthe Neumark, Exilort Zandvoort/Niederlande, Blick auf die Nordsee, Juni 2014
© 02.06.2014 by Dr. Birgit Seemann

Die Autorin dankt Michael Berger (Bund jüdischer Soldaten (RjF) e.V.), Dr. Gabriela Betz (Historisches Museum Frankfurt a.M.), Franziska Schumacher, (Historisches Archiv Halberstadt) und Jim G. Tobias (Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts e.V.) für weiterführende Informationen.

Birgit Seemann, 2014, aktualisiert 2016

Unveröffentlichte Quellen


HMF: Historisches Museum Frankfurt am Main (Vgl. Hoffmann u.a. (Bearb.) 1976: Inventarkatalog, S. 179-559)

ISG Ffm: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main: Sammlung Ortsgeschichte, S 3/A, Sig. 6747: Der Frankfurter Lazarettzug P.I (1915)

Drews-Lehmann, Maren 2003: Geschichte der Frankfurter Juden im Ersten Weltkrieg. Universität Marburg, Magisterarbeit (ungedr. Ms.)

Seemann, Birgit 2014b: „Der Stadt, dem Vaterlande, der Menschheit zum Segen!“ Das neue Frankfurter jüdische Schwesternhaus und der Erste Weltkrieg. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, Veranstaltung: Jüdische Pflege in Frankfurt: 100 Jahre Jüdisches Kranken- und Schwestern-Haus, Jüdisches Gemeindezentrum Frankfurt a.M.

Literatur


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Berger, Michael/ Römer-Hillebrecht, Gideon (Hg.) 2012: Jüdische Soldaten – Jüdischer Widerstand in Deutschland und Frankreich. Paderborn u.a.

Bleker, Johanna/ Schleiermacher, Sabine 2000: Ärztinnen aus dem Kaiserreich. Lebensläufe einer Generation. Dr. nach Typoskr. Weinheim

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Frauenvereinigung Frankfurt-Loge 1915: Elfter Jahresbericht der Frauenvereinigung der Frankfurt-Loge für 1914–1915. Frankfurt a.M. [1915] – Online-Ausg.: Universitätsbibliothek JCS Frankfurt am Main, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:30:1-307748

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Seemann, Birgit/ Bönisch, Edgar 2013: Jüdische Pflegegeschichte im Nationalsozialismus am Beispiel Frankfurt am Main. In: Hilde Steppe (Hg.): Krankenpflege im Nationalsozialismus. 10. aktualis. u. erw. Aufl. Frankfurt a.M.: 257-265

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Steer, Martina 2014: Patriotismus, Frauensolidarität und jüdische Identität. Der Jüdische Frauenbund im Ersten Weltkrieg. In: Tobias/Schlichting (Hg.) 2014: 59-72

Steppe, Hilde 1997: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre …“. Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt a.M.

Steppe, Hilde 1997a: Jüdische Krankenpflege im ersten Weltkrieg. In: ebd.: 128-131

Steppe, Hilde 1997b: Der erste Weltkrieg und das Jahr 1919. In: ebd.: 215-220

Stölzle, Astrid 2013: Kriegskrankenpflege im Ersten Weltkrieg. Das Pflegepersonal der freiwilligen Krankenpflege in den Etappen des Deutschen Kaiserreichs, Stuttgart

Tobias, Jim G./ Schlichting, Nicola 2014: „… nichts als hingebungsvolle Liebe zum so schwerbedrohten Deutschtume“. Das erste Kriegsjahr im Spiegel jüdischer Zeitungen. In: dies. (Hg.) 2014: 31-45

Tobias, Jim G./ Schlichting, Nicola (Hg.) 2014: nurinst – Jahrbuch 2014. Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte. Schwerpunktthema: Davidstern und Eisernes Kreuz – Juden im Ersten Weltkrieg. Im Auftrag des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts hg. Nürnberg

Ulmer, Eva-Maria 2009: Krankenpflege als Beruf jüdischer Frauen und die Ausübung der beruflichen Krankenpflege im Exil, in: Feustel, Adriane u.a. (Hg.): Die Vertreibung des Sozialen. München: 152-163

Diphtherie und ihre Behandlung im 20. Jahrhundert

Verbreitung der Diphtherie vor 1945 in Deutschland und in Frankfurt am Main
Die durch Tröpfcheninfektion übertragene Diphtherie zählte im 19. Jahrhundert zu den „großen Killern“ bei Kindern (Süß 2003: 215). Gegen die epidemisch auftretende Krankheit entwickelte Emil von Behring einen Impfstoff, der jedoch zunächst teuer und unzuverlässig war. In den 1920er Jahren kam die letzte große Krankheitswelle in Schüben und in regionalen Epidemiezentren auftretend von Skandinavien nach Deutschland. 1926 erkrankten ca. 30.000, 1938 ca. 150.000 und 1943 ca. 300.000 Menschen. Der Zweite Weltkrieg begünstigte die Ausbreitung, da die Abwehrkräfte der Menschen geschwächt waren und viele Menschen sich in kleinen Räumen – wie in Luftschutzräumen – drängten.

In Frankfurt am Main kam es 1930 mit 783 und 1940 mit 1.703 Diphtheriepatienten zu Erkrankungsspitzen, wobei davon 1930 laut Statistik 50 und 1940 mindestens 64 Menschen starben. Der Hanauer Arzt Friedrich Blendin beschrieb 1948 verschiedene Faktoren, welche die Diphtherie in Frankfurt beeinflussten. Er stellte für die Verteilung nach Geschlechtern keinen großen Unterschied fest. Jahreszeitlich gesehen konnte Blendin einen deutlichen Anstieg der Fälle im Spätherbst und Winter registrieren, was durch stärkeres Zusammensein auf Grund der Kälte oder der stärkeren Virulenz der Erreger begründet sein konnte. Für die statistische Verteilung auf Altersgruppen stellte Blendin fest, dass in den Jahren 1925 bis 1927 die Kleinkinder zwischen 0 und 5 Jahren etwa ein Drittel der Krankheitsfälle ausmachten und damit den größten Anteil der Erkrankten stellten. Danach war die größte Krankheitsgruppe die der 5- bis 10-jährigen.

Isolation zur Bekämpfung der Diphtherie
Es gab unterschiedliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Seuchen, von denen die Isolation die Wichtigste war. Die Straßburger Wissenschaftler Ernst Levy und Sidney Wolf wiesen 1899 darauf hin, dass bereits in der Hebräischen Bibel die mosaische Gesetzgebung eine Isolierung bei Infektionskrankheiten vorsah. Robert Koch bezeichnete die Isolierung Kranker und krankheitsverdächtiger Personen in der Familie bzw. im Krankenhaus als die „beste und schärfste Waffe im Kampf gegen die ansteckenden Krankheiten“ (Süß 2003: 217). Rechtlich war eine Einweisung zur Isolation, die einen Eingriff in die persönliche Freiheit bedeutete, im Reichsseuchengesetz vom 30.6.1900 abgesichert worden.

Der Notwendigkeit der Isolation trug man in Frankfurt bei Neubauten im jüdischen Krankenhauswesen Rechnung. 1914 war das Hospital der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main in der Königswarter Straße zu klein geworden, so dass ein großer Krankenhauskomplex in der Gagernstraße neu erbaut wurde. Für die Patientinnen und Patienten gab es im neuen Krankenhaus ein eigenes Infektionsgebäude. Es war halbkreisförmig angeordnet, besaß eine vorgelagerte Liegehalle im Erdgeschoss und „verandenartige Tagräume“ (Hanauer 1914: 65) im oberen Geschoss der Liegehalle. Als Eingang war, getrennt für Ärzte und Patienten, eine Schleusenanlage eingerichtet worden. Jede der vier Abteilungen des Infektionsgebäudes hatte ein Schwesternzimmer mit besonderem Bad und weitere Nebenräume wie Teeküche, Toilette, Kindertoilette und Ausguss. Die Türen hatten Klappen, durch die man die Patienten beobachten konnte, ohne selbst die Räume betreten zu müssen. Die Wände waren mit Ölfarbe gestrichen oder gekalkt, um sie besser reinigen zu können. Die Schmutzwäsche konnte man über ein Röhrensystem direkt in Desinfektionslösung gleiten lassen. Ein kleines Labor gab es ebenfalls (vgl. Hanauer 1914).

Auch im Jahr 1914 errichtete der Frankfurter Verein für jüdische Krankenpflegerinnen neben dem Krankenhaus, in der Bornheimer Landwehr, ein neues Schwesternheim. Hier hatte man, um den besonderen Anforderungen der Isolation an das Pflegepersonal gerecht zu werden, zwei abgetrennte Zimmer eingerichtet. Sie waren mit jeweils eigenem Gaskochherd, Bad, Toilette und Haustelefon ausgestattet. So wurde die Ansteckungsgefahr gegenüber den anderen Schwestern eingedämmt, und die betreuenden Schwestern der Isolationsabteilung blieben in ihrem Arbeitsrhythmus ungestört.

Pflegesituation
Der Tropenmediziner und spätere Chefarzt der Infektiologie an der Charité in Berlin F. O. Höring beschrieb 1952 die besonderen Schwierigkeiten, denen das Pflegepersonal in Isolationsstationen ausgesetzt war. Da die Patientinnen und Patienten mit Infektionskrankheiten meist sehr schwer krank waren, aber schnell genasen und trotzdem weiter isoliert leben mussten, fühlten sie sich eingeengt. Die einzige Kontaktperson war die Pflegeperson, die sowohl Nähe als auch Distanz vermittelte, da sie Wünsche erfüllen und den Kontakt zu den Verwandten herstellen konnte, aber auch auf die Einhaltung der Gebote achtete: Besuchsverbot und Desinfektionsmaßnahmen bei Ausscheidungen, Gebrauchsgegenständen und Kleidung. Die Vermeidung von Berührungen verstärkte die Distanz. „Die Schwester sendet so ständig Signale der Zuneigung und der Ablehnung.“ (Höring 1952: 10) Ein weiteres Problem sah Höring darin, dass die pflegenden Personen, wenn sie lange auf der Station arbeiteten, sich „oft als von rauher Schale erweisen“ (Höring 1952: 10). Gerade durch die lange Verweildauer auf der Station sammelten sie jedoch einen enormen Erfahrungsschatz und waren in der Lage, typische Symptome und Komplikationen bestimmter Krankheiten frühzeitig zu erkennen. Die besondere Gefährdung bei Diphtherie für die Pflegenden war, dass sie immer wieder angesteckt werden konnten ohne zu erkranken, wodurch sie ständig auf Bakterien untersucht werden mussten. Höring sagte zusammenfassend, „daß die Pflege von toxischen Diphtheriefällen wohl den höchsten Einsatz für die Schwester erfordert, dabei ständige, aufmerksame Beobachtung besonders des Kreislaufs [des Patienten] und auch eigene Entschlußkraft zum raschen therapeutischen Eingreifen.“ (Höring 1952: 11)

Edgar Sarton-Saretzki: Ein Patient berichtet aus dem Jahr 1933
Die oben beschriebene Pflegesituation erlebte auch Edgar Sarton-Saretzki, geboren am 10.5.1922 in Limburg/Lahn, der als 11-Jähriger an Diphtherie erkrankte und lange Zeit im Infektionsgebäude des Krankenhauses der Israeltischen Gemeinde in der Gagernstraße verbringen musste. Er erinnert sich intensiv an den einengenden Zwang der Station, den er als Kind, nachdem die Krankheit bereits wieder abgeklungen war, besonders stark empfand: „Als ich 11 oder 12 war, hatte ich Diphtherie und ich war in dem Isolationskrankenhaus, in der Isolationsstation. Bei Diphtherie musste man damals drei Abstriche haben, und ich hatte immer zwei Abstriche [, die negativ waren] und der dritte war immer wieder positiv. D. h. es musste wieder von vorne angefangen werden, obwohl ich vollkommen gesund war.“ Edgar Sarton-Saretzki fühlte sich völlig wieder hergestellt und war deshalb sehr schwer „zu kontrollieren“, wie er sagte. Er erinnert sich, wie er versuchte, sich die Zeit zu vertreiben: „Das war irgendwie an einer Mauer, auf die ich mal geklettert bin. – Wie ich das fertig gekriegt habe, weiß ich nicht mehr, denn es war alles abgeschirmt, und die Leute konnten auch nicht direkt ran. Als meine Eltern mich besucht haben, mussten sie z. B. hinter einem Stacheldraht stehen. – Ich bin also auf die Mauer geklettert, und hinter der Mauer – was war da? Da waren die Särge. Dort wurden die Leute, die gestorben sind, in die Särge verfrachtet. Und der Stationsarzt, ein gewisser Dr. Reiter, der hat mich erwischt. Er war wahnsinnig wütend, und ich musste noch eine Woche ins Bett, ich durfte nicht mehr aufstehen. Er war ganz, ganz böse darüber, dass ich das gesehen habe, das war doch ganz versteckt, hinten in der Ecke, und ich wurde schwer bestraft. Das war eben die Schwierigkeit mit der Diphtherie, dass man diese drei Abstriche machen musste.“ Doch ganz zu bremsen war Edgar Sarton-Saretzki, trotz Isolation und Strafen, nicht: „Ich weiß, dass ich dort wochenlang vollkommen isoliert war, total isoliert. Neben mir aber war ein Mädchen, die Marion David, mit der bin ich später ins Stadionbad zum Schwimmen gegangen, mit der habe ich mich unterhalten, das durfte ich auch nicht. Da war auch eine Barriere, aber man konnte sich abstützen und so rumgucken, aber man musste aufpassen, dass man nicht erwischt wurde.“

Fotografie: Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde / Infektionsgebäude, 1914.
Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde / Infektionsgebäude, 1914
Aus: Festschrift zur Einweihung des neuen Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde zu Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1914

Auf dem nebenstehenden Foto erkennt Herr Sarton-Saretzki die Isolationsstation wieder und deutet auf einzelne Teile des Bildes: „Ja, ja, da war man drin. Da war eine Veranda abgetrennt, und dann war hier ein Gang, der war auch abgetrennt; meine Eltern kamen mich besuchen, die mussten schreien, damit sie sich verständigen konnten. Die Mauer, auf die ich stieg – das weiß ich nicht mehr, wo die war. Ich weiß auch nicht mehr genau, wie lange ich da war, aber es war eine ziemlich lange Zeit.“ Eine weitere Szene, die ihm im Gedächtnis blieb, ist die Situation, als er eine Spritze bekam. „Das war damals ja auch keine einfache Sache, Diphtherie. Ich bekam so eine Spritze [zeigt ca. 25 cm] – so eine Spritze! – das war ein großes Theater, denn Diphtherie war damals eine schwere Krankheit mit sehr hohem Fieber. Und ich erinnere mich heute, dass das ja Pferdeserum war, das war vom Pferd.“1)

Die Empörung über die ausweglose Situation merkt man ihm heute noch an, wenn er sagt: „also was für eine Psychologie, was die geglaubt haben, dass man vollkommen gelähmt sein musste, dass man überhaupt nichts machen durfte. Man durfte mit überhaupt niemandem sprechen. Das ist doch vollkommen unmöglich für ein Kind, aber das haben die praktiziert. Also die waren nur daran interessiert, dass man mit niemandem Kontakt hatte, die hatten Angst, dass sich die Diphtherie ausbreitet.“ Auf eine Rückfrage zum Alltagsleben, z. B. der Verteilung des Essens, sagt er: „Ich weiß nicht mehr wie ich das Essen bekam, mir wurde das Essen geliefert, wie, weiß ich nicht mehr, ob sie mir das hingeschoben haben oder so, aber es gab nur wenige Leute, die Kontakt haben durften. Ich glaube das waren nur Leute, die extra dafür bestellt wurden.“ Resümierend fügt Herr Sarton-Saretzki noch hinzu: „Die haben alle gleich behandelt, glaube ich, ob Kind oder Erwachsenen ist ganz egal.“

Edgar Bönisch, 2011

1) Auch heute noch werden die Immunglobuline, die für die Therapie von Diphtherie notwendig sind, aus Pferdeserum als Ausgangsmaterial gewonnen.

Literatur

Baur, Nicole-Kerstin 2005: Die Diphtherie in medizinisch-geographischer Perspektive. Eine historisch-vergleichende Rekonstruktion von Auftreten und Diffusion. Heidelberg: www.ub.uni-heidelberg.de/archiv/5671 (15.08.2011)

Blendin, Friedrich 1948: Die Diphtherie in Deutschland in den Jahren 1925-1945. Frankfurt/M.

Hanauer, Wilhelm (Hg.) 1914: Festschrift zur Einweihung des neuen Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde zu Frankfurt am Main. Frankfurt/M.

Hess, Bärbel-Jutta 2009: Seuchengesetzgebung in den deutschen Staaten und im Kaiserreich vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Reichsseuchengesetz 1900. Heidelberg: http://archiv.ub.uniheidelberg.de/volltextserver/volltexte/2010/10458/pdf/dissertation_15_02_10.pdf (11.02.2011)

Höring, F. O. 1952: Über die Pflege bei Infektionskrankheiten. In: Deutsche Schwesternzeitung Jg. 5, 1. Heft, S. 10-11

Levy, Ernst und Wolf, Sidney 1899: Specialkrankenhäuser. Sonderkrankenanstalten und Fürsorge für ansteckende Kranke. In: Liebe, Georg; Jacobsohn, Paul; Meyer, Georg (Hg.) Handbuch der Krankenversorgung und Krankenpflege. Berlin

Massar, Kathrin 2005: Nathan Saretzki. In: „Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit“, herausgegeben von Claudia Maurer Zenck und Peter Petersen unter Mitarbeit von Sophie Fetthauer. Hamburg: http://www.lexm.uni-hamburg.de (17.08.2011)

Sarton-Saretzki, Edgar 1997: Auf Sie haben wir gewartet. Hanau

Süß, Winfried 2003: Der „Volkskörper“ im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939 – 1945. München

Verein für Jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt a. M. 1920: Rechenschaftsbericht 1913 bis 1919. Frankfurt/M.

Quelle

Sarton-Saretzki, Edgar; Bönisch, Edgar; Seemann, Birgit 2010: Interview am 18.02.2010 mit Edgar Sarton-Saretzki, Interviewerin und Interviewer: Birgit Seemann und Edgar Bönisch