Die deutsch-jüdische Pflegegeschichte in Straßburg (Elsass), heute Strasbourg, im Osten Frankreichs ist ein bislang unerforschtes pflegehistorisches Thema. Der Artikel beleuchtet erstmals einen Ausschnitt, der zugleich die überregionale Vernetzung und Bedeutung des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main dokumentiert. Von 1911 bis zum Ersten Weltkrieg pflegten im Israelitischen Krankenhaus (Clinique Adassa) Frankfurter jüdische Schwestern unter der Leitung ihrer Oberin Julie Glaser. Auch danach blieben die Schwestern auf ihrem Posten und versorgten in einem großen Straßburger Festungslazarett Schwerverwundete aller Nationen.
Das Israelitische Krankenhaus zu Straßburg (Elsass) / Clinique Adassa de Strasbourg
Am 17. September 1878 errichtete die jüdische Gemeinde zu Straßburg (Strasbourg/ Elsass) das Israelitische Krankenhaus (La Maison de Santé Israélite, später Clinique Adassa) in der Rue de Couples (Kuppelhof). Dort suchten nicht nur jüdische Straßburger/innen Heilung, sondern auch viele Angehörige des elsässischen Landjudentums. „Viele Straßburger sind in der 1878 gegründeten Klinik Adassa geboren“ (Lorey 2014). Wegen des erhöhten Bedarfs zog das Krankenhaus 1885 in einen von Stadtbauinspektor Edouard Roederer konzipierten Neubau am Hagenauer Platz (Place de Haguenau), die feierliche Einweihung fand am 20. Januar 1886 statt. „Die Zahl der Betten für Kranke und Pensionäre beträgt 65. Allen hygienischen Anforderungen ist in ausreichendster Weise Rechnung getragen“ (zit. n. Strassburg 1894: 523).
Das Krankenhaus, die heutige Clinique Adassa (vgl. https://www.clinique-rhena.fr/fr) überlebte als Institution beide Weltkriege und die Shoa; sie ist die einzige jüdische Klinik Frankreichs (Stand 2017) wird der traditionelle Standort in der Rue de Haguenau als eine Stätte jüdischen Lebens vermutlich der Vergangenheit angehören: Im Straßburger Osten entsteht aus Kostengründen das interkonfessionelle Klinikzentrum ‚Rhéna‘, getragen von Adassa (jüdisch), Diaconat (evangelisch) und Sainte Odile (katholisch). „Abstriche müssen die drei Krankenhäuser an der konfessionellen Ausrichtung machen: ‚Wir werden in den Türpfosten keine jüdische Mesusa-Schriftkapsel anbringen und im Krankenzimmer auch kein Kreuz aufhängen‘, so Guillaume Lohr, Generaldirektor der ‚Rhéna-Klinik‘. ‚Die konfessionelle Seite bei der Pflege wird völlig verschwinden.‘ Im Zentrum des Klinikums werde es einen multikonfessionellen Andachtsraum ohne religiöse Symbole geben, der für Christen, Juden und auch Muslime offen sei“ (zit. n. Lorey 2014).
Frankfurter jüdische Krankenschwestern in Straßburg
Um 1910 fanden im Israelitischen Krankenhaus zu Straßburg umfangreiche Modernisierungen statt, die auch die Etablierung einer professionellen Krankenpflege betrafen. Zu der Gründung eines eigenen jüdischen Schwesternvereins kam es indes nicht. Dass sich die dringlichen Anfragen aus Straßburg nach gut ausgebildeten und zugleich deutschsprachigen jüdischen Pflegekräfte an den Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main richteten, dokumentiert dessen Ansehen und Bedeutung in der überregionalen jüdischen Pflege (vgl. auch den Beitrag zu Basel und Davos).
Für die anspruchsvolle Aufgabe des Aufbaus einer modernen Pflege entsandte der Verein am 1. Juli 1911 drei bewährte und tatkräftige Schwestern: Operationsschwester Bertha Schönfeld, Narkoseschwester Rosa Spiero und als Oberin Julie Glaser. Für Bertha Schönfeld und Rosa Spiero – nach der Erinnerung ihrer Frankfurter Kollegin Thea Levinsohn-Wolf zwei „starke Charaktere“, die manchen Disput austrugen (Levinsohn-Wolf 1996: 27) – endete die Straßburger Episode bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Seit Beginn der 1920er Jahre oblag den beiden „Kampfhähnen“ (ebd.) die gemeinsame Verantwortung für den pflegerischen Bereich der Chirurgie des Frankfurter jüdischen Krankenhauses Gagernstraße, Rosa Spiero wurde als Oberschwester Bertha Schönfelds direkte Vorgesetzte.
Das Straßburger Team verstärkten zudem Blondine Brück und Rahel (Recha) Wieseneck. 1909 waren sie zusammen mit zwei weiteren Schülerinnen nach ihrer „Lehrzeit“ von anderthalb Jahren „auf Grund des Reifezeugnisses der ausbildenden Aerzte mit Zustimmung des Schwesternrats in den Schwesterverband [sic] aufgenommen“ worden (JüdSchwVereinFfm 1910: 5). Nach dem Konzept des Verwaltungsausschusses des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins abwechselnd im stationären Dienst des „Königswarter Hospitals“ und in der Privatpflege tätig, verfügten Schwester Blondine und Schwester Recha über reichhaltige berufliche Erfahrung. Weitere ‚Frankfurterinnen‘ im Israelitischen Krankenhaus Straßburg waren die zwischen 1911 und 1914 ausgebildeten Jenny Cahn, Gertrud Glaser, Ricka Levy und Bella Peritz. Als die politischen Verhältnisse sie im November 1918 aus Straßburg vertrieben, kehrten alle Schwestern mit ihrer Oberin Julie Glaser in das Frankfurter jüdische Schwesternhaus zurück, aus dem Ricka Levy kurz darauf ausschied. Bis auf Gertrud Glaser (Privatpflege) pflegten sie im 1914 eingeweihten neuen Krankenhaus Gagernstraße, Blondine Brück stieg zur Oberschwester der Privatabteilung auf. Mitte der 1920er Jahre folgte Julie Glaser der pensionierten Minna Hirsch in das Amt der Oberin des Großkrankenhauses.
„… den Posten, auf dem man uns gestellt“ – Berichte Frankfurter jüdischer Schwestern aus Straßburg im Ersten Weltkrieg
Infolge politischer Umbrüche waren der Frankfurter jüdischen Pflege in Straßburg nur wenige Jahre (1911–1918) beschieden. Zum Zeitpunkt des Aufenthalts der Frankfurter Schwestern gehörte Elsass-Lothringen, nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 durch das neu gegründete Deutschen Kaiserreich annektiert, noch zu Deutschland. Gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 leerte sich das Israelitische Krankenhaus Straßburg, aus dem die Patientinnen und Patienten wegen der befürchteten französischen Rückeroberung in Panik flüchteten. Hingegen blieben Oberin Julie Glaser und die Schwestern Blandine Brück, Jenny Cahn, Gertrud Glaser, Ricka Levy, Bella Peritz und Rahel (Recha) Wieseneck auf ihrem ‚Posten‘: Sie kehrten nicht nach Frankfurt zurück, sondern stellten sich unverzüglich der Kriegskrankenpflege vor Ort zur Verfügung (vgl. Beitrag zu Frankfurter jüdischen Pflegenden im Ersten Weltkrieg; Seemann 2014). Neben Einsätzen in der Etappe organisierten die Schwestern mit Julie Glaser als Lazarett-Oberin die Verwundetenpflege im Festungslazarett XXII B, eingerichtet in einem ehemaligen Lyzeum. „Dieses Lazarett in Straßburg wird bald zum hauptsächlichen Gefangenenlazarett für Verwundete aus Frankreich, Russland, Italien, Rumänien, England und Amerika und besteht bis November 1918“ (Steppe 1997c: 217). Nach dem für Deutschland verlorenen Krieg fiel Elsass-Lothringen wieder an Frankreich. Eine vorausgegangene kurze Episode als unabhängige Republik – verbunden mit Angriffen nationalistischer Elsässer gegen noch verbliebene ‚Reichsdeutsche‘ – endete mit dem Einmarsch französischer Truppen. Als sie am 21. November 1918 Straßburg erreichten, hatten die Frankfurter jüdischen Schwestern die Stadt bereits verlassen. Doch lassen wir sie selbst erzählen.
Schwesternbericht (Verfasserin unbekannt, zit. n. JüdSchwVereinFfm 1920: 38-39)
Uns Schwestern traf die Nachricht vom Krieg überraschend und niederschmetternd. Schwester Oberin war noch auf Urlaub. In Straßburg herrschte die größte Erregung. Niemand dort zweifelte, daß die Stadt in den nächsten Tagen von den Franzosen besetzt oder mindestens eingeschlossen und belagert würde. Das bis auf das letzte Bett besetzte Krankenhaus entleerte sich in wenigen Stunden. Die meist aus der Umgebung stammenden Kranken wurden, selbst in schwersten Zuständen, von den kopflosen Angehörigen nach Hause abgeholt. Uns Schwestern fragte der Krankenhausarzt, Herr Dr. Bloch, ob wir nicht nach Frankfurt abreisen wollten, oder was wir sonst beabsichtigten. Aber wir erklärten ihm einstimmig, daß wir den Posten, auf dem man uns gestellt, nicht verlassen würden. Bald darauf kam noch die Depesche aus Frankfurt, die uns die gleichlautende Anordnung des Mutterhauses brachte. Dann waren wir von Frankfurt abgeschlossen. Von unserem Verein wie von unseren Angehörigen hörten wir lange nichts mehr.
Unser Krankenhaus war inzwischen von seinem Vorstande der Militärbehörde zur Verfügung gestellt worden. Die nächsten Tage verbrachten wir voller Ungeduld damit, das Haus zum Lazarett herzurichten, es durch Aufstellung neuer Betten in den Korridoren und allen sonst verwendbaren Räumen zu vergrößern, Wäsche und Verbandzeug herzustellen und andere Vorbereitungen zur Aufnahme der Verwundeten zu treffen. Als aber die Belegung immer wieder ausblieb (wie wir hörten, weil das Haus der Behörde zu klein war), konnten wir das Nichtstun, wo andere überlastet waren, nicht länger ertragen und meldeten uns mit Zustimmung des Krankenhaus-Vorstandes persönlich beim Roten Kreuz. Wir wurden freundlich aufgenommen und schon am nächsten Tag von Dr. Ducroix, dem Chirurgen unseres Krankenhauses, angefragt, ob wir mit in die Vogesen fahren wollten, um bei Verwundetentransporten zu helfen. Dann sollten wir in dem ihm als Chefarzt übertragenen Festungslazarett im Lyzeum die Pflege übernehmen. Wir sagten freudig zu.
Am 17. August fuhren wir mit zwei Autos vom Krankenhaus ab. In einem der Stabsarzt, ein Chirurg, ein Apotheker, das Sanitätspersonal und die Schwestern; im anderen Verbandmaterial und Instrumente. In rasender Fahrt ging es nach dem Verbandplatz Hohwald bei Saarburg. Dort hatte am Tage ein Gefecht stattgefunden. Die Verwundeten mußten von der Höhe herunter nach dem Verbandplatz gebracht werden, einem Gasthaus mit vielen geräumigen Zimmern. Da der Wirt sich geweigert hatte, die Türen zu öffnen und Wasser und Seife herzugeben, wurde mit Gewalt vorgegangen. Deutsche und Franzosen harrten der ersten Hilfe, viele starben bereits auf dem Transport. Mit Mühe wurden die Schwerverwundeten in Zimmern und Gängen geborgen. Die Verbundenen wurden auf Leiterwagen nach der ersten Bahnstation gefahren, in den bereitstehenden Güterzug eingeladen und nach Straßburg verbracht. Leider war es nicht möglich, alle Verwundeten mitzunehmen, da morgens um fünf Uhr der Wiederanmarsch der Franzosen gemeldet wurde und das Feld geräumt werden mußte. Am 18. und 19. August waren wieder zwei von uns in den Vogesen und brachten 200 Schwerverwundete mit.“
Bericht von Oberin Julie Glaser (zit. n. JüdSchwVereinFfm 1920: 39-40)
Als ich, nachts um zwei Uhr angekommen, nach dem Lyzeum kam, war alles eifrig beschäftigt, 500 Verwundete in dem halbfertig eingerichteten Gebäude unterzubringen. Unser Chefarzt mußte mit einem Hilfsarzt für diese alle sorgen. Es wurde fieberhaft gearbeitet, operiert und verbunden, durchschnittlich blieben uns nur vier bis fünf Stunden Schlaf. Trotzdem kamen wir über diese schwerste Zeit mit ihrer aufreibenden Tätigkeit gut hinweg. Die Schwestern gaben überall ihr Bestes; an den vielen Helferinnen hatten wir nur geringe Stütze. Anfangs waren im Lazarett nur Deutsche und Franzosen, bald wurde es ein Gefangenenlazarett. Wir hatten durchschnittlich 250 Deutsche und 300 Gefangene, die sich aus Franzosen, Russen, Italienern, Rumänen, Engländern und Amerikanern zusammensetzten. Im Operationssaal konnte man beim Verbinden die interessantesten Völkerstudien machen; am besten schnitten unstreitig die Amerikaner ab.
Und so verging Jahr um Jahr, das uns viel Arbeit, aber auch viel Befriedigung brachte. Wir lebten im schönsten Einvernehmen mit unseren Ärzten; unsere Verwundeten, besonders auch die Elsässer, waren des Lobes und Dankes voll.Wie rasch kam der Umschwung! Schon im August 1918 brachten uns die Amerikaner die traurige Kunde, daß wir verlieren würden. Wir lachten sie aus und blieben voller Zuversicht. Sie behielten recht. Es kam die fürchterliche Zeit der Revolution und mit ihr zeigte sich der ungeheure Haß im Elsaß gegen alles, was deutsch war. Wir durften uns nicht mehr auf der Straße blicken lassen, wir waren verfehmt. Im Lazarett herrschte keine Disziplin mehr, der Chefarzt wurde abgesetzt und ein Schreiber rückte an seine Stelle. Die Kleiderkammer wurde von den elässischen Verwundeten ausgeplündert; für die Deutschen blieb ein Rest. Wir sahen ein, daß unseres Bleibens nicht mehr war. In der Nacht vom 15. bis 16. November erging der Befehl, alle deutschen Verwundeten aus Straßburg nach Baden zu schaffen; das deutsche Sanitätspersonal schloß sich an. Am 16. November schnürten wir traurigen Herzens unser Bündel; Amerikaner und Engländer erwiesen uns den Liebesdienst, unser Gepäck an die Bahn zu bringen! Als Vertriebene zogen wir zum großen Tor hinaus, aus dem Hause, in dem wir 4 1/2 Jahre unser Bestes gegeben hatten. Wir erreichten noch den letzten Zug, der von Straßburg nach Frankfurt fuhr, unser treuer Stabsarzt gab uns das Geleite.
Bald lag die wunderschöne Stadt hinter uns. Noch ein letzter Gruß des unvergeßlichen Münsters, und hinein ging’s in den dichten Novembernebel, des Vaterlandes grauer Zukunft entgegen.“
Ausblick
Wie bereits Hilde Steppes Standardwerk über die deutsch-jüdische Krankenpflege (vgl. Steppe 1997) dokumentiert hat, ist die Quellenlage für einzelne jüdische Schwesternvereine und -stationen lückenhaft. Dieser Befund trifft auch auf Metz in Lothringen zu, wo anders als in Straßburg sogar ein deutsch-jüdischer Schwesternverein bestand, der vermutlich vor 1908 gegründet wurde (vgl. ebd.: 113). Wie die Standortkarte zeigt, gilt es noch manche Forschungslücken jüdischer Pflegegeschichte zu schließen und dabei Biografien, Institutionen und Stätten jüdischen Lebens und Wirkens zu entdecken. Die Spurensuche geht weiter.
Birgit Seemann, 2015, updated 2017