Die Sozialgeschichte der jüdischen Kranken-, Alten- und Kinderpflege umfasst auch die Sanatorien und Erholungsheime. Viele jüdische Frankfurterinnen und Frankfurter begaben sich in die benachbarten Kurorte Südhessens: nach Bad Homburg, Bad Nauheim, Bad Soden, Oberursel/Oberstedten oder auch Königstein mit dem bekannten Sanatorium Dr. Kohnstamm. Die jüdische Medizin-, Pflege- und Patientengeschichte ist Teil der lokalen Erfolgsstory dieser bekannten Kurstätten, die aber trotzdem nicht frei von von „Bäder-Antisemitismus“ (Bajohr 2003) waren. Vorgestellt werden drei Sanatorien als einstige Stätten jüdischen Lebens in Bad Homburg, einer Stadt im Taunus, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem international bekannten Kurort aufstieg (vgl. Baeumerth 1982; Schweiblmeier 2014).
Die Anfänge: Bad Homburg als Ort der Begegnung des west- und osteuropäischen Judentums
In Bad Homburg vor der Höhe (bis 1912: Homburg) lebte bis zur Schoah eine jüdische Gemeinde, von deren vielfältigem kulturellen und sozialen Engagement auch die ehrenamtlichen Institutionen der Krankenpflege zeugen (vgl. Alemannia Judaica (Bad Homburg)):
– die 1774 (vgl. Grosche 1991: 27) gegründete Israelitische Männerkrankenkasse, auch Männer-Kranken-Institut genannt, welche noch 1932 mit 52 Mitgliedern bestand;
– die 1792 (vgl. ebd.) als Israelitischer Frauenverein (Chewrat Naschim, 1864: 97 Mitglieder) gegründete Israelitische Frauenkrankenkasse, auch Frauen-Kranken-Institut genannt, dessen langjährige Vorsitzende Jakobine Wiesenthal (gest. 1921) war;
– der Wohltätigkeitsverein Chewrat Gemillus Chassodim (1864: 27, 1932: 40 Mitglieder), der sich ebenfalls um Krankenpflege und Bestattungswesen kümmerte;
– der Krankenhilfsverein Chewrat Bikkur Cholim (1864: 49 Mitglieder).
Hinzu kamen jüdische Kurgäste aus aller Welt. Am 15. August 1853 meldete die Allgemeine Zeitung des Judentums: „Die hiesige Badesäson reicht auch dieses Jahr wieder glänzende Früchte, und ist die Zahl der Kurgäste in der Kurliste schon über 4500 gestiegen. […] fast noch nie hat man so viel Israeliten, und das sämmtlich sehr reiche Familien, hier bemerkt, der größte Theil kommt aus der Pfalz, dem Elsaß und Holland. Man kann behaupten, daß immer unter den Anwesenden der dritte Theil Juden sind“ (Anonym. 1853: 421 [Hervorheb.i.Orig.]). Vor der NS-Zeit war Bad Homburg – als international bekannter Kurort und als Zuflucht für antisemitisch verfolgte Flüchtlinge – auch eine Wirkungsstätte des osteuropäischen Judentums. Unter den prominenten ostjüdisch geprägten Kurgästen befanden sich, um nur einige zu nennen, der Bildhauer Markus Antokolsky, der Elektrophysiker Hermann Aron, David Wolffsohn (Nachfolger von Theodor Herzl als Präsident der Zionistischen Weltorganisation) und der Religions- und Sozialphilosoph Martin Buber. Letzterer hatte Kontakt zu dem Bad Homburger jüdischen Gelehrtenkreis (1921–1925) um die Verlegerin Shoshana Persitz und den hebräischen Schriftsteller und späteren Nobelpreisträger Samuel Agnon.
Die traditionsreiche Geschichte der Bad Homburger jüdischen Gemeinde, der angesehene Rabbiner wie Seligmann Fromm (Großvater des Sozialphilosophen Erich Fromm) und Dr. Heymann Kottek vorstanden, lässt sich bei Yitzhak Sophoni Herz (1981), dem Enkel des letzten Bad Homburger Kantors, dem Lokalhistoriker Heinz Grosche (1991) sowie auf der Website Alemannia Judaica (Bad Homburg) nachlesen. Die Vielfalt im Judentum spiegelt sich in den Biographien der Begründer der drei Sanatorien Dr. Pariser, Dr. Goldschmidt und Dr. Rosenthal wider: So steht Dr. Curt Pariser für das vorwiegend säkularisiert-liberale westliche Judentum und soll darüber hinaus nur selten die Bad Homburger Synagoge besucht haben; als langjähriges tragendes Mitglied des ‚Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens‘ bekämpfte er den Judenhass. Seine Arztkollegen Dr. Siegfried Goldschmidt und Dr. Abraham Rosenthal, die gutnachbarliche Beziehungen pflegten, blieben hingegen dem orthodoxen Judentum verbunden, das ihnen die Kraft zur Selbstbehauptung gegen antisemitische Anfeindungen gab.
Vom Sanatorium Dr. Pariser (Clara Emilia) zur Paul-Ehrlich-Klinik
Um 1900 gab der Gastroenterologe und Diätarzt Dr. Curt Pariser seine Praxis in Berlin auf und eröffnete in der Kurmetropole Bad Homburg, Landgrafenstraße 6, ein Sanatorium, das er nach seiner Mutter ‚Clara Emilia‘ benannte. Um 1919 bestand das Sanatorium Dr. Pariser „aus zwei Häuserkomplexen, dem ‚Haupthaus‘, der ‚kleinen Villa‘, dem ‚Aerztehaus‘ und dem ‚Neubau 1914‘ einerseits und dem in den Jahren 1904 und 1906 erstellten ‚Weißen Haus‘. Ein 20 Meter langer, gefälliger gedeckter Wandelgang verbindet beide Gebäudegruppen zu einem harmonischen Ganzen“ (StA HG: Sanatorium Dr. Pariser, Kurprospekt). Die mit einem eigenen Laboratorium für Röntgendiagnostik ausgestattete Kurklinik war auf Magen-Darm-Erkrankungen sowie Ess- und Stoffwechselstörungen spezialisiert. Darunter fiel die Behandlung von Zivilisationskrankheiten wie Adipositas (umgangssprachlich: Fettsucht), Anorexie (Magersucht) und Bulimie (Ess-Brech-Sucht): „[…] außer lokalen Magen-, Darm-, Leber- und Gallengangsleiden […]: Allgemeine Unterernährung (Mastkuren), Blutarmut, nervöse Abspannung, Fettsucht (Entfettungskuren), Diabetes, Gicht, Affektionen des Herzens und des Gefäßsystems“ (zit. n. ebd. [Hervorheb. im Orig.]).Viele Kurgäste reisten nicht nur aus Berlin und dem nahen Frankfurt an, sondern auch aus dem Zarenreich, weshalb Dr. Pariser und sein Co-Direktor Dr. Benno Latz zwei russischsprachige Assistenzärzte beschäftigten; möglicherweise sprachen einige Pflegekräfte (über die bislang keine Informationen vorliegen) ebenfalls Russisch. Zum Renommee seines Hauses wie der Stadt Bad Homburg trug bei, dass sich Curt Pariser als Mitschöpfer der überregional bekannten ‚Homburger Diät‘ einen Namen machte (vgl. Pariser 1931; ders./Roemheld 1933; siehe auch Pariser 1927). 1914 war er als Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten wesentlich daran beteiligt, dass deren erste Jahrestagung in Bad Homburg stattfand (vgl. Jenss u.a. 2013: 24; siehe auch Rieber 2016).
Curt Parisers Verdienste um Bad Homburg verloren nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg offenbar an Bedeutung, zumal der Judenhass wieder aufflammte. Zwar wurde er am 2. März 1919 als Mitglied der linksliberalen DDP (Deutsche Demokratische Partei, von Antisemiten als ‚Judenpartei‘ diffamiert) zum Bad Homburger Stadtverordneten gewählt, geriet aber bald in Schwierigkeiten: In seinem Sanatorium beschlagnahmte der vorübergehend einflussreiche ‚Revolutionäre Arbeiterrat‘ Nahrungsmittel, die Dr. Pariser angeblich für seine Kurgäste ‚gehortet‘ hatte – was in diesen Tagen als „illegaler Schleichhandel“ (Grosche 1991: 36) galt. Wiederholt warnte der geachtete und bekannte Kurarzt vor antisemitischen Hetzkampagnen, die sich auch gegen osteuropäisch-jüdische Flüchtlinge richteten. Zudem machte ihm die Nachkriegsinflation finanziell zu schaffen. Im April 1920 legte er sein Mandat nieder, im Herbst 1920 schloss er sein vom Konkurs bedrohtes Lebenswerk, das Sanatorium. Dr. Pariser verließ Bad Homburg und wurde leitender Arzt am Sanatorium Woltersdorfer Schleuse bei Berlin. Von 1926 bis 1929 praktizierte er in Bad Harzburg (Niedersachsen) in der dem Hotel Kaiserhof angeschlossenen ‚Diätetischen Kurabteilung für Magen-, Darm-, Herz-, Nieren-, Zucker- und Stoffwechselkranke‘ (Auskunft von Dr. med. Harro Jenss, Email v. 25.09.2014). 1931 verstarb Dr. Curt Pariser mit 78 Jahren in Berlin, seine Grabstätte ist bislang unbekannt. An dieser Stelle sei noch erwähnt, dass sich seine geschiedene Frau zehn Jahre später, am 20. November 1941, unter der nationalsozialistischen Verfolgung das Leben nahm; das Grab von Else Pariser, den Gästen des Sanatoriums Dr. Pariser wohlbekannt, befindet sich auf dem Frankfurter jüdischen Friedhof in der Eckenheimer Landstraße (vgl. Grosche 1991: 91).
1921 wurde das Anwesen Landgrafenstraße 6 als ‚Ritters Parkhotel, Kurpark-Sanatorium (früher Dr. Pariser)‘ wiedereröffnet (vgl. Alemannia Judaica (Bad Homburg)). 1928 übernahm die Reichsbahn-Versicherungsanstalt das Kurheim (‚Park-Sanatorium‘), nach dem Zweiten Weltkrieg richtete die US-amerikanische Armee dort eine Soldatenunterkunft ein. 1956 gelangte die Anlage wieder in den Besitz der Bundesbahn-Versicherungsanstalt (vormals Reichsbahn-Versicherungsanstalt), die das Sanatorium nach dreijährigen aufwändigen Baumaßnahmen wieder eröffnete. 1979 in Paul-Ehrlich-Klinik umbenannt (vgl. Orte der Kur), ist die Institution heute (Stand 2014) eine Rehabilitationseinrichtung der Knappschaft-Bahn-See (KBS). Auf deren Homepage ist zu lesen: „Der Arzt, Biologe und Nobelpreisträger Paul Ehrlich hat unserer Klinik den Namen gegeben. Seinen hohen medizinischen Ansprüchen fühlen wir uns noch heute verpflichtet“ (zit. n. KBS: Medizinisches Netz: Rehakliniken: Bad Homburg: http://www.kbs.de).
„Wo Martin Buber einst kurte“ – das Sanatorium Dr. Rosenthal
Durch Alexander Wächtershäusers Artikel „Wo einst Martin Buber kurte“ (vgl. ders. 2011) und die Website ‚Alemannia Judaica‘ sind inzwischen auch Informationen über das Sanatorium Dr. Rosenthal zugänglich. Um 1900 (vgl. Rosenthal, Abraham 1936, Würdigung), etwa zur gleichen Zeit wie Curt Pariser, eröffnete der praktische Arzt Sanitätsrat Dr. Abraham Rosenthal in der Villa Kaiser-Friedrich-Promenade 49 sein orthodox-jüdisches Kurheim. Zuvor hatte er als Brunnen- und Badearzt in der Elisabethenstraße (wo sich auch die Synagoge und das jüdische Gemeindehaus befanden) praktiziert. Nach dem Zukauf des benachbarten Anwesens Nr. 51 konnte das Sanatorium Dr. Rosenthal seit 1914 bis zu 50 Kurgäste aufnehmen. Abraham Rosenthal, ein „thorakundiger und glaubensstarker Jehudi“ (Rosenthal, Abraham 1937, Nachruf) fühlte sich – anders als die vorwiegend westlich-säkularisierten jüdischen Bad Homburger/innen – zum gläubigeren osteuropäischen Judentum hingezogen. So verwundert es nicht, dass das Sanatorium „zahlreiche jüdische Prominenz“ (Wächtershäuser 2011) anzog, so den Rabbiner von Brest-Litowsk, Chajim (Halevi) Soloweitschik – und den zu dieser Zeit in Frankfurt wirkenden Religions- und Sozialphilosophen Martin Buber.’Mutter‘ der ‚Sanatoriumsfamilie‘ war Abraham Rosenthals Frau Dina (geb. Strauß), welche 1934 verstarb: „Über drei Jahrzehnte stand sie mit ihrem Manne dem Hause vor, in dem so viele kranke und leidende Glaubensgenossen Genesung und Erholung fanden. Mit wahrer mütterlicher Treue widmete sie sich dem Werke und wurde durch ihr liebevolles Wesen und ihre aufopferungsvolle Tatkraft manchem Patienten Gefährtin und Helferin in schwerem Leide“ (Rosenthal, Dina 1934, Nachruf). 1927 hatte das Paar bereits seinen mittleren Sohn Bertram verloren, als sich der junge Arzt bei der Behandlung eines Patienten eine tödliche Infektion zuzog. Zehn Jahre später verstarb mit 71 Jahren auch Abraham Rosenthal und wurde auf dem Jüdischen Friedhof Bad Homburg im Gluckensteinweg beerdigt (vgl. Grosche 1991: 120). Im Israelit, dem Periodikum des orthodoxen Judentums, erschien ein Nachruf: „Einer frommen Familie entstammend, war Dr. Rosenthal in seiner Jugend für den Rabbinerberuf bestimmt[,] und er saß auch einige Jahre Rabbi Esriel Hildesheim[er] im Berliner Rabbiner-Seminar zu Füßen. […] Der ärztliche Beruf war ihm mehr eine Berufung, heilige Mission, G’ttesdienst [im orthodoxen Judentum wird ‚Gott‘ nicht ausgesprochen, d.V.] und Dienst am Menschen […]“ (Rosenthal, Abraham 1937).
Zwei weitere Söhne, der Zahnarzt Dr. Erich Rosenthal und sein jüngerer Bruder Theodor Rosenthal (vgl. DNB Ffm: Rosenthal, Theodor) sollten das Sanatorium in seinem Sinne fortführen, was die Nationalsozialisten vereitelten: Den im Stadtarchiv Bad Homburg aufbewahrten Bauakten (StA HG: A 03) zufolge unterlag die angeblich verwahrloste Rosenthal’sche Liegenschaft seit 1936 der Zwangsverwaltung und wurde danach zwangsversteigert. Erich Rosenthal wohnte zuletzt im 2. Obergeschoss des Vorderhauses. An die jüdische Geschichte des Hauses erinnerte nur noch eine Hütte im vorderen Teil des Hofes, unter deren Dach in besseren Zeiten das Laubhüttenfest gefeiert wurde. Der neue nichtjüdische Besitzer nahm an dem Gebäude Umbau- und Abrissmaßnahmen vor und betrieb darin vorübergehend ein Hotel.
Im Jahre 1953 eröffnete die Landesversicherungsanstalt Hessen nach Freigabe der Liegenschaft durch die U.S. Army das Sanatorium Geheimrat Dr. Trapp (vgl. Orte der Kur). Seit 1972 befindet sich auf dem früheren Areal des Sanatoriums Dr. Rosenthal die Wicker-Klinik/Wirbelsäulenklinik, die früheren Gebäude (Vorder- und Hinterhaus) sind inzwischen zum Teil „überbaut“ (Wächtershäuser 2011).
Das „Jüdische Sanatorium“ Dr. Goldschmidt (Taunus-Sanatorium)
1911 eröffnete der Nervenarzt Dr. Siegfried Goldschmidt in Gonzenheim (1937 eingemeindet nach Bad Homburg), Untere Terrassenstraße 1, sein Taunus-Sanatorium; die offizielle Einweihung fand im April 1912 statt. Dort sollten „Erholungsbedürftige, innerlich Kranke und Nervöse“ Genesung finden (vgl. Alemannia Judaica (Bad Homburg), Anzeigen). Unter den zumeist orthodox-jüdischen Patienten/Kurgästen war die Kurklinik als das „Jüdische Sanatorium“ bekannt (vgl. Freeman 1994). Im Sanatoriumsprospekt beschrieb Dr. Goldschmidt sein Anliegen: „Namentlich solche Juden, die bisher durch das Fehlen einer solchen Anstalt öfters gezwungen waren[,] nicht jüdische Häuser aufzusuchen, werden es gewiß begrüßen[,] ein in jeder Beziehung erstklassiges Sanatorium kennen zu lernen, wo sie gesellschaftlichen Zurücksetzungen als Juden nicht mehr ausgesetzt sind“ (StA HG, Sanatorium Dr. Goldschmidt, Kurprospekt). Die hochmoderne Kurklinik war vor allem „für die Aufnahme von zentralen und peripheren Erkrankungen des Nervensystems, sowohl organischer wie funktioneller Art[,] bestimmt […]“ (ebd.). Bemerkenswert ist, dass anders „als in den öffentlichen Heilanstalten […] in diesem Haus zugleich großer Wert auf ‚Psycho-Therapie‘ gelegt […]“ wurde (Vanja 2012: 614). Nachhaltige Erholung verhieß die idyllische und zugleich zentrale Lage des stattlichen Anwesens: „Nach dem ca. 7000 Quadratmeter großen eigenen Park klingen noch die morgendlichen Weisen der Kurmusik von dem etwa 3 Minuten entfernten Elisabethenbrunnen hinüber, so nah ist es zum prächtigen Homburger Kurpark, fast ebenso weit zum ausgedehnten Hardtwald“ (StA HG: Sanatorium Dr. Goldschmidt: Kurprospekt).
Über ihren Vater Siegfried Goldschmidt schrieb Prof. Rivka Horwitz (geb. 1926 als Gertrud Goldschmidt), die 2007 verstorbene bekannte Judaistin, Philosophin und Franz-Rosenzweig-Forscherin: „Er war ein deutscher Jude mit einer starken deutsch-jüdischen Identität, geboren in Witzenhausen in einer Familie, die seit 1524 in dieser Stadt ansässig war. Er wuchs in Kassel auf und wurde nach seinem Medizinstudium in Berlin Arzt. Er war ein Schüler der Jeschiwa von Rabbi Breuer in Frankfurt, er heiratete und ließ sich in Bad Homburg v.d.H. nieder. […]“ (Horwitz 1997: 225). Dort engagierte sich Dr. Goldschmidt im traditionsreichen Talmud-Thora-Verein (vgl. Grosche 1991: 29), der u.a. arme Kinder mit Schulbüchern versorgte. Im Ersten Weltkrieg diente er als Oberarzt der Reserve und erhielt bereits 1914 das Eiserne Kreuz. Wie die Tochter Rivka berichtet, heiratete der kinderlos gebliebene Witwer Siegfried Goldschmidt um 1923 „meine Mutter, eine russische Jüdin, und wurde mit zwei Kindern gesegnet. Sie brachte in unser Haus die Tugenden der osteuropäischen Juden ein, eine jüdische Kultur, jüdischen Humor und Wärme […]“ (Horwitz 1997: 225f.).
Leider lernten Rivka Horwitz und ihr Bruder Heinz Naftali Goldschmidt (geb. 1925) ihren Vater nicht näher kennen, da er bereits 1926 kurz nach Rivkas Geburt an plötzlichem Herzversagen starb. Ihre Mutter Schewa Goldschmidt, „eine Führungspersönlichkeit“ (ebd.: 227), führte das Sanatorium weiter, „die allverehrte Leiterin und Besitzerin des Hauses […], die in so hervorragender Weise es verstanden hat, das Werk des Gatten fortzusetzen und auszubauen“ (Anonym. 1928). So hieß es lobend in einem Bericht des Israelit über die feierliche Einweihung (1928) der neuen Haussynagoge, der auch geladene Gäste und Freunde aus Frankfurt beiwohnten. 1932 würdigte Schewa Goldschmidt den 6. Jahrtag ihres Mannes mit der Stiftung einer Seferweihe, der Einweihung einer neuen Torarolle für die Haussynagoge (vgl. Wollmann 1932).
Siegfried Goldschmidts Nachfolger als ärztlicher Leiter wurde ein Mediziner aus der Belegschaft seines Sanatoriums, der in der jüdischen Tradition des Hauses stand, „[…] er war ein sehr fähiger Mann und war im jüdischen Lernen äußerst bewandert. Ein Teil seiner Aufgabe bestand darin, jeden Samstagnachmittag über einen bestimmten Gegenstand der jüdischen Tradition zu sprechen“ (Horwitz 1997: 226). Wie Schewa Goldschmidt (geb. Abramov) entstammte der 1895 in Wilna, dem einstigen ‚Jerusalem Litauens‘, geborene Dr. Joshua O. Leibowitz dem osteuropäischen Judentum. Neben seiner beruflichen Tätigkeit lehrte er am Frankfurter ‚Freien Jüdischen Lehrhaus‘ Hebräische Literatur und Jüdisches Denken, so trug er über den berühmten Arzt und Philosophen Maimonides vor (vgl. Leibowitz 1935). Seine wertvolle medizinhistorische Bibliothek konnte Dr. Leibowitz bei seiner Flucht aus Nazideutschland nach Palästina/Israel retten (vgl. Freeman 1994). Dort wurde er ein bekannter Medizinhistoriker und lehrte als Professor an der Hebräischen Universität Jerusalem.
Schewa Goldschmidt bemühte sich während der NS-Zeit vergeblich um den Verkauf der Liegenschaft. Sie ahnte, dass das Kurheim als ein Ort jüdischen Lebens nicht mehr zu retten war. Im Herbst 1933 schickte sie ihre beiden Kinder nach Palästina/Israel; sie selbst erlag drei Jahre später in Tel Aviv einem Krebsleiden. Ihre Familie ließ Siegfried Goldschmidts Leichnam nach Tel Aviv überführen und neben seiner Frau bestatten. Schewa Goldschmidts Vater Peisach Abramov verkaufte als Vormund von Heinz und Gertrud Goldschmidt das Sanatorium im Mai 1937 an die NS-Reichsbahn.
Das verwaiste jüdische Sanatorium diente seit 1937 „zunächst der Reichsbahn zur Unterbringung ihrer Zentralschule und nach seiner Besetzung durch US-Truppen seit 1947 als Behörde der Finanzverwaltung der amerikanisch-britischen Bizone. Hieraus ging 1952 das heutige Bundesausgleichsamt hervor. Seit dessen Umzug 1998 steht das Gebäude, das sich im Besitz des Hochtaunuskreises befindet, leer“ (zit. n. Orte der Kur). Die Zukunft der einst so prachtvollen, jetzt verwahrlosenden Liegenschaft ist bislang umstritten und ungewiss (Stand März 2014, vgl. z.B. Velte 2010, 2012, 2013 sowie Sanatorium Dr. Goldschmidt 2011, o.J. [2013]).
Schlussbetrachtung
Die Quellenlage zu den jüdischen Kurheimen in Bad Homburg (und anderswo) ist nach den Zerstörungen der Schoah und des Zweiten Weltkriegs recht lückenhaft. Von jüdischen Pflegenden mit Bezug zu Bad Homburg waren bis auf drei Krankenschwestern – Thekla Dinkelspühler, Guste Cohen und Ella Scharatzick – bislang keine Informationen zu ermitteln. Im Sanatorium Dr. Goldschmidt war mit Josefine Hach von 1926 bis 1937 eine nichtjüdische Oberschwester angestellt. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Sanatorien Dr. Pariser, Dr. Rosenthal und Dr. Goldschmidt ihr Pflegepersonal aus dem Frankfurter jüdischen Schwesternverein rekrutierten. Allerdings bestanden intensive Kontakte zwischen den Direktoren aller drei Kurkliniken und der Frankfurter jüdischen Gemeinde. Die jüdischen Kurgäste aus Frankfurt schätzten die rituelle Versorgung ebenso wie den Austausch unter Gleichgesinnten – und sie mussten während ihrer Kur keine antisemitische Diskriminierung befürchten.Über die Lebensgeschichten von Curt Pariser, Abraham Rosenthal und Siegfried Goldschmidt, ihrer in den Sanatoriumsbetrieb eingebundenen Familienmitglieder und Kollegen und nicht zuletzt ihrer Patientinnen und Patienten aus dem west- und osteuropäischen Judentum ließe sich ein spannendes Buch schreiben. Der Artikel schließt mit einer Kindheitserinnerung von Rivka Horwitz, der mit sieben Jahren nach Eretz Israel emigrierten Tochter von Schewa und Siegfried Goldschmidt: Wenn die Mutter „mit uns durch die Parkanlagen Bad Homburgs spazierte, zeigte sie auf die Zedern und erzählte uns, dass diese herrlichen Bäume aus dem Libanon stammen, dem alten Heiligen Land“ (Horwitz 1997: 226).
Für wichtige Hinweise dankt die Autorin Frau Dr. Krüger und Herrn Mengel (Stadtarchiv Bad Homburg v.d.H.), Herrn Haberkorn (Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden), Herrn Roeper (Stadtarchiv Witzenhausen), Frau Dr. Massar (Deutsche Nationalbibliothek Frankfurt a.M.), Frau Angelika Rieber (Historikerin) und Herrn Dr. med. Harro Jenss (Gastroenterologe und Ärzteforscher).
Birgit Seemann, 2014, aktualisiert 2017