Was bedeutet „Bikkur Cholim“?
Wer nach den Ursprüngen jüdischer Krankenpflege forscht, stößt auf den hebräischen Begriff „Bikkur Cholim“ (deutsch: Krankenbesuch): Widmet sich ein Mitglied der jüdischen Gemeinde einem erkrankten Mitmenschen, erfüllt es gleich mehrere Gebote der Tora. Der Krankenbesuch ist von dem Gebot der Nächstenliebe (Lev. 19, 18, vgl. auch Lewkowitz 1987) nicht zu trennen und für alle jüdischen Gläubigen eine heilige Pflicht (Mitzwa). Sie „gilt nicht nur für Israeliten […], der Besuch ist auch bei Nicht-Israeliten auszuführen, um gute gesellschaftliche Beziehungen zu bewahren. Ein Erwachsener hat die Pflicht auch kranke Kinder zu besuchen, ein Gelehrter soll auch einfache Leute, ein Frommer auch Unfromme besuchen“ (Kottek 2010, S. 35). Es entsprach den Traditionen der jüdischen Sozialethik, dass sich die nach der Auflösung des Judenghettos gegründeten jüdischen Krankenhäuser zu Frankfurt am Main allen Heilung Suchenden öffneten.
In Deutschland existierte vor und neben der christlichen (künftig wohl auch islamischen und interkulturellen) stets auch eine jüdische Krankenpflege. In den beengten Verhältnissen der europäischen Ghettos Europas, in die die christliche Mehrheitsbevölkerung ihre jüdischen Nachbarn pferchte, waren gesundheitliche Selbsthilfe und Vorsorge gegen ansteckende Krankheiten unumgänglich. Mit der Errichtung des Judenghettos 1462 entstand in Frankfurt am Main das erste dort nachweisbare jüdische Spital. Jahrhunderte später endete Frankfurts jüdische Pflegegeschichte in der organisierten Vernichtung des Nationalsozialismus. Wie die Pflegeforscherin Hilde Steppe in ihrem Standardwerk zur jüdischen Pflegegeschichte hervorhebt, ergibt sich auch aus den „vielfältigen Erwähnungen des Krankenbesuchs in den talmudischen Schriften … die hohe Bedeutung, die dem Krankenbesuch im Judentum beigemessen wird“ (Steppe 1997: 82f.; siehe auch Probst (Hg.) 2017). Daher muss vor der Bikkur Cholim keine Bracha (deutsch: Segen) gesprochen werden (Ahren 2001).
Über den Ursprung des jüdischen Krankenbesuchs informierte der Sozialmediziner Dr. Wilhelm Hanauer 1914 anlässlich der Einweihung des neuen Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde zu Frankfurt am Main: „In vielen Städten befanden sich zur Zeit des Tempels [= altisraelitisches Heiligtum in Jerusalem, B.S.] fromme Brüderschaften, die Chaberim, die neben der Armenpflege und der Totenbestattung auch die Krankenpflege ausübten. Diese Brüderschaften sind vielleicht die Vorläufer der noch heute in fast allen jüdischen Gemeinden bestehenden Chewra Kadischa [= Beerdingungsgesellschaften, B.S.]“ (Hanauer 1914: 7). Während die Männervereinigungen sich um männliche Kranke kümmern, betreuen entsprechende Frauenvereinigungen die weiblichen Patienten. Die Bikkur Cholim bleibt dabei nicht auf die Körperpflege und Reinigung des Krankenzimmers beschränkt: „Man solle ferner den Kranken auch psychisch beeinflussen, ihn unterhalten und trösten, für seine Genesung beten. Es war ferner Sitte, dass auch Gebete für die Kranken in der Synagoge verrichtet wurden“ (ebd.). Dem einflussreichen „Schulchan Aruch“ zufolge – das erstmals 1565 in Venedig gedruckte Handbuch des Rabbiners Josef Karo überliefert und kommentiert das Gesetzeswerk (Halacha) des Judentums – gehört zu einer umfassenden Pflege auch die materielle Unterstützung bedürftiger Kranker.
Bikkur Cholim und die interkulturelle Pflege
Die Einhaltung jüdischer Feiertage und die koschere Speisezubereitung sind Teil der jüdischen Pflege. Nahezu jedes jüdische Krankenhaus verfügte und verfügt über eine eigene Haussynagoge. Größere Einrichtungen setzen am Sabbat nichtjüdisches Pflegepersonal ein. Den autobiographischen Aufzeichnungen der während der NS-Zeit nach Ägypten emigrierten Krankenschwester Thea Levinsohn-Wolf verdanken wir einen lebendigen Einblick in die Pflegeethik des Jüdischen Krankenhauses von Alexandria: „[…] wir nahmen uns vor, das Krankenhaus so zu führen, wie wir es vom Krankenhaus der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main her gewohnt waren: hohes medizinisches Niveau, gute Pflege, menschliche Wärme und Verständnis den Patienten gegenüber, gegenseitige Hilfsbereitschaft und enge Zusammenarbeit des gesamten Personals zum Wohle der Kranken, Behandlung jedes Pflegebedürftigen, der an unsere Pforte klopfte, egal welcher Hautfarbe und Nationalität, sei er arm oder reich, Jude, Christ oder Araber. […] Wir hatten einen Hausrabbiner, dessen Hauptaufgabe u.a. darin bestand, neben den sterbenden Patienten zu sein, mit ihnen zu beten, auch bei den Toten bis zu deren Bestattung zu bleiben und die religiösen Waschungen der Verstorbenen zu begleiten. Selbstverständlich konnte jeder Kranke einen Priester seiner Religion zu sich bitten. So lernten wir Priester sämtlicher Religionen kennen. Sie alle wurden von uns immer mit der ihnen gebührenden Ehrerbietung empfangen“ (Levinsohn-Wolf 1996, S. 38, S. 40). Die jüdischen Diaspora- und Migrationserfahrungen formten die Bikkur Cholim zu einer Vorreiterin interkultureller Pflege. Bis heute kommen das Personal und die Patientinnen und Patienten aus den verschiedensten Ländern und Regionen; ihre religiösen und politischen Anschauungen sind vielfältig.
Zur Aktualität von Bikkur Cholim und der jüdischen Krankenpflege in Deutschland
Während der sozioökonomischen Umbrüche in Osteuropa nahm dort seit Beginn der 1990er Jahre der Antisemitismus zu; etwa 100.000 Betroffene wanderten als Kontingentflüchtlinge in die Bundesrepublik ein. Mit den gewachsenen oder neu gegründeten jüdischen Gemeinden entstanden in vielen Städten und Gemeinden Chewra Kaddischa- und Bikkur Cholim-Initiativen. Zur Gründung neuer jüdischer Krankenhäuser kam es bislang (Stand: 2017) noch nicht. Einzig das Jüdische Krankenhaus Berlin hatte die NS-Zerstörung des jüdischen Pflegewesens überlebt und konnte 2006 sein 250-jähriges Bestehen feiern. Auch in Frankfurt am Main bleiben jüdische Kranke weiterhin auf städtische und christliche Kliniken angewiesen. Ansprechpartner/innen finden sie bei der Frankfurter „Bikkur Cholim“, einer Unterabteilung der hiesigen traditionellen Beerdigungsbrüderschaft Chewra Kadischa.
Außerhalb Deutschlands tragen jüdische Krankenhäuser wie das Bikur Cholim Hospital in Jerusalem den Namen Bikkur (oder: Bikur) Cholim. So findetdie Tradition des jüdischen Krankenbesuchs ihre aktuelle Fortsetzung.
Birgit Seemann, 2009, aktualisiert 2017