Jüdische Pflege- geschichte

Jewish Nursing History

Biographien und Institutionen in Frankfurt am Main

Amalie Stutzmann, Foto

Amalie Stutzmann und ihr Sohn Markus

Einleitung

Amalie Stutzmann (auch Amalia und Amélia) war Krankenschwester im Frankfurter Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung und, wohl für kurze Zeit, im Krankenhaus der Jüdischen Gemeinde in der Gagernstraße 36. Wie ihre Enkelin Amaly bestätige konvertierte sie 1931 vom evangelischen Glauben zum jüdischen. Am 11.November 1941 wurde sie in das Ghetto Minsk deportiert und dort ermordet.

Ihren Sohn Markus hatte sie 1939, als 10-jährigen, in einem Kindertransport nach Palästina unterbringen könnnen. In Palästina nannte sich Markus Stutzmann später Abraham Bar Ezer. Seine Suche nach den Spuren seiner Mutter begann in den 1950er Jahren, als er einen Antrag auf Entschädigung stellte.

Viele Jahre später, im Mai 2010, konnte ich ihn anlässlich der Verlegung eines Stolpersteins für seine Mutter Amalie, im Sandweg 11 in Frankfurt am Main, kennenlernen. An der von ihm initiierten Verlegung nahmen auch viele seiner Familienmitglieder teil. Zwei Tage später, auf einer Veranstaltung der „Initiative 9. November“ (Initiative 9. November ) erzählte er von seiner Mutter. Moderiert wurde das Gespräch von der Historikerin Helga Krohn, der Autorin und Herausgeberin eines Berichts über den Kindertransport nach Palästina (vgl. Krohn, Helga 1995), zu dem auch Markus Stutzmann gehörte. Im Anschluss an die Veranstaltung konnte ich mit Abraham Bar Ezer und seiner Tochter Amalya Shachal sprechen, sie schenkten mir eine Broschüre mit den Erinnerungen von Markus Bar Ezer, die er seinen Kindern und Nachfahren gewidmet hat (vgl. Bar Ezer, Abraham, o.J.: Die Feuersäule). Der Name des Buches „Feuersäule“ erinnert an den Auszug der Israeliten aus Ägypten als Gott symbolisch als Feuersäule den Israeliten nachts den Weg wies, tagsüber war eine Wolkensäule das Symbol.

Abraham Bar Ezer
Abraham Bar Ezer, Stolpersteinverlegung in Frankfurt am Main,
Sandweg 11, am 7. Mai 2010
© Edgar Bönisch
Amalie Stutzmann, Foto
Porträt von Amalie Stutzmann, undatiert (um 1938)
Aus: Bar Ezer o. J.: Titel

Amalie Stutzmanns Herkunft

Die Geburtsurkunde (Bar Ezer o.J.: Anhang Nr. 2) für Amalie Stutzmann belegt, dass sie am 23. Nobember 1890 in Keskastel um drei Uhr vormittags geboren wurde, Zeugin war am 26. Nobember auf dem Standesamt in Keskastel die Hebamme Margarethe Scheuer. Als Mutter Amalias nennt das Dokument Karolina Stutzmann, von Beruf Näherin, ledig und prostestanisch. Keskatel liegt heute im Department Bas-Rhin im Gemeindeverband Alsace Bossue, dem Krummen Elsass.

Ein Schreiben der Gemeinde Keskastel (Bar Ezer o.J.: Anhang 7) nennt die Geschwister von Amalie: Emile geb. 20. Juli 1882, Anne geb. 14. Mai 1885, Robert geb. 26. Juli 1887–22. September 1887, und Paul Robert geb. 29. März 1889. Weitere Recherchen nach der Familie seiner Mutter, die Abraham Bar Ezer initiierte, gestalteten sich schwierig. Den Namen gab es in der Region sehr häufig und da alle Kinder von Karolina Stutzmann außerehelich geboren waren, gibt es keine Hinweise auf den Vater.

Wie und warum Amalie Stutzmann in den Raum und die Stadt Frankfurt kam, ist unbekannt. Abrahm Bar Ezer schreibt, dass sie das Handwerk der Krankenschwester erlernte und in diesem Beruf in einem Altenheim in Zürich arbeitete (Bar Ezer o.J.: 16). Ihr Aufenthalt in der Schweiz stehe eventuell im Zusammenhang mit der Herkunft von Markus‘ Vater, der vermutlich Moshe Weisskopf hieß (Bar Ezer o.J.: 10 und Anhang 6).

Vermutungen über Markus‘ Vater

Markus erinnert sich in seiner Broschüre „Feuersäule“ an zwei Szenen in Frankfurt. Zum einen besuchte seine Mutter mit ihm 1939 einen alten Mann im Krankenhaus in Frankfurt am Main und stellte ihn als Jaakov Weißkopf vor, er sei Markus‘ Großvater. Der alte Herr verstarb kurz darauf. Zum anderen traf Markus im Haus Sandweg 11 im April 1939 seinen Vater, wie er vermutet. Es könnte sein, dass der Vater seiner Mutter einen Abschiedsbesuch abstattete, bevor er in die USA ausreiste. Erst später entdeckte Abraham Bar Ezer, im erhalten gebliebenen Adressbuch seiner Mutter, die New Yorker Adresse eines Moshe Weisskopf, die Recherchen nach ihm blieben ergebnislos. Nach Quellen in der genealogischen Datenbank „Ancestry“, dort in der Einwanderungsliste von Ellis Island, gibt es einen Moses Weisskopf, der im April 1939 aus Deutschland kommend in die USA eigewandert ist, ob dieser Moses Weisskopf eventuell mit dem Vater von Markus identisch ist, ist ungewiss.

Später, in Israel, erhielt Bar Ezer zwei weitere Hinweise auf seinen Vater und den Großvater, die auf die Schweiz und den Namen Weisskopf deuten. Weitere Forschungen fehlen hier (Bar Ezer o.J.: Anhang 6).

An andere Bilder von seinem Vater oder seinen Verwandten erinnert sich Markus Stutzmann nicht. Seine Mutter habe ihm auf seine Fragen immer ausweichend geantwortet und gesagt, dass sie ihren Mädchennamen trage (Bar Ezer o.J.: 3). Über sein Interesse an der Familiengeschichte schreibt Abraham Bar Ezer: „Meine Familiengeschichte war ein Mysterium für mich, und ich machte mir das Leben nicht schwerer, indem ich verlangte mehr zu wissen als mir zugänglich war. Die Antworten meiner Mutter haben mir gereicht. Das Fehlen eines engen Familienkreises hat mich nicht gestört oder beschäftigt, denn auch viele meiner Freunde im Waisenhaus hatten keine Familie und ebenfalls nur einen Elternteil.“ (Bar Ezer o.J.: 5).

Markus‘ Geburt in Darmstadt, die Geburtsklinik Altschueler

Markus Stutzmann wurde am 18. November 1928 in Darmstadt, Eschollbrücker Str. 12 geboren. Seine Mutter wohnte zu diesem Zeitpunkt in der Wittelsbacher Allee 7 in Frankfurt am Main (vgl. Bar Ezer o.J.: Anhang 1).

In der Eschollbrücker Straße 12 stand damals die private Entbindungsanstalt des Dr. Alfred Altschüler. Der Eintrag im Darmstädter Adressbuch lautet: „Altschüler, Alfred, Dr. med., Frauenarzt und Chirurg, Privatklinik und Entbindungsansstalt (Paulinenheim), Eschollbrücker Str. 12, Fernsprecher 155, Sprechstunden: Dieburgerstr. 5 pt.“ (Adressbuch Darmstadt 1927).

Warum Frau Stutzmann in Darmstadt ihren Sohn gebar kann nur vermutet werden: Am Anfang des 20. Jahrhunderts gab es Entbindungsanstalten der Universitätskliniken und einige, oft im Besitz von privaten Betreibern, als „Erwerbsquelle von Hebammen und Ärzten“ (Meyers Großes Konversations-Lexikon 1906). Über die Entstehung von Geburtskliniken berichtet Claudia Werner (Werner 2017) aus der Sicht einer Hamburgerin: „Wer etwas auf sich hielt, bekam sein Kind zu Hause. Nur die ärmeren Frauen und ledige alleinstehende Schwangere gingen zur Geburt in eine Klinik. Allerdings reichte die Zahl der Betten in den Hamburger Krankenhäusern bei Weitem nicht aus. Und Deutschland hielt Anfang des 20. Jahrhunderts einen traurigen Rekord: Zusammen mit Österreich-Ungarn und Russland hatte es mit 25 Prozent die höchste Säuglingssterblichkeit in Europa. In den Sommermonaten stieg sie in Großstädten wie Hamburg bis auf 50 Prozent.“ (Werner 2017).

Frau Stutzmann gehörte eventuell zu der Gruppe der Armen und alleinstehenden Schwangeren oder sie suchte nach einer Möglichkeit unter optimalen Bedingungen ihr Kind zur Welt zu bringen. Vielleicht wollte sie aber auch an ihrem Wohnort Frankfurt anonym bleiben oder es gab, sofern sie zu diesem Zeitpunkt schon im Rothschild‘schen Hospital arbeitete, dort noch kein Entbindungsmöglichkeit, erst nach dem Umbau im Jahr 1932 wurde ein Entbinungszimmer eingerichtet (Seemann 2018).

Abraham Bar Ezer vermutet, dass seine Mutter kurz vor seiner Geburt nach Darmstadt gezogen war und danach wieder nach Frankfurt zurück. Er selbst blieb dann bei einer Bauernfamilie, bis er ein wenig älter war (vgl. Bar Ezer o.J.: 16). An andere Stelle berichtet er, dass seine Mutter ihn vier Wochen nach der Geburt in Darmstadt zu einer Pflegefamilie in Bickenbach gegeben habe, wo er fünf Jahre geblieben sei (vgl. Initiative Stolperstein 2016: 165). Nur so habe seine Mutter berufstätig sein können und für beider Unterhalt sorgen können (vgl. ebd.).

Amalie und Markus Stutzmann in Frankfurt am Main

Wann Amalie Stutzmann nach Frankfurt kam wissen wir nicht genau. Ihre Adresse, Wittelsbacher Allee 7, wird das erste Mal in der Geburtsurkunde von Markus Stutzmann für den November 1928 erwähnt. Auch ob sie zu diesem Zeitpunkt berufstätig war ist unbekannt. Belegt ist, dass sie 1930 in der Rhön-Straße 48 (Frankfurter Adreßbuch 1931: Teil1 740, Teil 2 286) wohnte, ein Haus, welches, wie die Nachbarliegenschaften 50 und 52, vom Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung für Personalwohnungen genuzt wurde (Seemann 2016 [2014]). Was nahelegt, dass Frau Stutzmann 1930 bereits im Hospital der Rothschild‘schen Stiftung angestellt war. In den beiden darauffolgenden Jahren, 1931 und 1932, wohnte sie im Haus Rhönstraße 50, 2. Stock (Frankfurter Adressbuch 1932 und 1933). [1] Genaueres ist im Hausstandsbuch der Häuser in der Rhönstraße (ISG) zu finden. Danach wechselte Frau Stutzmann am 10.07.31 vom Röderbergweg 97 (Hospital) in die Rhönstraße, von dort am 21.12.1931 wieder in den Röderbergweg 97. Eventuell hatte der Wechsel mit Umbauarbeiten im Hospital zu tun (siehe Kapitel: Amalie Stutzmann und das Hospital der Georgine Sara von Rothschild‘schen Stiftung).

Am 9. August 1935 bezog sie die Wohnung im Sandweg 11 (ISG), wo sie bis 1939 wohnte (Adressbuch Frankfurt a. M. 1937). Vermutlich hatte Frau Stutzmann zuvor im Rotschild‘schen Hospital wohnen können. Ihre Kollegin Aranka Kreismann, Wirtschaftsleiterin im Hospital seit 1934, berichtete später, dass Amalie Stutzmann „Kleidung, Kost und Wohnen“ (HHStA) von der Rothschild‘schen Stiftung erhielt. Das wohl auch noch als sie eine „schöne eingerichtete Wohnung in Frankfurt a/Main Sandweg Nr. 11“ (ebd.) bewohnte.

Bella Flörsheim und Adele Nafschi, Kolleginnen im Rothschild‘schen Krankenhaus, bezeugen die Arbeit von Amalie Stutzmann im Krankenhaus für die Zeit von 1931 bis 1938 (ebd.).

Abraham Bar Ezer erinnert sich „vage“ an die erste Zeit. Wohl zwischen 1928 bis 1935 lebte er bei Landwirten in „irgendeinem“ Dorf, vermutlich in Bickenbach (Initiative Stolperstein Frankfurt am Main 2016: 165). In dieser Zeit besuchte ihn die Mutter hin und wieder. Eines Tages holte Amalie Stutzmann ihren Sohn nach Frankfurt und sie wohnten im Sandweg 11, die Adresse vor der heute der Stolperstein für Frau Stutzmann liegt. Das könnte etwa August 1935 gewesen sein, das Datum an dem Amalie Stutzmann aus dem Röderbergweg 97 ausgezogen ist (ISG), also kurz vor Markus‘ siebtem Geburtstag.

In Frankfurt ging Markus in den Kindergarten bei Kindergärtnerinnen, die er später in Palästina wiedertraf, Ayala Grossmann und Bela Hoffmann. Er besuchte die Jüdische Volksschule und später die Realschule, benannt nach dem Rabbiner Samson Raphael Hirsch. Die Besuche in der orthodoxen Synagoge in der Friedberger Anlage und ihre dortigen Banknachbarn, Familie Frankental, sind ihm gut im Gedächtnis (Bar Ezer: 4).

Neues Schulhaus. Röderbergweg 29
Neues Schulhaus der Israelitischen Volksschule nebst Anbau, Röderbergweg 29
Aus: Stern 1932: 41

In Frankfurt führten Markus und seine Mutter ein vom orthodoxen Judentum geprägtes Leben. In der orthodoxen Synagoge lernte er jüdische Familien kennen, in der Schule hatte er Freunde mit denen er sich auch im Israelitischen Waisenhaus traf und mit denen er später auch nach Palästina auswanderte. Seine Mutter sorgte für gute Kleidung. „Wie ein Prinz“ fühlte er sich. Von allem erhielt er das „Beste“ und er bekam Geschenke „nach denen sich jedes Kind sehnte“ (Bar Ezer o.J.: 6).

Ermöglicht hat sie das alles durch die Arbeit im Krankenhaus, bsonders durch Nachtwachen. Durch Hauspflege bei privaten Patienten und Vergabe von Injektionen, verdiente sie ein Nebeneinkommen (HHStA).

Stolz äußert sich Markus über den Mut seiner Mutter. So berichtet er von einem Abendspaziergang über den Sandweg: Sie kamen an einer Papier-Holzfigur vorbei, die wohl von der antisemitischen Zeitung der „Stürmer“ aufgestellt worden war, und einen „grossen Juden mit einer krummen Nase darstellte, dem Symbol der Zeitung. Die Figur hielt ein Messer in der Hand und richtete es auf einen „deutschen Jungen“ den er auf seinen Beinen hielt. Frau Stutzmann ging zu der Statue und stieß sie um, die Statue zersprang in „Tausend kleine Stücke“, stolz und aufrecht ging sie weiter (Bar Ezer o.J.: 7).

Markus und seine Mutter
Markus und Amalie Stutzmann
Aus: Bar Ezer o .J.: 2

Nach der „Kristallnacht“, deren Repräsalien die Stuztmanns durch das beherzte Eintreten des Hausmeisters, der mit der Aussage „Hier wohnen keine Juden“ (Initiative Stolperstein Frankfurt am Main 2016: 166) den „Nazimob“ fernhielt, begann Amalie Stutzmann nach Möglichkeiten zu suchen ihren Sohn nach Palästina zu schicken. Sie konnte ihn in einer Kinder Alijah (Kindereinwanderung) des Frankfurter Waisenhauses für 1939 unterbringen. Sie stattete ihn mit allem Vorgeschriebenen und mehr aus, etwa Bettlacken, Tischdecken, Handtücher, Kleiderbügel, Anzüge, Kleidung, Schuhe, Besteck und Silbergeschirr. Zur Abreise hat seine Mutter ihm ein Notizbuch mit Namen, Geburtsdaten und Adressen mitgegeben, darin ist auch Moshe Weisskopf in New York verzeichnet, vermutlich dem Vater von Markus.

Am 25. April 1939 brachte Amalie Stutzmann ihren Sohn zum Bahnhof. An eine Freundin schrieb sie „Ich schicke Dir alles, was ich besitze“ (Bar Ezer o.J.: 10).

Im Lauf des Jahres 1939 zog Frau Stutzmann in die Hanauer Landstraße 17 (Frankfurter Adressbuch 1940), in ein Haus der Suppenanstalt für israelitische Arme, deren Sitz in der Theobald Christ Straße 5 war (Frankfurter Adressbuch 1939, II. Teil: 134). Die Liegenschaft wechselte im Jahr 1940 in den „Besitz“ der Stadt Frankfurt (Frankfurter Adressbuch 1941). Im Adressbuch von 1942, wohl für das Jahr 1941, taucht Amalie Stutzmann nicht mehr auf. Sie war mit dem Transport am 11./12. November 1941 in das Ghetto Minsk transportiert worden, wo sie ermordet wurde.

Amalie Stutzmann und das Hospital der Georgine Sara von Rothschild‘schen Stiftung

Rothschildsches Hospital
Rothschild’sches Hospital, um 1932
© Courtesy of the Leo Baeck Institute: Fritz Nathan Collection, AR 1443 / MF 533

Eine ausführliche Beschreibung des Hospitals der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung ist auf der Webseite des Projekts Juedische-Pflegegeschichte.de (Seemann 2014 und 2016) zu finden. Hier eine gekürzte Fassung fokussiert auf die Zeit in der Amalie Stutzmann dort arbeitete.

1870 hatte Mathilde von Rothschild das Hospital gegründet, das sie nach ihrer als 17jährigen verstorbenen Tochter Georgine Sara von Rothschild benannte. Der Gebäudekomplex bestand zu Amalie Stutzmanns Zeit aus dem eigentlichen Hospital (Röderbergweg 97), einem Ärztehaus (Röderbergweg 93) und einem Kinderhospital (ebenfalls Röderbergweg 93).

Die religiöse Ausrichtung des Hauses und seiner Bewohner war neo-orthodox, der Israelitischen Religionsgesellschaft folgend, der auch ein Teil der Rothschild‘schen Familie angehörte. Die Israelitische Religionsgesellschaft (IG) hatte sich 1850 als zweite Frankfurter Jüdische Gemeinde von der ersten liberaleren Gemeinde getrennt (Seemann 2014).

Hausordnung Rothschild'sches Hospital
Rothschild’sches Hospital, Hausordnung von 1878 (Auszug)
Aus: RothHospHausordnung 1878: S. 12-13

Nach den Statuten des Hauses war es gedacht für „unbemittelte jüdische Kranke beiderlei Geschlechts“, denen die Aufnahme in eine andere jüdische Einrichtung auf Grund fehlender Gelder nicht zustand (RothHospStatut 1878: 5), Personal und Patienten konnten jüdischen, aber auch christlichen Glaubens sein.

Ab ca. 1922 war Dr. Sally Rosenbaum Chefarzt des Hauses. Nach dem Tod der Stifterin Mathilde von Rothshild, 1924, übernahmen das Mäzenat ihre Tochter Adelheid de Rotschild und der Ehemann ihrerer verstorbenen Tochter Minka, Maximilian von Goldschmidt-Rothschild. Beide finanzierten 1931/32 einen grundlegenden Umbau und die Modernisierung des Hauses. Die Umbauten leitete Regierungsbaurat Dipl.-Ing. Fritz Nathan (1891–1960), der auch für Ernst May im Rahmen des Stadtplanungsprogramms „Neues Frankfurt“ arbeitete.

Das umgebaute Haus beherbergte 29 Krankenbetten dritter Klasse, 12 Krankenbetten zweiter Klasse und 3 Krankenbetten erster Klasse sowie die durch den Umbau unverändert gebliebene Isolier-Station mit 6 Betten, zusammen 50 Betten (Hofacker 1932: 34), bei freier Arztwahl für alle Klassen. Neu waren eine Röntgenabteilung und zwei Operationsabteilungen (septisch und aseptisch) im 2. Obergeschoss. Zum fließend kalten und warmen Wasser in allen Zimmern kamen je Stockwerk noch etliche sanitäre Anlagen hinzu. Außerdem gab es nun an jedem Bett einen Radiostecker und eine rituelle Signaleinrichtung, um an Samstagen und Feiertagen die Nutzung von elektrischem Strom zu vermeiden (ebd.: 35).

In seiner Ansprache zur Wiedereröffnung betonte der Chirurg des Hause Dr. Willy Hofmann die religiöse Ausrichtung des Hauses und wies darauf hin, dass Krankheit ein Mittel sei, seinen „sittlichen Lebenswandel“ zu überprüfen (vgl. Hofmann 1932: 3f.).

Rothschild'sches Hospital, Bauskizze
Rothschild’sches Hospital, Bauskizze des Architekten Fritz Na-than zum Umbau 1932
© Courtesy of the Leo Baeck Institute

Die Belegung des Krankenhauses nahm nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten ständig zu. Jüdische Patienten wurden aus nichtjüdischen Pflegeanstalten überwiesen, Ärztinnen und Ärzte, die aus antisemitischen Gründen ihre Praxen schließen mussten, kamen in die jüdischen Krankenhäuser. Personal, dem die Auswanderung gelang, konnte nicht ersetzt werden. Besonders viele Patientinnen und Patienten wurden nach dem Novemberpogrom 1938 verpflegt (vgl. Andernacht/Sterling 1963: 31, 45). Seit August 1940 kamen psychisch Erkrankte hinzu, die aus nichtjüdischen Psychiatrien vertrieben wurden.

Zum 28. September 1940 veranlassten die NS-Behörden die Eingliederung der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung in die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (vgl. Schiebler 1994: 152). Die Schließung des Hospitals wurde im Mai 1941 veranlasst. Personal und Patienten kamen in das nunmehr letzte Frankfurter jüdische Krankenhaus in der Gagernstraße. Von dort wurden sie in die Todeslager deportiert. Die Stadt Frankfurt „übernahm“ gemäß dem „zweiten Judenvertrag“ vom 30. Januar 1942 (vgl. Karpf 2003a) die Liegenschaft des Hospitals, es wurde vom Bauamt als Hilfskrankenhaus ausgewiesen. Um 1943 wurde das Gebäude bei Luftangriffen zerstört. Heute erinnert am ehemaligen Standort nichts mehr an das Hospital.

Die Georgine Sara von Rothschild’sche Stiftung selbst konnte wiederbelebt werden; den ersten „Notvorstand“ (Schiebler 1994: 152) bildeten 1964 Rabbiner Josef J. Horowitz und Rechtsanwalt Dr. Salomon Goldsmith. Der Stiftungszweck der am 1. November 1976 neukonstituierten, bis heute bestehenden gemeinnützigen „Georgine Sara von Rothschild‘schen Stiftung zur Förderung von Krankenbetreuung für Israeliten“ beinhaltet z.B. die Förderung von Krankenbetreuung und medizinische Beihilfe (vgl. ebd.).

Da das Rothschild’sche Hospital im Mai 1941 geschlossen und sein Personal vom Krankenhaus Gagernstraße übernommen wurde, hat Amalie Stutzmann danach sehr wahrscheinlich in der Gagernstraße gepflegt, ein Zeuge, Leo Frankenthal, berichtete, dass sie „spaeter im Gagern Krankenhaus in Frankfurt taetig war.“ (HHStA). Bereits mit der 2. Frankfurter Deportationszug am 11./12. November 1941 wurde sie in das Ghetto Minsk verschleppt.

Markus und die Israelitische Waisenanstalt

Während der gemeinsamen Zeit von Markus und Amalie Stutzmann in Frankfurt am Main ging Markus vormittags in die Israelitische Volksschule und machte am Nachmittag seine Hausaufgaben im jüdischen Waisenhaus, wo er auch seine Freunde zum Spielen traf (Soden: 74).

Die 1876 gegründete Israelitische Waisenanstalt war seit 1903 im Röderbergweg 87 untergebracht. Die Waisenanstalt, eine Stiftung von Mathilde von Rothschild und anderen, versorgte Frankfurter Waisenkinder, die in einem Alter von sechs bis zwölf Jahren aufgenommen wurden und dort bis zu einer abgeschlossenen Ausbildung blieben (vgl. Krohn 2004: 140ff.). Das Ziel war es, den Kindern „eine den Grundsätzen des traditionellen Judentums entsprechende Erziehung zu geben und in der Pflege des Geistes wie des Körpers treue elterliche Fürsorge möglichst zu ersetzen.“ (Krohn 1995: 14).

Im Haus wurde streng nach orthodoxen Regeln gelebt, es wurde koscher gekocht und die Sabbatruhe eingehalten, die Jungen trugen Kopfbedeckungen und Religionsunterricht war selbstverständlich. Die Jungen erhielten zum 13. Geburtstag ihre Bar-Mizwa-Feier. Jüdische Feste wie Chanukka und Purim wurden gefeiert, in der hauseigenen Synagoge wurde gebetet (vgl. ebd.: 16f.). Die Historikerin Helga Krohn, die 1995 mit Personen sprach, die in den 1930er Jahren im Haus lebten, berichtet: „Die ehemaligen Waisenhauskinder, mit denen wir gesprochen haben, erinnern sich insgesamt an eine schöne, glückliche Zeit im Waisenhaus. Sie waren geschützt, von Wärme und Fürsorge umgeben; Ausflüge in den Taunus und Ferien im Palmengarten, Geburtstagsfeiern, Sport und Spiel gehörten zum Alltag.“ (ebd.: 23).

Chanukka-Feier, Waisenhaus
Jungen zünden Kerzen an. Chanukka-Feier. Links Isidor Marx
© Jüdisches Museum Frankfurt am Main
Israelitisches Waisenhaus
Front Waisenhaus (o.J.)
© Jüdisches Museum Frankfurt am Main, aus: Krohn: Vor den Nazis gerettet. 1995: 15

Abraham Bar Ezer erinnert sich an seine Zeit im Waisenhaus: „Die Atmosphäre in diesem Waisenhaus war besonders. Die Familie Marx hat dieses Haus geführt genau wie eine Familie. Kein Kind hat gespürt, daß sie nicht ihre Eltern sind. Sie hatten eine Wohnung im zweiten Stock, die immer offen stand – alle Türen. […] Und wenn sich ein Kind nicht gut fühlte, ist es raufgelaufen und hat gerufen: ‚Onkel Marx!‘ oder ‚Tante Rosa!‘ Es hat erzählt, was los ist, wurde auf den Schoß genommen; und alles war in Ordnung.“ (Soden 1995: 74).

Isidor Marx
Isidor Marx
© Jüdisches Museum Frankfurt am Main. F93-0230
Rosa Marx
Rosa Marx, geb.Schwab
© Yadvashem

Das Ehepaar Isidor (geb. 28. Januar1886 in Bödigheim, Buchen bei Karlsruhe)  und Rosa Marx, geb. Schwab (geb. 26. Januar1888 in Randegg bei Karlsruhe), die Markus Stutzmann hier anspricht, waren seit 1918 im Haus. Sie wurden zu Lebensrettern vieler jüdischer Kinder. Um 1935 kamen immer mehr Kinder vom Land nach

Frankfurt, um die bedrückende Situation auf den Dörfern, wo Schulen und Heime bereits geschlossen waren, zu vermeiden. Von ca. 75 stieg die Anzahl der Kinder im Heim auf 150. Im Oktober 1938 sollten die polnischen Kinder des Hauses abgeschoben werden, was das Personal verhindern konnte, sie holten die Kinder, die bereits am Bahnhof waren, wieder ab. In der Pogromnacht im November wurden die Kinder „auf die Straße gesetzt“, in die Einrichtung drangen Polizei und SS-Leute ein und zerstörten sie teilweise, einige Personen des Personals wurden verhaftet (vgl. Krohn 2004: 141f.).

Isidor Marx beschreibt die Situation im Haus am Abend nach der „Kristallnacht“. Es kamen SS- und Gestapoleute, die sich „freundlich aber streng sachlich“ verhielten. Sie haben ihm klar gemacht, dass er gebraucht werde, um die Kinder, die nun vermehrt ins Heim kämen unterzubringen und, dass er, wenn er sich weigere unter Lebensgefahr stünde. Er erklärte sich bereit weiter für so viele Kinder zu sorgen: „Meine Herren, sagte ich, ich habe, mit Erlaubnis der Behörden in den Jahren seit 1934 schon viele Kinder ins Ausland verbracht, es kamen aber immer wieder viel mehr Kinder herein als ich zur Auswanderung bringen konnte. Ich habe aber sehr viele Freunde und Gönner im Ausland, wie Schweiz, Holland, Belgien, England, Frankreich und namentlich Palästina. Darf ich denen telegrafieren, telefonieren und sie um Aufnahme von Kindern bitten? Antwort: Ihre Telegramme und Telefone werden nicht zensiert werden. Die Telefon- und Telegraph-Rechnung des Waisenhauses für die nächste Nacht zeigte Hunderte von Mark an – mit Erfolg, daß während der Nacht und während der folgenden Tage viele Zusagen telefonisch, telegrafisch und schriftlich einliefen.“ (Krohn 1995: 25f.)

Einer, der daraufhin Unterstützung zusagen konnte war James Armand de Rotschild in England. Der Sohn der Frankfurterin Adelheid de Rotschild, die Mitstifterin des Waisenhauses war, konnte mit Hilfe der Palestine Jewish Colonisation Association (PICA) tätig werden. Die PICA war von James Armand de Rotschilds Vater Edmond de Rothschild gegründet worden, zur Entwicklung jüdischer Siedlungen und industrieller Projekte in Palästina (Krohn 1995: 26). Er sagte am 11. Dezember 1938, 35 PICA-Zertifikate, also Einwanderungsgenehmigungen, inklusive finanzieller Ausstattung, zu. Es war nicht einfach, Kinder, die wie die Waisenhauskinder orthodox lebten, im zionistischen Palästina unterzubringen, doch nachdem diese Schwierigkeiten gelöst waren, erfolgte die Einschiffung auf der „Galiläa“ am 19. April 1939. Auch Markus Stutzmann war bei den 35 Auswanderern, die im Jugenddorf Kfar Hanoar Hadati unterkamen. Dort gingen sie zur Schule und halfen in der Landwirtschaft. Ein Jahr später gelang es 16 Mädchen auszuwandern (vgl. Krohn 1995).

Das Ehepaar Marx konnte in den folgenden Jahren etwa 1.000 Kinder retten, Gruppe für Gruppe konnte ins Ausland geschafft werden (vgl. Karpf 2003b). Isidor Marx wurde seit 1939 von der Gestapo gesucht und blieb deshalb in Palästina, später konnte er nach England ausreisen. Seine Frau, übernahm die Leitung des Waisenhauses. Rosa Marx wurde nach 1942, gemeinsam mit anderen Frauen und den letzten verbliebenen Kindern nach Theresienstadt deportiert, sie hat den Holocaust nicht überlebt (S.F. 1994: 138f.).

Markus wird Abraham – die Suche nach den Spuren der Mutter beginnt

Stuzmann kam mit den anderen Kindern im März 1939 auf dem Schiff „Galiläa“ nach Palästina, wo das Jugenddorf Kfar Hanoar Hadati (Dorf der religiösen Jugend) die Kinder des Frankfurter Kindertransports aufnahm (Krohn 1995: 7).

Das 1936 gegründete Dorf in der Nähe von Haifa, war maßgeblich von Eugen Michaelis aus Hamburg initiiert worden. Er wurde 1938 der Dirktor der Gemeinschaft, welche die Absicht hatte als Kommune mit orthodox-religiöser Ausrichtung eine landwirtschaftliche Ausbildung zu bieten (Feldman 1962). Heute beherbergt das Dorf eine der bedeutendsten landwirtschafltichen Hochschulen Israels, welche immerwieder Kinder und Jugendliche, die durch die Jugend-Aliayh nach Israel kamen und kommen, ausbildet (Kfar HaNoar HaDati).

In Kfar Hanoar Hadat blieb er bis 1946. Von 1946 bis 1949 lebte er im Kibuz Darom (HHStA). Markus Stutzmann hieß inzwischen Abraham Bar Ezer. Zu der Namensänderung, die in Palästina üblich war, schreibt der Journalist Uri Avnery: „Die Namensänderung symbolisierte eine ideologische Grundhaltung.“ (Avnery 2013).

Die Akte „Amalie Stutzmann zur Entschädigung“ im Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden (HHStA) beginnt 1957. In dieser Zeit beginnt wohl auch die Suche von Abraham Bar Ezer nach den Spuren seiner Mutter. Wobei sein Wissen über seine Herkunft äußerst dürftig war, er selbst schreibt: „Ich bin ohne prägendes Erbe gekommen – ein Waise in jeder Hinsicht. Ohne Eltern, ohne Verwandte, ja sogar ohne irgeneinen blassen Schimmer über die Geschichte meiner Familie.“ (Bar Ezer o.J.: 3)

Die Auskünfte von Nachbarn in Israel, die Bar Ezer noch aus Frankfurt kannte, bestätigten das wenige Wissen das er bereits hatte. Die Informationen, die er im Lauf der Zeit erwarb, etwa durch die Geburtsurkunden von sich und seiner Mutter, durch Auskünfte der Ursprungsgemeinden im Elsass und auch Deportationslisten legte er in der Broschüre „Die Feuersäule“ nieder, die er im Selbstverlag für seine Kinder und deren Kinder herausgab. Heute lebt er im Kreis seiner großen Familie in Israel und ist sehr stolz auf seine mutige Mutter.

Amalie Stutzmanns Deportation nach Minsk

Amalie Stutzmann wechselte ihre Wohnung, vermutlich kurz nach der Abreise ihres Sohnes am 25. April 1939. Gemäß den Frankfurter Adressbüchern (1940 und 1941) lebte sie im Jahr 1939 sowohl im Sandweg 11 als auch in der Hanauer Landstr. 17, einem Haus, welches der Israelitischen Suppenküche gehörte. Auch 1940 ist sie dort noch verzeichnet. Ab Mai 1941 konnte sie nicht mehr im Rothschild’schen Hospital arbeiten, da dieses im Mai des Jahres zwangsweise geschlossen worden war. Laut des Zeugens Leo Frankenthal (HHStA), hat sie im Gagernkrankenhaus weitergearbeitet.

Mit Wirkung vom 23. Oktober 1941 war es Juden verboten den deutschen Machtbereich zu verlassen, ausgenommen im Rahmen der „Evakuierungsaktionen“ (Gottwald/Schulle 2005: 61). Amalie Stutzmann wurde dem 2. Frankfurter Judentransport nach Minsk zugeteilt. Dieser war zunächst für den 2. November 1941 geplant. Vermutlich erhoben Frankfurter Rüstungsbetriebe Einspruch gegen den Abzug jüdischer Zwangsarbeiter (vgl. Kingreen 1999: 362), so fand diese Deportation am 11./12. November 1941 statt. Der Zug mit der Nummer D53 transportierte 1.042 Personen (nach anderen Quellen 1.052 (Yadvashem)), meist Familien mit mehreren Kindern und einige wenige alte Personen. Warum Amalie Stutzmann zu diesem Personenkreis gehörte, wissen wir nicht.

Die Betroffenen waren erst drei Tage zuvor über die Abfahrt informiert worden, wohin sie gebracht werden sollten wurde ihnen nicht mitgeteilt (ebd.: 362-366). Eine Vermutung ist, dass ihnen erzählt worden war, dass sie nach Amerika und Palästina kommen sollten, eine Hoffnung an die sich einige klammerten (vgl. Chovalsky 1986: 228). Als Sammelplatz war die Großmarkthalle bestimmt worden. Bereits hier wurden sie hart behandelt. Kingreen zitiert den Interviewpartner Bernie Lane (früher: Werner Levi): „die ganze Nacht Untersuchungen, Schreie und Schikanen ohne Ende“ (Kingreen 1999: 363). Der Transport dauerte sechs Tage und führte über Berlin, Warschau, Bialystok, Wolkowysk, Baranowitschi nach Minsk in Weißrußland. Die Menschen hatten zu Essen, jedoch kein Wasser, viele Menschen starben. Vermutlich am 17. November erreichte der Zug das Ghetto in Minsk, einige Tage zuvor waren Transporte aus Hamburg und Düsseldorf angekommen (vgl. ebd. 363).

Das Minsker Ghetto war zunächst für weißrussische Juden eingerichtet worden. Es umfasste 40 Straßen, war etwa zwei Quadratkilometer groß und bestand aus kleinen Hütten und zweistöckigen Steinhäusern. Um Platz für die Juden aus dem „Reich“ zu schaffen ermordeteten Deutsche 6.624 der weißrussichen Juden im Ghetto. In den Hütten lagen „tote Leute […] tote Kinder mit zerschmetterten Köpfen, kleine Babys“ berichtet Bernie Lane (ebd.: 363).

Das Minsker Ghetto war unterteilt in einen südlichen und einen nördlichen Teil, getrennt durch die Republikanskaja-Straße und Drahtzäune. Im nördlichen Teil waren auch weiterhin weissrussische Juden, der südliche Teil umfasste auch das „Sonderghetto“, in welchem die „Reich and Protectorate Jews“ (Cholavsky 1986: 222) untergebracht waren.

Über die Ankfunft im Ghetto berichtet Bernie Lane weiter: Sie mussten nun zu Fuß vom Bahnhof durch das völlig zerstörte Minsk zum Ghetto, das auf der anderen Seite der Stadt lag, gehen, hin zum „Sonderghetto“. Bis Ende November 1941 waren 7.000 Juden dort einquartiert worden. Die späteren Transporte aus dem Westen, von Juni bis September 1942, wurden sofort nach Maly Trostinetz gebracht, dem Tötungslager (vgl. Cholavky 1986: 221), das sich ca. 11 km südöstlich von Minsk befand (Wieselberg 2011).

Übersichtskarte des Ghettos Minsk
Epstein, Barbara 2008: The Minsk Ghetto 1941-1943:
Jewish Resistance and Soviet Internationalism, University of California Press, Lizenzangaben: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Map_of_the_Minsk_Ghetto.jpg?uselang=de [12.06.2020]

Nach Bernie Lane wurden die Frankfurterinnen und Frankfurter in kleine Holzhütten eingewiesen, pro Hütte 13-15 Personen, zwei bis drei Zimmer. Zunächst mussten sie die Toten wegschaffen. Man musste sich einrichten, meist mit Sachen der Toten aus den eigenen oder anderen Hütten. Man schlief auf dem Boden oder auf Holzbänken. Einige hatten einen Ofen in ihrem Raum.

Die deportierten Ärzte wurden nicht als Mediziner eingesetzt (Cholansky 1986). Die wenigen, die im Ghetto als Ärzte arbeiteten, mussten z.B. mit Küchenmessern operieren und es fehlte an Medizin, Vitaminen oder Seife (Cholavsky 1986: 239).

Bernie Lane berichtet weiter, dass man arbeiten musste, die Männer z.B. bei der Ziegelherstellung, die Frauen auf dem Feld. Es kam immer wieder zu willkürlichen Erschießungen, Arbeitsgruppen kamen dann nicht mehr von der Feldarbeit zurück. Erschießungen fanden wegen geringster Vergehen statt oder es gab „Aktionen“ wie im Mai 1943, als Gestapomänner in den Krankensaal des kleinen Hospitals kamen und alle Anwesenden erschossen (vgl. Kingreen 1999: 364f.).

Ab 1942 fuhren immer wieder graue große Wagen vor, Gaswagen. In solchen wurden Bernie Lanes Mutter und viele seiner Freunde umgebracht. Im Juli 1942 gab es eine „Aktion“ bei der 9.000 Menschen ermordet wurden, die Frankfurter, die im „Sonderghetto“ lebten blieben verschont (vgl. Kingreen 1999).

Verschärfend kam für die deutschen Juden in Minsk die Überalterung hinzu, wodurch nur eine geringe Zahl der Menschen als arbeitsfähig eingestuft waren. Sprachlich und psychisch waren sie von der Umgebung isoliert, was ein erfolgreiche Flucht beinahe unmöglich machte (vgl. Gerlach 1999: 756).

Über die Frankfurter Gruppe, zu der Amalie Stutzmann gehörte, stellt die Historikerin Monica Kingreen Vermutungen zu den Überlebenschancen an. Sie vermutet, dass in den ersten Monaten etwa 100 an Krankheit, Hunger und Verzweiflung getorben sind. Mindestens weitere 100 Personen an Krankheit in der folgenden Zeit. Etwa 400 Menschen wurden bei sogenannten Aktionen im Ghetto getötet oder in Gaswagen weggebracht oder kamen von Arbeitskommandos nicht zurück, 270 Peronen wurden bei der Eliminierung des Ghettos getötet. 30 Männer im April 1943 in andere Lager abgeschoben, ebenso im September 1943 etwa 80 Männer und etwa 30 Frauen. Lediglich 9 Männer erlebten nach Kingreens Vermutungen die Befreiung 1945. Auch nach Schätzungen der Autoren Alfred Gottwald und Diana Schulle überlebten von dem Frankfurter Transport nur 10 Personen (Gottwald/Schulle 2005: 93).

Das Ghetto Minsk wurde am 21. Oktober 1943 aufgelöst. Die bis zu diesem Zeitpunkt verbliebenen etwa 2.000 Häfltinge wurden in Todes- oder Arbeitslager transportiert (Epstein 2008a: 108).

Es gab im Ghetto Minsk auch ein Jüdisches Hospital (vgl. Epstein 2008a), welches als Zentrum des Widerstands beschrieben wird. Scheinbar betraf dies jedoch die weißrussischen Juden. Ob hier auch deutsche Juden beschäftigt waren bleibt zu untersuchen.

Die Route des Zuges in welchem Amalie Stutzmann deportiert wurde und die entsprechende Deportationsliste kann in Yadvashem eingesehen werden (Yadvashem).

Seit 2002 arbeitet in Minsk die Geschichtswerkstatt, die eine Website unterhält (Geschichtswerkstatt Minsk). Sie befindet sich in einem „historischen Gebäude auf dem Gelände des ehemaligen Minsker Ghettos“.

Edgar Bönisch, Stand November 2021

Literatur

Unveröffentlichte Quellen

  • ISG Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, Signatur: Hausstandsbuch 186/742: Rhönstraße 47-55
  • HHStA Hessisches Hauptstaatsarchiv: Entschädigungsakte Amalie Stutzmann, Signatur: 47286

 

Ausgewählte Literatur

  • Andernacht, Dietrich/Sterling, Eleonore (Bearb.) 1963: Dokumente zur Geschichte der Frankfurter Juden 1933-1945. Frankfurt am Main
  • Bar Ezer, Abraham o.J.: Die Feuersäule. Zum Andenken an meine Mutter Amalie Stutzmann, Gott habe sie selig. Selbstverlag
  • Cholavsky, Shalom 1986: The German jews in the Minsk ghetto, in: Yad Vashem studies, 17, S. 219 – 245
  • Epstein, Barbara 2008a: The Minsk Ghetto, 1941-1943. Jewish Resistance and Soviet Internationalism, Berkely
  • Frankfurter Adreßbuch 1931, Frankfurt a.M.
  • Frankfurter Adreßbuch 1932, Frankfurt a.M.
  • Frankfurter Adreßbuch 1933, Frankfurt a.M.
  • Frankfurter Adreßbuch 1937, Frankfurt a.M.
  • Frankfurter Adreßbuch 1939, Frankfurt a.M.
  • Frankfurter Adreßbuch 1940, Frankfurt a.M.
  • Frankfurter Adreßbuch 1941, Frankfurt a.M.
  • Frankfurter Adreßbuch 1942, Frankfurt a.M.
  • Gerlach, Christian 1999: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941-1944. Institut für Sozialforschung. Hamburger Edition
  • Gottwald, Alfred/Schulle, Diana 2005: Die Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden
  • Hofacker, Karl 1932: Die Anstalten des Verbandes Frankfurter Krankenanstalten, Düsseldorf
  • Hofmann, Willy 1932: Die Stellung der jüdischen Weltanschauung zu Krankheit, Arzt und Medizin, Frankfurt am Main
  • Initiative Stolperstein Frankfurt am Main (Hg.) 2016: Stolpersteine in Frankfurt am Main. Band 1, zehn Rundänge. Frankfurt am Main
  • Kingreen, Monica 1999: Gewaltsam verschleppt aus Frankfurt. Die Deportationen der Juden in den Jahren 1941-1945, in: Monica Kingreen (Hg.) Nach der Kristallnacht. Jüdisches Leben und antijüdische Politik in Frankfurt am Main 1938-1945, Farnkfurt a. M., S. 357-402
  • Krohn, Helga 1995: Vor den Nazis gerettet. Eine Hilfsaktion für Frankfurter Kinder 1939/40. Frankfurt am Main und Sigmaringen
  • Krohn, Helga 2004: „Auf einem der luftigsten und freundlichsten Punkte der Stadt, auf dem Röderberge, sind die jüdischen Spitäler“, in: Jüdisches Museum Frankfurt am Main 2004, 2. Auflage: Ostend. Blick in ein jüdisches Viertel, Frankfurt am Main
  • RothHospStatut 1878: Statuten für die Georgine Sara v. Rothschild´sche Stiftung für erkrankte fremde Israeliten in Frankfurt a.M., Frankfurt a.M. 1878
  • RothHospHausordnung 1878: Hausordnung für die Georgine Sara v. Rothschild´sche Stiftung für erkrankte fremde Israeliten in Frankfurt a.M., Frankfurt a.M.
  • Schiebler, Gerhard 1994: Stiftungen, Schenkungen, Organisationen und Vereine mit Kurzbiographien jüdischer Bürger, in: Arno Lustiger (Hg.) 1994: Jüdische Stiftungen in Frankfurt am Main. Sigmaringen
  • S.F. 1994: Am 1. April 1933, dem Boykottsamstag, wurde ich angefallen und geschlagen, in: Benjamin Ortmeyer (Hg.): Berichte gegen Vergessen und Verdrängen. Von 100 überlebenden jüdischen Schülerinnen und Schülern über die NS-Zeit in Frankfurt am Main, Wehle
  • Soden, Kristine von 1995: „Und dann kamen keine Briefe mehr“, in: Helga Krohn: Vor den Nazis gerettet. Eine Hilfsaktion für Frankfurter Kinder 1939/40, Sigmaringen, S. 59-82
  • Stern, Baruch 1932: 50 Jahre Israelitische Volksschule Frankfurt am Main. Frankfurt am Main

Internetquellen

  • Adressbuch Darmstadt 1927:
    http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/Zs-4159-1927/0045?sid=f10e5a1101c33382041858c77f05e9de (24.5.18)
  • Avnery, Uri 2013:
    http://www.lebenshaus-alb.de/magazin/008225.html (10.05.2018)
  • Epstein, Barbara 2008b:
    https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Map_of_the_Minsk_Ghetto.jpg (22.06.18)
  • Feldman, Frederique 1962: Avraham Eugen Michaelis (1907 – 1974), in: Youth Aliyah Review, London, Autumn Issue, 1962, http://www.kfarnoar.org/pages/family/family_EugenE.php (22.06.18)
  • Geschichtswerkstatt Minsk
    http://gwminsk.com/de (22.06.18)
  • Initiative 9. November:
    http://www.initiative-neunter-november.de/veranstaltungen.html (25.4.18)
  • Jüdische-Pflegegeschichte: Stutzmann, Amalie
    https://www.juedische-pflegegeschichte.de/recherche/?dataId=168715235052813&opener=318090800447749&id=131724555879435 (21.06.18)
  • Karpf, Ernst 2003a:
    Die Jüdische Gemeinde nach dem Novemberpogrom 1938 bis zur ihrer Auflösung 1942, http://www.ffmhist.de/ffm33-45/portal01/portal01.php?ziel=t_jm_gemeinde_ab_1938 (23.01.2018)
  • Karpf, Ernst 2003b:
    Kinderauswanderung und Kindertransporte, http://www.ffmhist.de/ (28.Juni 2017)
  • Kfar HaNoar HaDati:
    (https://en.wikipedia.org/wiki/Kfar_HaNoar_HaDati)
  • Marx, Isidor:
    https://www.geni.com/people/Isidore-Marx/4468231371310054754 (28.06.17)
  • Marx, Rosa:
    https://www.geni.com/people/Rosa-Marx/4468231406240012635 (28.06.17)
  • Meyers Großes Konversations-Lexikon Band 5, Leipzig 1906, S. 830: http://www.zeno.org/Meyers-1905/A/Entbindungsanstalten (31.5.18)
  • Seemann, Birgit 2014: Das Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung (1870 – 1941) Teil 1: eine Klinik unter orthodox-jüdischer Leitung, https://www.juedische-pflegegeschichte.de/das-hospital-der-georgine-sara-von-rothschildschen-stiftung-1870-1941-teil-1/ (27.04.18)
  • Seemann, Birgit 2016 [2014]: Das Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung (1870 – 1941) Teil 2: Standort Röderbergweg, https://www.juedische-pflegegeschichte.de/das-hospital-der-georgine-sara-von-rothschildschen-stiftung-1870-1941-teil-2/ (27.04.18)
  • Seemann, Birgit 2018: Das Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung (1870 – 1941) Teil 3: der Umbau 1931/32 und sein Architekt Fritz Nathan, https://www.juedische-pflegegeschichte.de/das-hospital-der-georgine-sara-von-rothschildschen-stiftung-1870-1941-teil-3/ (21.06.18)
  • Stadt Frankfurt: Stutzmann, Amalie
    https://www.frankfurt.de/sixcms/detail.php?id=2509335&_ffmpar[_id_inhalt]=9482131 (25.4.18)
  • Werner, Claudia: Die erste Geburtsklinik in Hamburg – ein Wunder, in: Hamburger Abendblatt 10.3.17, https://www.abendblatt.de/hamburg/hamburg-nord/article209889541/Die-erste-Geburtsklinik-in-Hamburg-ein-Wunder.html (21.06.18)
  • Wieselberg, Lukas 2011: Maly Trostinec: Das unbekannte Nazi-Todeslager
    http://sciencev2.orf.at/stories/1691097/index.html
  • Yadvashem: Statistik und Deportation der jüdischen Bevölkerung aus dem Deutschen Reich:
    http://db.yadvashem.org/deportation/transportDetails.html?language=de&itemId=9437934 (22.06.18)

In „liebenswürdiger Weise zur Verfügung gestellt“: die Frankfurter jüdische Krankenpflege und ihr überregionales Netzwerk

Verbindungen des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins zu anderen Institutionen im Überblick

Abb. 1: Erwähnung von Oberin Sophie Meyer im Bericht (Auszug) über das Israelitische Krankenheim Bad Neuenahr in: Allgemeine Zeitung des Judentums, 26.05.1911
Online: Alemannia Judaica Bad Neuenahr [letzter Aufruf am 17.12.2020]

Frankfurt am Main – Köln – Hamburg – Heilbronn – Bad Neuenahr – Aachen: An all diesen Orten war Schwester Sophie Meyer im Auftrag des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt a.M. mit Tatkraft und Unternehmungsgeist im Einsatz. Ihre beruflichen Stationen zeugen von der überregional wegweisenden Bedeutung des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins für die professionelle deutsch-jüdische Krankenpflege. Der folgende Überblick markiert den Beginn einer Spurensuche.

Innerjüdische Verbindungen

Die überregionale Vernetzung war stets ein Hauptanliegen des am 23. Oktober 1893 als erster deutsch-jüdischer Schwesternverband errichteten Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt a.M.: Galt es doch, die berufliche Krankenpflege der jüdischen Minderheit im Deutschen Kaiserreich zu profilieren und weiter auszubauen. Für dieses Ziel begründete der Frankfurter Schwesternverein am 31. Oktober 1905 den DVJK (Deutscher Verband jüdischer Krankenpflegerinnen) mit (vgl. Steppe 1997: 116-122). Die Historie dieser Dachorganisation bleibt – anders als bei der 1917 errichteten ZWST (Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden) (vgl. Hering u.a. 2017) – noch aufzuarbeiten. Mit der bis heute aktiven ZWST hat der DVJK auf dem Gebiet der jüdischen Krankenfürsorge und Wohlfahrtspflege eng kooperiert (vgl. Steppe 1997: 135).

Nach dem Ersten Weltkrieg fusionierte der DVJK mit dem 1919 gegründeten Bund jüdischer Kranken- und Pflegeanstalten. Nach den Forschungsergebnissen der Pflegehistorikerin Hilde Steppe vertrat dieser Dachverband im Jahr 1927 „64 Anstalten“, darunter „vierzehn jüdische Krankenhäuser mit 1417 Betten und etwa 300 im Pflegedienst beschäftigten Personen“; zu einem Drittel war das Pflegepersonal „nicht jüdisch“ (ebd.: 136). Weitere Kontakte unterhielt der DVJK zu dem 1904 gegründeten JFB (Jüdischer Frauenbund) (vgl. Kaplan 1981). Die Mitbegründerin und langjährige Vorsitzende des JFB, die bekannte Sozialreformerin und Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim (1859–1938), hat „zumindest zeitweise regen Anteil an der Entwicklung des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen in Frankfurt, ihrem langjährigen Wohnort“ genommen (ebd.: 139). Die berufliche jüdische Krankenpflege unterstützten von Beginn der DIGB (Deutsch-Israelitischer Gemeindebund), vor allem aber der deutsch-jüdische Logen-Verband Unabhängiger Orden Bne Briss mit der besonders aktiven Frankfurt-Loge (1888 gegründet, vgl. Eintrag bei Jüdische Pflegegeschichte).

Verbindungen zu nichtjüdischen Organisationen

Hinsichtlich der außerjüdischen Verbindungen des DVJK erwähnt Hilde Steppe (1997: 146) „sehr punktuell direkte Kontakte“ der jüdischen Schwesternvereinigungen zum BDF (Bund Deutscher Frauenvereine), dem Dachverband der bürgerlichen Frauenbewegung. 1919 organisierten sich die evangelischen, katholischen, jüdischen und Rotkreuzmutterhäuser im Bund Deutscher Mutterhausschwestern- und Bruderschaften (ebd.: 149). Nach eigenen Angaben vertrat der Bund „90% aller Pflegepersonen, nämlich insgesamt 110 000 Angehörige verschiedener Schwestern- und Bruderschaften, darunter 350 Krankenschwestern der jüdischen Vereine“ (ebd.: 149). Bei den christlichen Vereinigungen überwog zu diesem Zeitpunkt das Interesse, ein überkonfessionelles Bündnis gegen die Säkularisierung, Verstaatlichung und befürchtete ‚Sozialisierung‘ des Gesundheitswesens zu schmieden, alle innerchristlichen Fraktionierungen und antijüdischen Abgrenzungen, obgleich sich der Antisemitismus spätestens nach der deutschen Kriegsniederlage wieder lautstark artikulierte. In den 1920er Jahren ging der Bund im Reichsverband der privaten, gemeinnützigen Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands – seit 1931: Reichsverband der freien gemeinnützigen Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands – auf (ebd.: 151).

1929 errichteten die Schwesternschaften des Deutschen Roten Kreuzes, die evangelischen Schwesternschaften sowie die freiberuflichen Vereinigungen Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands und Reichsverband der Krankenschwestern die AGWK (Arbeitsgemeinschaft der weiblichen Krankenpflegeorganisationen). Hier entschloss sich der Deutsche Verband jüdischer Krankenpflegerinnen – als letzte Vereinigung nach dem Beitritt des katholischen Caritasverbands im Februar 1931 – erst im August 1931 zur Mitgliedschaft (ebd.: 154) und entsandte als Vertreterin Martha Salinger (Lebensdaten bislang nicht recherchiert), die Oberin des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Berlin. Nur wenige Jahre später verstießen die NS-gleichgeschalteten beruflichen Dachverbände die jüdischen Krankenschwestern und ihre Vereinigungen aus ihren Reihen. ,Vergessen‘ war die enge Zusammenarbeit in den Lazaretten des Ersten Weltkriegs; der jüdische Anteil an der Verbandsarbeit für die überkonfessionelle berufliche Krankenpflege und -fürsorge wurde totgeschwiegen. Ebenso bleibt weiter zu untersuchen, ob die jüdische Pflege trotz ihres bürgerlichen und religiösen Profils vor und während der NS-Zeit Kontakte zu NS-oppositionellen gewerkschaftlichen und sozialistischen Krankenpflegevereinigungen unterhielt.

Eine Erfolgsstory: die „Außenstellen“ des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins

Die überregionale Vernetzung des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main mit etlichen „Außenstellen“ (zit. n. Steppe 1997: 223) verweist auf dessen hervorragende Verbindungen zu jüdischen Gemeinden und das hohe Ansehen seiner Pflegeausbildung im gesamten Kaiserreich. Neben zeitlich begrenzten Noteinsätzen Frankfurter jüdischer Schwestern – u.a. die Versorgung Typhuskranker in den hessischen Orten Ulmbach (heute Stadtteil von Steinau an der Straße, Main-Kinzig-Kreis) und Nidda (Wetteraukreis) (ebd.: 205) – erfolgte der gezielte Auf- und Ausbau von Kontakten zu anderen Städten und Regionen, häufig auf Nachfrage der dortigen jüdischen Kliniken und Pflegeheime. So entstand bereits 1893, im Gründungsjahr des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins, eine enge Kooperation mit dem Jüdischen Krankenhaus zu Köln (vgl. Steppe 1997: 205; Becker-Jákli 2004; Seemann 2015). Auch in das Israelitische Krankenhaus zu Hamburg entsandte der Schwesternverein seit 1898 seine fähigen Absolventinnen mit dem Auftrag, vor Ort eine moderne Pflege, Ausbildung und berufliche Selbstorganisation aufzubauen (vgl. Steppe 1997: 205; Jenss [u.a.] 2016; Seemann i.E.). Die Oberinnen wurden mit Frieda Brüll (1866–1942, später verheiratete Wollmann) und Klara Gordon (1866–1937) zwei Mitbegründerinnen des Frankfurter Vereins, welche dann den 1899 und 1907 in Köln und Hamburg errichteten jüdischen Schwesternvereinen vorstanden. Auch am Frankfurter Hauptstandort selbst etablierte der Schwesternverein auf Nachfrage langjährige Außenstellen: So wirkten in seinem Auftrag zwischen 1894 (vgl. Steppe 1997: 225, Nr. 5) und 1919 im orthodox-jüdischen Pflegeheim Gumpertz’sches Siechenhaus (vgl. Seemann/ Bönisch 2019) die Oberinnen Thekla Mandel (1867–1941, später verheiratete Isaacsohn), eine weitere Mitbegründerin des Schwesternvereins, und Rahel Spiero (1876–1949, später verheiratete Seckbach); letztere wurde nach ihrem Ausscheiden aus dem Schwesternverein wegen Heirat 1919 vom Verein Gumpertz‘sches Siechenhaus als Oberin und Verwalterin übernommen. Die Vielzahl und Vielfalt der durch Frankfurter jüdische Krankenschwestern errichteten und geleiteten Außenstellen der Pflege beeindruckt noch heute, wie auch die tabellarische Übersicht von Hilde Steppe (1997: 260-261; die teils variierenden Jahreszahlen bleiben in der weiteren Forschung noch zu prüfen).

Außenstellen des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt a.M., 1891–1919
Nachweis: Steppe 1997: 260-261

Um 1905 werden an „weiteren neuen Arbeitsgebieten“ die „Gemeindepflege in Heilbronn und die Leitung einer Erholungsstätte für Mädchen in König im Odenwald übernommen“ (ebd.: 208). Über das Mädchenerholungsheim im heutigen Bad König (Odenwaldkreis, Hessen, vgl. zur jüdischen Geschichte Alemannia Judaica Bad König) und seinem Personal liegen bislang keine weiteren Informationen vor. Von den in der nordbadisch-jüdischen Gemeinde Heilbronn (Baden-Württemberg) eingesetzten Frankfurter Pflegekräften sind Frieda Amram, Margarethe Hartog, Henriette Kochmann, Sophie Meyer, Clara (Claire) Simon und Rosa Spiero namentlich bekannt. In Heilbronn wurde einem Bericht zufolge bereits 1877, vor der Entstehung der beruflich organisierten jüdischen Krankenpflege, eine nicht näher beschriebene jüdische „Anstalt für Krankenpflegerinnen“ eröffnet (laut Bericht in: AZdJ, 09.10.1877, online bei Alemannia Judaica Heilbronn); möglicherweise baute der Frankfurter jüdische Schwesternverein vor Ort eine eigene Schwesternstation auf.

Im Jüdischen Krankenhaus zu Hannover (vgl. Kap. 2.1) in Niedersachsen und sogar in der Schweiz – hier im Israelitischen Spital zu Basel (vgl. Steppe 1997: 209; Bönisch 2015) – errichtete der Frankfurter jüdische Schwesternverein 1907 weitere wichtige Außenstellen. 1910 folgte in Oberstedten (heute Stadtteil von Oberursel (Taunus), Hessen) das Genesungsheim der Eduard und Adelheid Kann-Stiftung (vgl. Bönisch 2014). Überdies wurde eine Krankenschwester „in der Klinik in Bad Neuenahr eingesetzt“ (vgl. Steppe 1997: 210): Gemeint ist hier das Israelitische Krankenheim zu Bad Neuenahr (heute Bad Neuenahr-Ahrweiler, Rheinland-Pfalz), das ähnlich wie das Frankfurter Gumpertz‘sche Siechenhaus bedürftige Frauen und Männer mit Gebrechen und chronischen Erkrankungen versorgte. Mitbegründer des Trägervereins war der Frankfurter Stifter und Wohltäter Raphael Ettlinger (1852–1909), vermutlich mit Unterstützung der von ihm mitbegründeten Frankfurt-Loge des Unabhängigen Ordens Bne Briss. Bis zur Eröffnung des eigentlichen Krankenheims ein Jahrzehnt später kamen die Patientinnen und Patienten in der Privatpflege unter.

Anzeige in Frankfurter Israelitisches Familienblatt, 15.04.1908
Online: Alemannia Judaica Bad Neuenahr sowie Alicke 2017: Bad Neuenahr [letzter Aufruf am 17.12.2020]

Zu Recht setzte der Trägerverein sein Vertrauen auf eine Absolventin des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins. Über Sophie Meyer, die erste Oberin des im Mai 1910 offiziell eingeweihten orthodox-jüdischen Krankenheims, berichtete am 26. Mai 1911 die Allgemeine Zeitung des Judentums (online nachzulesen bei Alemannia Judaica Bad Neuenahr):

„Seit dem vorigen Jahr [1910, B.S.] hat der Verein in einem […] gemieteten Hause seine Aufgaben unmittelbar in Angriff genommen und die Leitung in die vertrauenswerten Hände der vorzüglich bewährten Oberschwester Sophie Meyer niedergelegt, die der Frankfurter Schwesternverein uns in liebenswürdiger Weise zur Verfügung gestellt hat.“

Das Israelitische Krankenheim zu Bad Neuenahr bestand vermutlich bis 1938/40.

Allerdings wurden, wie Hilde Steppe (1997: 211) schreibt, bereits vor dem Ersten Weltkrieg aufgrund „des steigenden Bedarfs an Privatpflege in Frankfurt […] etliche Einsatzorte außerhalb wieder aufgegeben, so Basel, Heilbronn und Bad Neuenahr“. Doch verantwortete der Frankfurter jüdische Schwesternverein von 1911 bis 1918 den gesamten Pflegedienst des Israelitischen Krankenhauses zu Straßburg im Elsass (vgl. Seemann 2017, 2018a, 2018b). 1912 und 1913 folgen in den heutigen Bundesländern Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen mit dem Friedrich-Luisen-Hospiz zu Bad Dürrheim und dem Israelitischen Altenheim zu Aachen (Kap. 2.3) zwei weitere wichtige Außenstellen. Eine weitere ‚Dependance‘ entstand nach dem Ersten Weltkrieg in Baden-Württemberg:

„In Pforzheim sind schon 1918 Krankenschwestern während einer schweren Typhusepidemie tätig; aus dieser Erfahrung heraus wird dort im Juli 1919 ein eigenes jüdisches Schwesternheim eingerichtet, dessen Krankenschwestern alle vom Frankfurter Verein gestellt werden“ (Steppe 1997: 224, siehe auch ebd.: 112).

Namentlich bekannt sind bislang Edith Beihoff, Beate Berger, Paula Block und Hilde Rewalt. Möglicherweise erhöhte auch der im Zuge der deutschen Kriegsniederlage wieder aufflammende Antisemitismus das Bedürfnis nach einer eigenen beruflichen jüdischen Pflege, die es zuvor in Pforzheim nicht gab. Vermutlich existierte das jüdische Schwesternheim (bei Alemannia Judaica Pforzheim nicht erwähnt) nur vorübergehend, seine Geschichte ist noch zu erforschen.

Ebenfalls 1919 übernahm der Frankfurter jüdische Schwesternverein mit dem Lungensanatorium Ethania (auch: Etania) in Davos neben dem Israelitischen Spital zu Basel die Leitung einer weiteren Schweizer jüdischen Pflegeeinrichtung (vgl. Steppe 1997: 224; Bönisch 2015; Alemannia Judaica Davos). In den Folgejahren eröffnete der Verein – abgesehen von der personellen Unterstützung des 1932 eröffneten jüdischen Krankenhauses zu Alexandria (Ägypten) durch die Entsendung von Schwester Thea Levinsohn-Wolf (1907–2005, vgl. dies. 1996) offenbar keine weiteren Außenstellen. Vielmehr konzentrierte er sich auf den wachsenden Pflegebedarf in Frankfurt am Main und Region. Doch wurden nach dem Ersten Weltkrieg „sowohl in Hannover und Aachen als auch in Dürrheim Frankfurter jüdische Krankenschwestern weiterhin als Oberinnen eingesetzt“ (Steppe 1997: 223f., 225-232). Alle drei Einsatzorte werden im Folgenden vorgestellt – auch als Anregung zu weiteren Forschungen.

Oberin Emma Pinkoffs in Hannover (Jüdisches Krankenhaus mit Altersheim und
Krankenpflegeschule)

Drei Jahrzehnte lang stand Emma Pinkoffs (auch: Pincoffs) der Pflege des Jüdischen Krankenhauses Hannover vor, seit 1907 Außenstelle des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt a.M. (vgl. ebd.: 209, 225). Im Gründungsjahr 1893 vom Frankfurter Schwesternverein ausgebildet, gehört Oberin Pinkoffs zu der ‚Pionierinnen‘- Generation der beruflichen jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Geboren wurde sie laut Eintrag in der Online-Datenbank ,Bedeutende Frauen in Hannover‘ (2013: 51) am 30. März 1863 in Gollnow (Westpommern, heute Goleniów, Polen). Das Krankenhaus, dessen Bettenzahl anfangs 27 und nach der Erweiterung 1914 mindestens 60 Betten betrug, hatte sich auf Chirurgie, Innere Medizin und Gynäkologie spezialisiert. Angeschlossen waren eine Krankenpflegeschule sowie ein Altersheim für jüdische Bewohner/innen (vgl. Schulze 2009: 330; siehe auch einführend den Wikipedia-Artikel: Jüdisches Krankenhaus (Hannover)).

Bis zur nationalsozialistischen Zäsur war der Anteil der nichtjüdischen Patientinnen und Patienten hoch: So wurden 1918 125 jüdische und 572 nichtjüdische Kranke versorgt. Im Juli 1942 wurde die Institution von den Nationalsozialisten zwangsgeräumt, die sie zuvor als ‚Ghettohaus‘ und Sammellager missbraucht hatten. Die Zerstörung ihres Lebenswerks musste Emma Pinkoffs nicht mehr persönlich erleben, da sie nach ihrer Pensionierung 1937 nach Berlin gezogen war. Dort verstarb die angesehene Oberin am 25. Februar 1940 mit 76 Jahren und erhielt ihre letzte Ruhestätte auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee.

Der ab 2006 sanierte Gebäudekomplex des in der Shoah vernichteten Jüdischen Krankenhauses zu Hannover steht heute unter Denkmalschutz. Zum Gedenken wurde eine Stadttafel angebracht.

Stadttafel Hannover (Nr. 96) an der Mauer vor der Ellernstraße 39 im Stadtteil Zoo: ehemaliges Jüdisches Krankenhaus Hannover mit Altersheim und Totenhaus
Fotograf: Bernd Schwabe in Hannover, 16.09.2013, Wikimedia, und https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de [letzter Aufruf am 17.12.2020]

Die Oberinnen Dorothea Kochmann und Bettina Falk in Bad Dürrheim (Friedrich-Luisen-Hospiz)

Ankündigung mit Erwähnung von Oberin Dorothea Kochmann in Frankfurter Israelitisches Familienblatt, 03.05.1912
Online: Alemannia Judaica Bad Dürrheim: Friedrich-Luisen_Hospiz [letzter Aufruf am 17.12.2020]

Das Friedrich-Luisen-Hospiz in Bad Dürrheim (Baden-Württemberg) mit anfangs mindestens 70, später 105 Plätzen war seit dem Eröffnungsjahr 1912 Außenstelle des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins (vgl. Steppe 1997: 224; siehe auch Wahl/ Schellinger 2012; Zimmermann 2013; Alemannia Judaica Bad Dürrheim: Friedrich-Luisen-Hospiz). Das rituell geführte und zugleich hochmoderne „Erholungsheim für israelitische Kinder und minderbemittelte Erwachsene“ war weit über Baden hinaus bekannt. Die Namensträgerin Großherzogin Luise zeigte sich bei ihrem Besuch höchst angetan.

Bericht von Großherzogin Luises Hospiz-Besuch in Frankfurter Israelitisches Familienblatt, 05.09.1913
Online: Alemannia Judaica Bad Dürrheim: Friedrich-Luisen-Hospiz [letzter Aufruf am 17.12.2020]

Großen Anteil an Erfolg und Bedeutung des stark frequentierten Hospizes hatte seine erste Oberin Dorothea Kochmann. Ihre Ausbildung im Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt a.M. hatte sie 1905 abgeschlossen – gemeinsam mit Henriette Kochmann, vermutlich ihre Schwester. Vor ihrem Einsatz im Friedrich-Luisen-Hospiz arbeitete Dorothea Kochmann in der Privatpflege sowie im Hospital der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main („Königswarter Hospital“), Henriette Kochmann bewährte sich „in Heilbronn, in der Privatpflege, im ersten Weltkrieg in der Etappe“ (Steppe 1997: 228). Beider Lebensdaten sind bislang unbekannt und liegen auch dem Stadtarchiv Bad Dürrheim nicht vor (Auskunft per Mail v. 29.08.2018). Für das Jahr 1924 berichtet das Periodikum Der Israelit von einem Leitungswechsel: „Anstelle der unvergesslichen Oberin Dorothea Kochmann hat Mitte Juli die bisherige Krankenschwester am Israelitischen Spital in Basel, Bettina Falk aus Mergentheim, die Leitung des Friedrich-Luisen-Hospizes übernommen. Dank ihrer früheren Tätigkeit im Hospiz (1920–1922) […] bereitete ihr die neue Aufgabe keine Schwierigkeiten. Gleich ihrer Vorgängerin legt die neue Oberin auf die religiöse Führung der Anstalt hohen Wert.“(Zitiert nach: Der Israelit, 04.09.1924, online: Alemannia Judaica Bad Dürrheim: Friedrich-Luisen-Hospiz [letzter Aufruf am 17.12.2020]).

Dass Bettina Falk wie ihre Vorgängerin Dorothea Kochmann dem Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt a.M. angehörte, ist aufgrund verschollener Akten nicht belegt, doch sehr wahrscheinlich, pflegte sie doch vor ihrem Bad Dürrheimer Einsatz an einer früheren Außenstelle des Frankfurter Schwesternvereins, dem Israelitischen Spital zu Basel. Geboren wurde Oberin Falk am 28. März 1889 in Bad Mergentheim (Baden-Württemberg), ihre ebenfalls unverheiratete jüngere Schwester Emilie Falk (geb. 25.02.1895) arbeitete im Friedrich-Luisen-Hospiz als Sekretärin. Unter dem Nationalsozialismus wurde das jüdische Hospiz bereits 1939 zwangsweise aufgelöst. Ein Jahr später zogen die Schwestern Falk nach Frankfurt am Main – Bettina Falk in den Sandweg 7, Emilie Falk in den Röderbergweg, wo sie vermutlich als Bürokraft im Israelitischen Waisenhaus unterkam. Beide wurden am 24. September 1942 von Frankfurt nach Estland deportiert, wo sich ihre Lebensspuren verlieren; möglicherweise fielen sie dem Morden in Raasiku (NS-‚Tötungsstätte‘) bei Reval (heute Tallinn) zum Opfer. Am Standort Luisenstraße 56 des NS-vernichteten Friedrich-Luisen-Hospizes befindet sich heute die Luisenklinik (Zentrum für Verhaltensmedizin): Die Benennung eines 2010 eingeweihten Erweiterungsbaus – des Bettina-Falk-Hauses – nach der in der Shoah ermordeten Oberin Bettina Falk dokumentiert eine vorbildliche Erinnerungsarbeit (vgl. die Internetseite: Das Klinikum. Die Geschichte der Luisenklinik https://www.luisenklinik.de [letzter Aufruf am 17.12.2020].

Oberin Sophie Meyer in Aachen (Israelitisches Altenheim)

Wie Emma Pinkoffs gehörte auch Sophie Meyer (auch: Maier) – zuweilen „Schwester Bertha“ genannt (vgl. Steppe 1997: 226) – zu den ersten ausgebildeten jüdischen Pflegenden in Deutschland. Geboren wurde sie am 27. Februar 1865 im westfälischen Bergkirchen (Kreis Minden; heute ein Kirchdorf innerhalb der Stadt Bad Oeynhausen in Nordrhein-Westfalen; ISG Ffm HB 655, Bl. 51). Interessiert an einer fortschrittlichen Pflegeausbildung in einem jüdischen Umfeld, verließ Sophie Meyer ihr Heimatdörfchen und bewarb sich erfolgreich beim Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt a.M. Vom Frankfurter Schwesternverein wurde sie an dessen Kölner Außenstelle (Jüdisches Krankenhaus mit Oberin Frieda Brüll) „abgeordnet“ (Steppe 1997: 106) und legte dort 1897 ihr Schwesternexamen ab. Danach bewährte sie sich im Hospital der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main („Königswarter Hospital“) und in der Privatpflege. Zum zehnjährigen Dienstjubiläum zeichnete sie der Schwesternverein 1907 mit der Goldenen Brosche aus. Nach erfolgreichen Einsätzen in Hamburg (Israelitisches Krankenhaus mit Oberin Klara Gordon), Heilbronn (Privatpflege in der jüdischen Gemeinde) und Bad Neuenahr (Israelitisches Krankenheim) stellte sich Sophie Meyer einer weiteren beruflichen Herausforderung: Sie stieg zur Oberin und Leiterin des 1913 eröffneten Israelitischen Altenheims zu Aachen mit 16 (später 24) Plätzen auf. Auch diese Frankfurter Außenstelle „muss eine sehr moderne, hohen medizinischen Anforderungen gerecht werdende Anlage gewesen sein“ (Klein 1997: 51; siehe auch Bierganz/ Kreutz 1988; Bolzenius 1994; Lepper 1994). Das Heim verfügte über einen eigenen Operationssaal und war in eine erholsame Gartenlandschaft eingebettet. Unterstützung erhielt die Oberin von Schwester Babette Zucker (Lebensdaten unbekannt, Ausbildungsjahr 1909, vgl. Steppe 1997: 229) und vermutlich weiteren Frankfurter Kolleginnen. Aufgrund der lückenhaft dokumentierten Personalgeschichte ist ungeklärt, ob Sophie Meyer bis zu ihrer Pensionierung im Amt blieb. Als das Israelitische Altenheim in die Hände der Nazis fiel und um 1941 als ‚Ghettohaus‘ und Sammellager missbraucht wurde, hatte sie Aachen längst verlassen und war nach Frankfurt am Main in die Jügelstraße 46 gezogen. Ihr letzter Alterssitz wurde am 25. März 1937 das Frankfurter jüdische Schwesternhaus. Am 4. November 1940 (ISG Ffm: HB 655, Bl. 51) verstarb mit der 75-jährigen Sophie Meyer eine Persönlichkeit, die ihr gesamtes Leben der Pflege gewidmet und immer wieder die berufliche Herausforderung gesucht hatte – eine jüdische Krankenschwester mit ‚Leib‘ und ‚Seele‘. Die nur zwei Wochen später folgende nationalsozialistische Zwangsräumung des Schwesternheims und die Vertreibung und Deportation ihrer Kolleginnen musste sie nicht mehr erleben. An das von Sophie Meyer geleitete frühere Israelitische Altenheim zu Aachen erinnert seit 1989 ein Gedenkstein.

Denkmal für die 1942 deportierten Bewohnerinnen und Bewohner des jüdischen Altenheims in Aachen-Burtscheid, Kalverbenden – Fotograf: Norbert Schnitzler, 26.10.2004, https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Aachen_Denkmal_Altenheim_Kalverbenden.jpg und https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de [letzter Aufruf am 17.12.2020]

Fazit

Von Deutschland (bis zum Ende des Ersten Weltkriegs mit Elsaß-Lothringen) über die Schweiz bis nach Ägypten und möglicherweise weiteren bislang unbekannten Orten und Regionen – in der jüdischen Welt war die Wertschätzung der beruflichen wie religiöskulturellen Kompetenz der Schwestern des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt a.M. durchaus verbreitet. So zog Hilde Steppe (1997: 207) bereits für die Wende zum 20. Jahrhundert folgendes Resümee:

„Insgesamt hat sich die jüdische Krankenpflege in Frankfurt fest und erfolgreich mit einer kleinen Gruppe von Krankenschwestern etabliert, wobei der Bedarf das Angebot weit übersteigt, so daß nach wie vor etliche Anfragen vor allem von außerhalb abgelehnt werden müssen.“

Sowohl bei den jüdischen wie bei den nichtjüdischen Patientinnen und Patienten waren die in den „Außenstellen“ eingesetzten Frankfurter Schwestern stets bestrebt, in Zeiten von Antisemitismus und ‚Assimilation‘ das Judentum am Krankenbett würdig zu vertreten und nachhaltig zu verteidigen – „den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre“ (zit. n. Hilde Steppe).

Die Autorin dankt Frau Lydia Wende vom Stadtarchiv Bad Dürrheim für die schnelle Kooperation.

Birgit Seemann, Stand November 2021

Literatur- und Quellenverzeichnis

Ungedruckte Quellen

ISG Ffm: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main

  • HB 655: Hausstandsbuch Bornheimer Landwehr 85 (Schwesternhaus der Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen Frankfurt a.M.), Sign. 655

Literatur und Links [zuletzt aufgerufen am 17.12.2020]

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Periodika

AZdJ: Allgemeine Zeitung des Judentums FrIF: Frankfurter Israelitisches Familienblatt It: Der Israelit

Thekla (Mandel) Isaacsohn (1867–1941) – erste Oberin des Gumpertz’schen Siechenhauses zu Frankfurt am Main, letzte Oberin des Frankfurter Stiftungsprojekts ‚Erholungsheim für Israelitische Frauen Baden-Baden E.V‘

Gewidmet Dr. phil. Claus Canisius (1934–2020),
Enkel von Oberin Thekla (Mandel) Isaacsohn

Thekla (Mandel) Isaacsohn (1867–1941) hat die berufliche deutsch-jüdische Pflege mitbegründet: 1893 initiierte sie mit ihren Kolleginnen Klara Gordon, Lisette Hess, Minna Hirsch und Frieda (Brüll) Wollmann den Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main.

Thekla Mandel als Oberin des Gumpertz’schen Siechenhauses, ohne Jahr (um 1895) – © Dr.
Claus Canisius

Seit 1893/94 leitete Oberin Thekla die Pflege im Frankfurter orthodox-jüdischen Kranken- und Altenheim Gumpertz‘sches Siechenhaus auf dem Röderberg (ihre Nachfolgerin wurde Oberin Rahel (Spiero) Seckbach). Familienpflichten führten sie 1907 in das westfälische Holzminden: In einer „Leviratsehe“ mit dem Witwer ihrer Schwester Betty kümmerte sie sich um die drei hinterbliebenen Kinder, die sie zärtlich „Muttchen“ nannten. 1932 übernahm sie – als Witwe und bereits im Rentenalter – die Co-Leitung des von Frankfurt a.M. aus gegründeten orthodox-jüdischen Kurheims für mittellose erholungsbedürftige Frauen zu Baden-Baden – wie das Gumpertz‘sche Siechenhaus ein von der Stifterin Mathilde von Rothschild und der Frankfurt-Loge Bne Briss (B’nai B’rith) getragenes Projekt. Im Oktober 1940 wurde Oberin Thekla durch die berüchtigte ,Wagner-Bürckel-Aktion‘ gegen die jüdischen Bürgerinnen und Bürger Badens und der Saarpfalz in das südfranzösische Lager Gurs deportiert. In der „Vorhölle von Auschwitz“ erlosch am 3. Mai 1941 das Leben einer Persönlichkeit, die sich unermüdlich für die Ärmsten der Armen engagierte und besonders für benachteiligte Frauen einstand.

Der größere Beitrag erinnert an eine facettenreiche Frauenbiografie und gibt Einblick in eine jüdische Familiengeschichte, die bis in unsere Gegenwart reicht.  Am Beginn der Recherchen zu diesem Artikel war von Oberin Thekla lediglich bekannt, dass sie von 1893 oder 1894 bis zu ihrer Heirat 1907 die Pflege im Frankfurter orthodox-jüdischen Kranken- und Altenheim Gumpertz’sches Siechenhaus leitete (vgl. Steppe 1997: 225; Seemann/Bönisch 2019). Doch hier erwiesen sich – anders als bei den allermeisten in der Shoah ermordeten oder vertriebenen deutsch-jüdischen Pflegenden – die Forschungsbedingungen als ungewöhnlich fruchtbar: Ein in Deutschland lebender Enkel Oberin Theklas begab sich auf die Spuren seiner beeindruckenden mütterlichen jüdischen Familiengeschichte. Fotografien und rituelle Gegenstände konnten vor der nationalsozialistischen Zerstörung bewahrt werden.

Eine Westfälin aus orthodox-jüdischer Familie: Herkunft und Sozialisation

Gleich ihren Mitstreiterinnen aus den Anfängen der professionellen jüdischen Krankenpflege hat sich auch Thekla Isaacsohn als eine ausgewiesene Führungskraft bewährt, die Strenge und Selbstdisziplin mit Fürsorglichkeit und Empathie verband. Die in ihrer Familie vorgelebte Zedaka – Gerechtigkeit durch sozialen Ausgleich – war Leitmotiv ihres von jüdischer Frömmigkeit geprägten pflegerischen Handelns. Geboren wurde sie als drittes Kind und dritte Tochter von Leopold und Julie Mandel in Lippstadt (heute: Kreis Soest, Regierungsbezirk Arnsberg, Nordrhein-Westfalen) – nicht 1868 oder 1869, wie bisher angenommen, sondern bereits am 22. Juli 1867 (LA NRW: Geburtseintrag Mandel, Thekla; siehe auch StAF: Personalakte Isaacsohn, Thekla. Vgl. zur Familiengeschichte Mandel: Rings/Rings 1992; Thill 1994; Kieckbusch 1998; Kommunalarchiv Minden Datenbank (https://juedischesleben.kommunalarchiv-minden.de/index.php). Auskünfte erteilten die Stadtarchive Holzminden, Linz am Rhein und Lippstadt). Ähnlich wie in den anderen Regionen Deutschlands bewegte sich die jüdische Minderheit auch im vorwiegend katholischen Westfalen, wo Thekla Mandel zunächst aufwuchs, im Spannungsfeld von Antijudaismus/Antisemitismus, religiöser Selbstbehauptung und Integration (vgl. in Auswahl Handbuch 2008–2016, 4 Bde; Herzig 1973 u. 2012).

Oberin Theklas Vater, der jüdische Religionspädagoge Leopold Mandel, wurde am 12. Dezember 1828 als Sohn von Sara geb. Loeb und Josef Mandel zu Rhens (heute: Landkreis Mayen-Koblenz, Rheinland-Pfalz) geboren. Den Rheinländer verschlug es nach Westfalen in die materiell ungesicherte und zudem mit häufigen Ortswechseln verbundene Existenz eines Lehrers an jüdischen Elementarschulen: Vielen kleineren jüdischen Gemeinden fehlten die Mittel, um den Lebensunterhalt ihrer Lehrkräfte – welche mangels eines Rabbiners oft noch zusätzlich das Amt des Kantors/Chasan (Vorbeter, Vorsänger) und Schochet (Schächters) versahen – und deren kinderreichen Familien ausreichend zu finanzieren. Konflikte schienen ‚vorprogrammiert‘, so auch bei Leopold Mandel, welcher trotz seiner prekären wirtschaftlichen Lage standhaft auftrat. Seine Ausbildung hatte er an der angesehenen Lehrerbildungsanstalt der Marks-Haindorf-Stiftung zu Münster, gegründet von den jüdischen Reformern Elias Marks und Alexander Haindorf zur Förderung armer jüdischer und christlicher Waisen und zur Qualifizierung künftiger jüdischer Schullehrer absolviert und 1863 am Katholischen Lehrerseminar in Büren abgeschlossen (vgl. Rings/ Rings 1993: 32). Leopold Mandel unterrichtete u.a. in Teltge bei Münster, in Hausberge (heute Stadtteil von Porta Westfalica) bei Minden, in Wattenscheid (Ruhrgebiet) und schließlich in Lippstadt, Oberin Theklas Geburtsort. Er war bereits Mitte Dreißig, als er am 21. April 1864 in Minden die dort am 15. Juli 1842 geborene Julie Blaustein heiratete, die Tochter des aus Posen zugewanderten Schneiders und Handelsmannes Moritz Blaustein und seiner Frau Sophie geb. Norden. Im Jahr 1865 (als Geburtsjahr wird auch 1864 genannt, vgl. Kommunalarchiv Minden Datenbank) kam in Wattenscheid ihr erstes Kind Betty – mit zweitem Vornamen ‚Breinle‘ – zur Welt (vgl. Canisius 2016: 608).

Nächste berufliche Station wurde die Industrie- und Handelsstadt Lippstadt, wo die stark angewachsene jüdische Gemeinde im Jahr 1871 240 Mitglieder zählte (vgl. Alicke 2017: Lippstadt (Nordrhein-Westfalen); siehe auch ders. 2008, Band 2). Die jüdische Elementarschule war im Synagogengebäude untergebracht. In Lippstadt konnte sich das Ehepaar Mandel für einige Zeit einrichten. Nach Betty Breinle Isaacsohn geb. Mandel (03.10.1864/1865 Wattenscheid – 05.10.1905 Minden) und der 1867 geborenen Thekla vergrößerte sich die Familie um:

  • Alma Feist (02.04.1866 Lippstadt – 08.02.1943 Ghetto Theresienstadt), Handarbeitslehrerin, verheiratet mit Abraham gen. Adolf Feist (Hannover), beide wurden 1943 in Theresienstadt ermordet (BAK Gedenkbuch; Theresienstadt Opferdatenbank mit Todesfallanzeigen);
  • Hanna Wolff (1870 Lippstadt – 1931 Hamburg, genaue Lebensdaten unbekannt), verheiratet mit Benno Wolff aus Hamburg;
  • Rosa van der Walde (13.07.1872 Lippstadt – 13.05.1942 Vernichtungslager Kulmhof/Chelmno), verheiratet mit Wolf Wilhelm „Willy“ van der Walde, wohnhaft in Minden, Emden und zuletzt Berlin, beide wurden 1942 in Kulmhof ermordet;
  • Josef (Joseph) Mandel (10.06.1874 Lippstadt – 14.03.1938 Berlin [Suizid]), Theklas einziger Bruder, 2. Ehe mit Johanna (Chana) geb. Goldsand (15.03.1882 Krakau (Krakow), Galizien (Polen) – 10.05.1942 Vernichtungslager Kulmhof/ Chelmno), jüdischer Religionslehrer, unter der NS-Verfolgung zuletzt Handelsvertreter in Berlin;
  • Hermine Norden (07.02.1876 Lippstadt – 09.02.1959 Bad Homburg v.d.H.), genannt „Mins“, verheiratet mit Julius Norden, vor dem Ersten Weltkrieg in Hampstead/Greater London (GB), danach Berlin, überlebte im Exil, zwei Kinder (vgl. Geni).

Das ruhigere Leben in Lippstadt währte nur kurz: Wegen eines eskalierenden Streits mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde verlor Leopold Mandel 1872 seine Lehrerstelle (vgl. Mühle 1985a: 60-61). Für einige Jahre musste der fähige und engagierte Pädagoge seine Familie als „Agent“ (Handelsmann) durchbringen (Stadtarchiv Lippstadt: Auskunft v. Claudia Becker per Mail v. 05.02.2018).

Thekla war ungefähr zehn Jahre alt, als sie zusammen mit ihren Eltern und Geschwistern Lippstadt und Westfalen verließ und 1877 in das Rheinland übersiedelte, woher ihr Vater stammte. Dort hieß die Synagogengemeinde des Städtchens Linz am Rhein (vgl. Alemannia Judaica Linz am Rhein) bei Neuwied ihren neuen Lehrer und Kantor willkommen. Linz wurde Leopold Mandels letzte und wichtigste Wirkungsstätte. In der jüdischen wie in der christlichen Einwohnerschaft fand er endlich die verdiente Anerkennung seiner aufklärerischen pädagogischen Bemühungen, u.a. als Lehrbeauftragter für jüdische Religion am Progymnasium Linz. Die private jüdische Elementarschule, an der er unterrichtete, wurde 1881 zur öffentlichen Schule, wodurch Leopold Mandel den ungesicherten Status des Privatlehrers verließ. Ein Jahr zuvor hatte der auch publizistisch tätige Pädagoge öffentlich gegen die antisemitische Hetze und Herabwürdigung des Judentums durch den evangelischen Theologen und ‚Hofprediger‘ Adolf Stöcker protestiert, was ihm nicht nur Lob einbrachte.

Grabstein für Thekla Isaacsohns Vater mit der Inschrift „Lehrer Leopold Mandel geb. 12. Dez. 1828 gest. 3. Nov. 1889“ auf dem Jüdischen Friedhof Linz am Rhein – © Reinhard Hauke (Fotograf), 10.10.2010, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Linz(Rhein)J
%C3%BCdischer_Friedhof422.JPG?uselang=de

Mit erst 60 Jahren verstarb Leopold Mandel am 3. November 1889 und wurde drei Tage später unter großer Anteilnahme jüdischer und christlicher Bürger/innen auf dem Jüdischen Friedhof zu Linz beerdigt. Am 18. November 1889 veröffentlichte das orthodox-jüdische Periodikum Der Israelit einen Nachruf aus der Neuwieder Zeitung (vgl. Mandel 1889):

„Seine Gemeinde, die in ihm einen edlen, hoch geschätzten Lehrer, einen geliebten, hochgeachteten Kultusbeamten verloren [sic!], folgte seiner Bahre. Die Gymnasiasten unter Führung ihrer Lehrer […] und seine Schüler zogen voran. Viele Collegen [sic!] und Freunde von nah und fern waren gekommen […]. 12 Jahre hat der Verblichene in seinem Amte hier gewirkt und weit über die Grenzen unserer Stadt hinaus sich Liebe, Vertrauen und Achtung zu verschaffen gewusst. Ein edler, lauterer Charakter, ein treuer Freund und Berather [sic!], ein liebevoller, munterer Gesellschafter, ein erfahrener Schulmann, ein hoch gelehrter jüdischer Theologe, – so lebte er, von Vielen geliebt, von Allen geachtet, von Niemanden [sic!] gering geschätzt.“

Neben dem jähen Verlust von Ehemann und Vater markierte das Jahr 1889 für die Familie Mandel eine weitere Zäsur: Sie musste aus der für Leopold Mandels Nachfolger vorgesehenen Lehrerwohnung ausziehen. Noch im gleichen Jahr kehrte die Witwe Julie Mandel in ihren westfälischen Geburtsort Minden zurück. Auch die 22-jährige Thekla Mandel verließ Linz – in Richtung Frankfurt am Main mit dem Ziel, eine jüdische Krankenschwester zu werden.

Mitbegründerin des jüdischen Schwesternvereins und erste Oberin des Gumpertz’schen Siechenhauses in Frankfurt am Main

Die junge Thekla Mandel, ohne Jahr (um 1890) – © Mit freundlicher Genehmigung von Dr.
Claus Canisius

Die Handels- und Messestadt Frankfurt am Main mit ihrem ökonomisch, sozial und kulturell herausragenden jüdischen Bürgertum trug in der jüdischen Welt den Ehrentitel einer „Muttergemeinde und Hauptstadt in Israel“ (ir wa-em be-Yisrael) (zit. n. Hopp 1997: 14). Fast zwei Jahrzehnte lang sollte sie zu Thekla Mandels Wohn- und Wirkungsstätte werden, und auch danach riss die Verbindung zu Frankfurt nie ganz ab. Wie sie zum Pflegeberuf fand, lässt sich mangels autobiografischer Quellen nicht rekonstruieren. Keineswegs entsprach es den orthodox-jüdischen Geschlechterrollen, dass Thekla Mandel als einzige ihrer Schwestern zunächst unverheiratet blieb. Sollte die pflegerische Ausbildung bis zum Auftritt eines geeigneten Ehepartners auf eine spätere Familiengründung vorbereiten? Oder mochte sich die selbstbewusste und unabhängige junge Frau nicht in das im wilhelminischen Deutschland patriarchalisch angelegte ,Ehejoch‘ fügen? Strebte die gebildete Lehrerstochter anfangs gar den Zugang zu einer Universität an, der ihr aber als Frau und Jüdin doppelt verwehrt blieb? „Krankenpflege war die Alternative zum Studium der Medizin und zugleich eine Vorbereitung auf die ‚eigentliche Bestimmung‘ der Frau“ (Beitrag von Eva-Maria Ulmer, 2009).

Was die Krankenpflege im Kaiserreich selbst anbetraf, hielt sie selbst der jüdische Teil der Bevölkerung für ein christliches Projekt – trotz der hohen Bedeutung des Pflegens in der hebräischen Bibel als religiös-jüdischer Pflicht (Mitzwa) zum Krankenbesuch (vgl. den Beitrag Bikkur Cholim). Die Pflege wurde gleichgesetzt mit Gehorsam, Opferbereitschaft und Selbstaufgabe. Im Deutschen Kaiserreich dominierte das evangelisch-diakonische Hierarchiemodell eines von der Oberin straff geführten ‚Mutterhauses‘. Gleichwohl eröffnete die moderne Krankenpflege, die sich zum ,Frauenberuf‘ professionalisierte, ein qualifiziertes und abwechslungsreiches Aufgabengebiet – zumal eines der wenigen, das auf sich allein gestellten Frauen Existenz- und Aufstiegsperspektiven bot. Für eine fromme Jüdin kam allerdings die Bewerbung bei christlichen oder (vermeintlich) säkularen Einrichtungen, die mancherorts sogar die Taufe verlangten, nicht in Frage. Thekla Mandel wollte nicht allein den Anweisungen von Autoritäten gehorchen, sondern gemeinsam mit Gleichgesinnten lernen – in einem jüdischen Umfeld, das es jedoch erst zu schaffen galt: Die Modernisierung des durch Ghettoisierung jahrhundertelang beeinträchtigten jüdischen Pflegewesens befand sich noch im Aufbau; eine staatlich anerkannte jüdische Krankenpflegeschule existierte nicht. So war es für Thekla Mandel ein Glücksfall, dass sie ihre Ausbildung an einer der fortschrittlichsten jüdischen Kliniken starten konnte: im Hospital der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main, 1875 im jüdisch geprägten Stadtteil Ostend eröffnet und nach dem Namen des Stifterehepaares als „Königswarter Hospital“ bekannt.

Auch im Königswarter Hospital hatten anfangs angelernte Wärter/innen die Kranken versorgt, doch wurde dort bereits 1881 mit Rosalie Jüttner die wohl erste jüdische Krankenschwester in Deutschland ausgebildet. Mit Minna Hirsch (1889 ausgebildet), Lisette Hess, Klara Gordon und Frieda (Brüll) Wollmann gehörte Thekla Mandel (alle vier vor 1893 ausgebildet, vgl. Steppe 1997: 225) zu den ‚Pionierinnen‘ der beruflichen jüdischen Krankenpflege in Deutschland: In einer Zeit, in der das 1850 erlassene ‚Preußische Vereinsgesetz‘ Frauen noch immer die Aktivität in politischen Parteien und Organisationen verbot und damit auch ihr Engagement in privaten Vereinen hemmte, gründeten die fünf Frankfurterinnen zwecks qualifizierter Ausbildung und sozialer Absicherung 1893 ihren eigenen Verband jüdischer Krankenpflegerinnen (ebd.: 200).

Brosche des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins – © XVI. Jahresbericht des Vereins für
jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1909, Titelblatt

Die Initiative des selbstbewussten und füreinander einstehenden Pflegeteams gab vermutlich den Anstoß für die erste deutsch-jüdische Schwesternorganisation Verein für jüdische Krankenpflegerinnen Frankfurt a.M. Den Verein errichteten ihre Vorgesetzten und Ausbilder am Königswarter Hospital, Chefarzt Dr. Simon Kirchheim und Dr. Alfred Günzberg, sowie weitere männliche Förderer des in den jüdischen Gemeinden im Kaiserreich durchaus kontrovers diskutierten jüdischen ‚Frauenberufs‘ Pflege. Die Gründung wurde vorangetrieben durch die Frankfurt-Loge Bne Briss (heute: B‘nai B‘rith), einer den jüdischen Zusammenhalt durch Wohlfahrt, Bildung und Kultur fördernden Vereinigung. Der Verband jüdischer Krankenpflegerinnen ging in dem am 23. Oktober 1893 errichteten und von einem rein männlichen Vorstand geleiteten Verein auf. Der Frankfurter jüdische Schwesternverein avancierte zu einem Erfolgsmodell und damit zum Vorbild für viele weitere Gründungen im gesamten Kaiserreich. Untergebracht wurden die Frankfurter jüdischen Schwestern und Schülerinnen zunächst in einer angemieteten Wohnung („Häuschen“) direkt neben dem Hospital, danach bezogen sie ein provisorisches Schwesternhaus inder Unteren Atzemer 16 (vgl. ebd.). Als 1902 ein neues Schwesternhaus in der Königswarterstraße eröffnet wurde, wohnte Thekla Mandel bereits in ihrer Arbeitsstätte, dem Gumpertz’schen Siechenhaus auf dem Röderberg. Doch blieb sie, die Mitbegründerin, für den Frankfurter jüdischen Schwesternverein aktiv: Um 1905 führte die Lehrerstochter, selbst pädagogisch begabt, gemeinsam mit Sanitätsrat Dr. med. Adolf Deutsch Fortbildungskurse „in Ernährungslehre und Kochen“ für die Schwestern und Schülerinnen durch (vgl. Steppe 1997: 208).

Der Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt a.M. verfügte über ein höchst effektives Karrierenetzwerk, das seine Absolventinnen auf Anfrage jüdischer Gemeinden bis nach Basel und Straßburg schickte, um dort in leitender Funktion eine moderne jüdische Pflege aufzubauen. Während Thekla Mandel, Minna Hirsch, die Oberin der Schwesternschaft wie auch des Königswarter Hospitals, und ihre zeitweilige Stellvertreterin Lisette Hess in Frankfurt a.M. die ‚Stellung‘ hielten, wurden Frieda (Brüll) Wollmann und Klara Gordon Oberinnen der jüdischen Krankenhäuser in Köln und Hamburg. Auch Thekla Mandel wurde um 1894 – nur kurze Zeit nach ihrer Ausbildung – als Oberin des Gumpertz’schen Siechenhauses in eine Leitungsfunktion berufen. Das orthodox-jüdische Pflegeheim für chronisch kranke und gebrechliche Bedürftige beiderlei Geschlechts und aller Altersgruppen trug den Namen seiner Stifterin Betty Gumpertz (vgl. Seemann/Bönisch 2019). Der Vorstand des Vereins Gumpertz’sches Siechenhaus bestand aus Brüdern und Schwestern der Frankfurt-Loge des Unabhängigen Ordens Bne Briss ( B’nai B’rith: Söhne des Bundes); als Präsident amtierte in der Nachfolge des Gründungsvorsitzenden Ferdinand Gamburg der Bankier, Philanthrop und Sozialreformer Charles L. Hallgarten. Dem Vorstand empfohlen hatte Thekla Mandel vermutlich der Gründungs- und Chefarzt des Gumpertz‘schen Siechenhauses, ihr früherer Ausbilder Dr. Alfred Günzburg, der ebenfalls der Frankfurt-Loge angehörte. Eine Oberin wurde dringend benötigt: Der 1892 im Haus Ostendstraße 75 gestartete Pflegebetrieb war in wenigen Jahren von sechs auf zuletzt 20 Plätze angewachsen. Trotz Erweiterungs- und Modernisierungsmaßnahmen konnten im Jahr 1895 von 27 pflegebedürftigen Bewerber/innen nur 13 aufgenommen werden.

1898 erwarb der Verein Gumpertz’sches Siechenhaus eine größere Liegenschaft im Röderbergweg 62-64. Gegenüber lagen das Rothschild’sche Hospital und das Rothschild’sche Kinderhospital, zwei Kliniken, die anders als das Gumpertz’sche Projekt nicht der orthodoxen Minderheit innerhalb der liberalen Israelitischen Gemeinde nahestanden, sondern der neo-orthodoxen Israelitischen Religionsgesellschaft (Austrittsgemeinde). Ein Teil der Gumpertz‘schen Gepflegten kam aus Kostengründen zunächst in der „notdürftig zu Krankenhauszwecken umgewandelte[n] alte[n] Villa“ (Günzburg 1909: 7), später das ,Hinterhaus‘ genannt, unter; parallel wurde der Heimbetrieb am alten Standort Ostendstraße 75 noch eine Weile fortgeführt. Insgesamt versorgte das Heim 1898 bereits 37 Gepflegte. Nach dem 1899 erfolgten Verkauf des Anwesens Ostendstraße 75 bezogen auch die restlichen Bewohner/innen gemeinsam mit Oberin Thekla Mandel das ,Hinterhaus‘ mit bis zu 30 Plätzen; im Mahlau’s Frankfurter Adressbuch (33. Jg., S. 253) war 1901 erstmals „Mandel, Thekla Krankenschw. Röderbergw. 62“ eingetragen. Unterstützt wurde die Oberin durch die 1902 eingestellte evangelische Krankenschwester Frieda Gauer, ebenso seit 1904 durch den neuen Verwalter Hermann Seckbach, der sich weit über seine Stellung hinaus wie ein Hospitalvater um die Belange der Pflegebedürftigen kümmerte. Sowohl Thekla Mandel als auch Hermann Seckbach verstanden ihren Dienst an den jüdischen „Aermsten der Armen“ (ein Zitat von Rabbiner Leopold Neuhaus aus seinem Nachruf auf Thekla Mandels Nachfolgerin Oberin Rahel Seckbach, abgedruckt in der Exilzeitschrift AUFBAU 15 (23.09.1949) 38, S. 41) als religiöse Verpflichtung und Beitrag zur sozialen Stärkung der jüdischen Gemeinde und ihres nichtjüdischen gesellschaftlichen Umfelds. Ebenfalls 1904 konkretisierten sich angesichts der beengten Verhältnisse im ‚Hinterhaus‘ erste Pläne für einen Neubau, die durch die Angliederung der 1905 errichteten Minka von Goldschmidt-Rothschild-Stiftung an den Verein Gumpertz´sches Siechenhaus finanziell umgesetzt werden konnten. Die beiden Stifterinnen – Mathilde von Rothschild und ihre bereits 1903 verstorbene Tochter Minna Caroline („Minka“) – hat Oberin Thekla sehr wahrscheinlich auch persönlich kennengelernt; mit ihnen teilte sie die Aufmerksamkeit für die besonders prekäre Versorgungslage mittelloser pflegebedürftiger Frauen und Mädchen. Es war Mathilde von Rothschilds ausdrücklicher Wunsch, dass in die 1907 eingeweihte und hochmodern ausgestattete neue Villa (das Gumpertz’sche ‚Vorderhaus‘, zugleich Krankenheim mitOperationssaal) vorerst nur weibliche Bewohner einzogen.

Die Anfänge des ‚Vorderhauses‘ gestaltete Thekla Mandel noch mit, doch musste sie ihren geliebten Pflegeberuf bald verlassen. Bereits im Oktober 1905 hatte sie aus Holzminden (Niedersachsen) die traurige Nachricht vom Tod ihrer ältesten Schwester erreicht: Betty Breinle Isaacsohn hinterließ drei kleine Kinder und einen tief trauernden Witwer.

Oberin Theklas älteste Schwester Betty Breinle Isaacsohn, ohne Jahr – © Mit freundlicher
Genehmigung von Dr. Claus Canisius

Hier zeigte sich einmal mehr der Familienzusammenhalt der Mandels: Nach reiflicher Überlegung gab die inzwischen 40jährige und bislang alleinstehende Oberin ihre leitende Position auf, um am 24. Oktober 1907 ihren Schwager Iwan Isaacsohn zu heiraten (Angabe per Mail v. Claus Canisius, 26.05.2018: Familientafel Isaacsohn). Schweren Herzens, aber mit festem Blick auf ihre neue Aufgabe als Ehefrau, Mutter und Erzieherin musste Thekla Mandel ihr Frankfurter Leben – Freundinnen, Kolleginnen und ihre Schützlinge im Gumpertz’schen Siechenhaus – zurücklassen.

„Leviratsmutter“ und Lazarett-Oberschwester in Holzminden (Niedersachsen)

Im November 1907 traf Thekla Mandel – nunmehr Isaacsohn –in der niedersächsischen Mittelstadt an der Weser ein. Die jüdische Gemeinde zu Holzminden, der sie nun angehörte, umfasste nach den Angaben des Lokalhistorikers Klaus Kieckbusch (vgl. ders. 1988) bis zu 130 Mitglieder, zumeist selbständige Kaufleute und Handwerker. Die jüdischen Holzmindener/innen waren bestens in das städtische Vereinsleben integriert. Doch trübten insbesondere nach dem für Deutschland verlorenen Ersten Weltkrieg antisemitische Vorfälle das gute Einvernehmen mit der christlichen Mehrheitsbevölkerung.

Theklas Schwager und späterer Ehemann Iwan Isaacsohn, um 1905 – © Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Claus Canisius

Theklas Ehemann, der Schuhkaufmann Iwan Isaacsohn (geb. 23.01.1866 in Hamburg), wohlhabend, gebildet und gut aussehend, stammte aus einer Hamburger orthodox-jüdischen Familie. Zu seinen Vorfahren zählten angesehene jüdische Gelehrte wie Rabbi Jitzhak (geb. um 1780 in Hamburg) und Rabbi Chaver Nehemia Ben Jitzhak (geb. 1810 in Hamburg), welcher an einer Jeschiwa (Tora-Talmud-Hochschule) gelehrt hatte (vgl. Canisius 2015: 318). Möglicherweise hätte auch Iwan Isaacsohn gern diesen Weg beschritten. Angesichts der Frömmigkeit der Isaacsohns und der Mandels verwundert es kaum, dass der Musikwissenschaftler Dr. Claus Canisius in der zweiten Ehe seines Großvaters auch eine religiös-kulturelle Tradition erkannte:

„Starb in einer jüdischen Familie ein kinderloser junger Ehemann, so wurde eine altorientalische Rechtssitte wirksam: die Schwagerehe, beziehungsweise das Levirat oder Jibbum. Um das Geschlecht der Familie zu erhalten, ehelichte ein heiratsfähiger Schwager die Witwe, damit die erbberechtigte Nachkommenschaft der betroffenen israelitischen Familie erhalten blieb. Bei der Familie Iwan Isaacsohns wurde insofern eine Variante des Levirats wirksam, als nach Betty (Mandel) Isaacsohns frühem Tod jetzt Thekla Mandel, ihre Schwester[,] in die Familie an die Seite Iwans kam und gewissermaßen als Leviratsmutter die Erziehung [von] dessen drei Kinder[n], Werner, Leoni und Gretel übernahm […].“

In der Tat kam von den Schwestern der verstorbenen Betty nur die unverheiratete Thekla in Betracht. Obgleich zwei selbstbewusste Persönlichkeiten aufeinandertrafen und offenbar keine Liebesheirat ‚vorlag‘, soll die ‚Leviratsehe‘ den Familieninformationen Claus Canisius‘ zufolge geglückt sein.

Thekla Isaacsohns Stiefkinder Leoni, Werner und Gretel (v. l. n. r.), ohne Jahr (um 1910) – © Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Claus Canisius

Thekla Isaacsohn, die ohne eigene Kinder geblieben war, konnte ihre Mütterlichkeit verwirklichen und erntete dafür die Liebe und Anerkennung der ihr anvertrauten Halbwaisen‘, deren Tante sie zugleich war. Leoni (geb. 16.02.1896), Gretel (Greta) (geb. 31.07.1899) und Werner (geb. 17.04.1904), alle drei in Holzminden zur Welt gekommen, waren zum Zeitpunkt der zweiten Heirat ihres Vaters erst elf, acht und drei Jahre alt; Gretel war ihrer Stiefmutter besonders zugetan. Neben ihren Familienaufgaben engagierte sich die pflichtbewusste und tatkräftige Thekla Isaacsohn im Ersten Weltkrieg für den Holzmindener „Rotkreuz- und Bahnschutzdienst“ und organisierte als Oberschwester den Lazarettdienst mit (vgl. Kieckbusch 1998: 349). Nach dem Krieg wurde sie Witwe: Iwan verstarb im Jahr 1919, ebenso ihre zuletzt bei der Schwester Rosa in Emden lebende Mutter Julie Mandel. Die Grabmäler von Iwan Isaacsohn und seiner ersten Frau Betty Breinle auf dem Jüdischen Friedhof Holzminden sind bis heute erhalten, obwohl in der NS-Zeit viele Gräber – darunter auch Iwans – geschändet wurden. Seine Grabstätte war vermutlich als „Doppelgrab“ (Claus Canisius) angelegt, damit seine Witwe Thekla dort ihre letzte Ruhestätte fände (vgl. Fotografien in Canisius 2016 sowie B. Putensen, 2015, bei Genealogy.net: https://grabsteine.genealogy.net/tomb.php?cem=3887&tomb=24&b=&lang=de).

Thekla Isaacsohn in ihrer Holzmindener Zeit, 1923 – © Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Claus Canisius

Nach Iwans Tod zog sich Thekla Isaacsohn nicht in ihre Trauer zurück, sondern setzte ihr soziales Engagement in der jüdischen Gemeinde fort: In Holzminden „florierte über lange Jahre ein 1906 gegründeter“ israelitischer Frauenverein, dem sie 1924/25 sogar vorstand (vgl. Kieckbusch 1998: 311). Zuvor hatte ein antisemitisches Ereignis die Stadt erschüttert, das vor allem Theklas ältere Stieftochter traf: Leoni Isaacsohn hatte 1920 Siegmund Salomon geheiratet und führte mit ihm gemeinsam das Schuhhaus Feist & Co. (offenbar ein überregionales Unternehmen der Familie Feist mit Hauptsitz in Hannover, in die Theklas Schwester Alma eingeheiratet hatte). Am 10. August 1923 griffen demonstrierende Arbeitnehmer/innen das Schuhhaus Feist an. Die aus sozialer Not entstandene Erhebung gegen Holzmindens Unternehmerschaft bekam durch die Plünderung ausschließlich jüdischer Geschäfte einen „stark antisemitischen Aspekt“ (ebd.: 358): Die Demonstranten drangen in das Schuhhaus Feist ein, zerschlugen Türen, Vitrinen und Einrichtungsgegenstände und raubten fast den gesamten Warenbestand. Das Ehepaar Salomon musste sein Geschäft vorläufig schließen, erkämpfte sich aber vom Deutschen Reich und dem Land Braunschweig eine Teilentschädigung – die die Stadt Holzminden mit der Begründung verweigerte, mögliche weitere judenfeindliche Exzesse vermeiden zu wollen (ebd.: 360). 1925 musste Thekla Isaacsohn vom Tod ihrer erst 29-jährigen Stieftochter Leoni Salomon in Höxter erfahren. Leonis jüngere Schwester Gretel wurde danach von ihrer Tante Alma (Mandel) Feist und deren Ehemann Abraham gen. Adolf Feist im Erwachsenenalter adoptiert – vermutlich auch aus erbrechtlichen Gründen, da das Ehepaar Feist keine eigenen Kinder hatte. Am 1. Februar 1933, kurz nach der NS-Machtübernahme, verkaufte Leonis Witwer Siegmund Salomon das Schuhhaus Feist & Co. in Holzminden an seinen nichtjüdischen Prokuristen (ebd.: 421).

Spätestens 1938 erreichte die gezielte NS-‚Arisierung‘ von Grundbesitz auch Holzmindens jüdische Bürger/innen. Nach dem Wegzug ihres Schwiegersohns Siegmund Salomon ging das Haus Fürstenberger Straße 26 in den Besitz von Thekla Isaacsohns Stiefkindern Gretel und Werner über. Gretel lebte inzwischen im westfälischen Minden (Herkunftsort ihrer Großmutter Julie Mandel)

„in einer Ehe mit dem nichtjüdischen Regierungsbaurat Peter Canisius und wollte unter Zustimmung ihres Bruders im Dezember 1938 das Haus ihren beiden Söhnen als Schenkung überschreiben. Auf diese Weise erhofften sich die Beteiligten eine etwas größere Sicherheit für den Besitz. Landrat Knop bezog dem Genehmigungsantrag gegenüber sofort eine ablehnende Position: Es würden schließlich ‚Halbjuden‘ Eigentümer, ‚was ich für unerwünscht halte‚“ (ebd.: 423-424 [Hervorhebung im Original]).

Auf Intervention des braunschweigischen Innenministeriums kam die Schenkung am 24. März 1939 dann doch zustande: Zusatzregelungen der 1935 erlassenen ‚Nürnberger Rassegesetze‘ ließen eine Übertragung des Vermögens der jüdischen Mutter auf ihren nichtjüdischen Ehemann oder die gemeinsamen Kinder zu. Dennoch lebte Gretel Canisius – nach ihrer katholischen Taufe längst kein Mitglied der jüdischen Gemeinde mehr – in ständiger Angst, führte sie doch aus Sicht der NS-Behörden mit dem Ingenieur Peter Anton Canisius (1898–1978) eine „Mischehe“; die gemeinsamen Söhne Peter Paul (geb. 1929 in Peine) und Claus Heinrich (1934 Kolberg – 2020 Leutershausen) waren als „Mischlinge I. Grades“ der NS-Verfolgung ausgesetzt. Antisemitische Ausschreitungen in Minden und die nachfolgenden Deportationen spitzten die Lage weiter zu (vgl. Alicke 2017: Minden (Nordrhein-Westfalen)). Dem enormen Druck des Regimes, sich scheiden zu lassen, hat Peter Canisius widerstanden. Die „arische“ Herkunft des männlichen Ehepartners und ‚Familienoberhaupts‘ ersparte Gretel Canisius und den Kindern die Einweisung in ein Ghettohaus (NS-Jargon: „Judenhaus“). 1940 wurde der jüngere Sohn Claus „im Alter von sechs Jahren während der Shoah auf dem Land in der Nähe von Hameln versteckt“(Altenburg 2015; vgl. auch Gensch/Grabowsky 2010). Im Rückblick schildert Claus Canisius (2015: 329) eine weitere traumatische Erfahrung, die nur dank eines ‚Judenretters‘ nicht in der Katastrophe endete: 1944 informierte der Kriminalbeamte Heinrich Flessner „meine Mutter in Minden an der Haustür in der Gartenstraße 8 über einen bevorstehenden zweiten Abtransport der dort übrig gebliebenen deutschen Juden und gab ihr indirekt den für ihn selbst höchst riskanten Rat, sich ärztlich für transportunfähig erklären zu lassen […]“.

Thekla Isaacsohns Stiefsohn Werner, Gretels Bruder, riss die NS-Verfolgung aus seiner Laufbahn an der berühmten Kunstschule „Bauhaus“ in Weimar: als Grafiker und Mitarbeiter von Walter Gropius und László Moholy-Nagy, mit einem eigenen Atelier für Fotografie und Werbegrafik (vgl. den Wikipedia-Artikel zu Werner (Isaacsohn) Jackson mit weiteren Literaturangaben: https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Jackson [21.09.2020]). 1939 flüchtete er nach England und baute sich als „Marionettenbauer und Spielzeugentwerfer“ (NL 2 Jackson; siehe auch NL 1 Jackson) eine neue Existenz in Oxford auf. Vermutlich aus Sorge, im Zweiten Weltkrieg als gebürtiger Deutscher ausgewiesen zu werden, änderte er seinen Familiennamen in ‚Jackson‘. Werner (Isaacsohn) Jackson verstarb am 3. Juli 1984 im Exil. Dass er seinen künstlerischen und schriftlichen Nachlass zu großen Teilen der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz und dem Bauhaus-Archiv e.V./ Museum für Gestaltung (Berlin) übertrug, dokumentiert seine starke Bindung an die deutsche Herkunft. Werners Schwester Gretel Canisius verstarb am 31. Dezember 1993 hochbetagt im badischen Weinheim. Nach der Shoah hatten Thekla Isaacsohns Stiefkinder um Entschädigung und die Rückerstattung ihres NS-geraubten Erbes gekämpft.

Letzte Oberin des Frankfurter Stiftungsprojekts ‚Erholungsheim für israelitische Frauen Baden-Baden E.V.‘

Nach Iwans Tod am 24. September 1919 wohnte Thekla Isaacsohn zunächst weiterhin in Holzminden. Laut Meldeunterlagen zog sie dreimal für mehrere Monate – erstmals vom 18. April bis zum 1. Oktober 1923 (danach 8. Mai bis 6. Dezember 1926 und 13. Juni bis 30. Oktober 1928) – nach Baden-Baden (Stadtarchiv Holzminden: Auskunft v. Dr. Matthias Seeliger per Mail v. 13.02.2018). In das berühmte Heilbad im Schwarzwald kam sie sehr wahrscheinlich nicht als Kurgast, sondern half im Erholungsheim für israelitische Frauen Baden-Baden E.V. aus, das sie wenige Jahre später selbst leiten sollte. In Baden-Baden sollte sich der Kreis von Oberin Theklas pflegerischem Engagement für hilfsbedürftige Glaubensgenossinnen schließen: Die Gründerin des im Juni 1913 „in Anwesenheit hochrangiger Repräsentanten aus Stadt und Land Baden“ (Schindler 2013: 79; vgl. auch Anonym. 1913; Plätzer 2012) feierlich eröffneten orthodox-jüdischen Frauenkurheims war, mit Unterstützung ihres bewährten Beraters Michael Moses Mainz und der Frankfurt-Loge Bne Briss – Mathilde von Rothschild, welche bereits die ‚Vorderhaus‘-Villa des Frankfurter Gumpertz’schen Siechenhauses, Thekla Isaacsohns früherer Arbeitsstätte, gestiftet hatte. Der Verein Erholungsheim für israelitische Frauen Baden-Baden E.V. mit Sitz in Frankfurt a.M. „hatte den Zweck, mittellosen Frauen und Mädchen, die aufgrund ärztlicher Anordnung nach überstandener Krankheit oder Überarbeitung einer Kur bedurften oder einen Erholungsurlaub benötigten, eine (vierwöchige) Kur in der Anstalt des Vereins in Baden-Baden unentgeltlich oder gegen Ersatz eines Teils der Selbstkosten zu ermöglichen“ (Schiebler 1994). Das in einer parkähnlichen Gartenlandschaft mit Blick auf die Schwarzwaldberge gelegene Heim öffnete seine Pforten saisonal zwischen Frühjahr und Spätherbst. Insbesondere im und nach dem Ersten Weltkrieg fanden auch Frauen mit Doppelbelastung durch Beruf und Familie Aufnahme. Hinzu kamen in den nachfolgenden Inflationsjahren viele weibliche Kurgäste aus der verarmten Mittelschicht.

Im August 1931 meldete sich Thekla Isaacsohn endgültig aus Holzminden ab und kehrte zunächst nach Frankfurt am Main zurück (Auskunft v. Klaus Kieckbusch, Holzminden, per Mail v. 13.02.2018). Ob sie dort ihren früheren Wirkungsort, das Gumpertz’sche Siechenhaus, besuchte oder gar vorübergehend dort wohnte? Gewiss traf sie Rebecka Cohn, langjährige ‚Ehrendame‘ im Vorstand des Vereins sowie Co-Leiterin des Erholungsheims für israelitische Frauen Baden-Baden E.V. Die Frankfurter Aufenthalte währten nur kurz: So war Thekla Isaacsohn seit dem 8. März 1933 im Frankfurter jüdischen Schwesternhaus (Bornheimer Landwehr 85) gemeldet, kehrte aber bereits am 22. März 1933 wieder nach Baden-Baden zurück (ISG Ffm, HB 655, Bl. 35). Auch später besuchte sie wiederholt Frankfurt und wohnte dort vermutlich bei Bekannten, da sie in den Frankfurter Adressbüchern der 1930er Jahre nicht namentlich aufgeführt ist.

Nach einem Bericht im Frankfurter Israelitischen Gemeindeblatt (Anonym. 1933) wurde Thekla Isaacsohn bereits 1932 Oberin des jüdischen Frauenkurheims zu Baden-Baden, das im gleichen Jahr „nahezu 150 Erholungsbedürftige aufnehmen und ihnen eine erfolgreiche Kur darbieten“ konnte. Zuvor war das stark nachgefragte Heim „durch den Bau einer neuen Liegehalle sowie eines neuen Speisesaals nach den Vorschlägen unserer Ärzte erweitert und verschönt worden“ (Anonym. 1930). Obgleich bereits im Rentenalter, stellte sich Thekla einer fordernden Aufgabe. In der NS-Zeit war sie im Angesicht des eskalierenden Antisemitismus bemüht, das Kurheim als Refugium für gesundheitlich geschwächte jüdische Frauen zu erhalten. Zuletzt vergeblich: Am 29. September 1939 wurde das inzwischen als jüdisches Altersheim geführte Erholungsheim für israelitische Frauen Baden-Baden E.V. in die von Reichssicherheitshauptamt und Gestapo kontrollierte Reichsvereinigung der Juden in Deutschland eingegliedert. Am 22. Oktober 1940 folgte die Deportation von Oberin Thekla mit weiterem Personal und vermutlich einigen älteren Bewohnerinnen in das südfranzösische Lager Gurs. Die Polizeidirektion Baden-Baden versiegelte das zwangsgeräumte Anwesen (StAF: Personalakte Isaacsohn, Thekla). Auf deren Anweisung hin veräußerte die Reichsvereinigung der Juden die Liegenschaft (Werderstraße 24) samt Inventar an einen „arischen“ Kaufmann, der den Kurbetrieb – selbstredend mit nichtjüdischen Gästen – fortführen wollte (ebd.). Nach dem Zweiten Weltkrieg beherbergte das frühere jüdische Frauenkurheim, jetzt Sanatorium Haus Rubens, auf Beschluss des Badischen Innenministeriums seit Juni 1946 ein Erholungsheim „für politisch, rassisch und religiös Verfolgte“ (Schindler 2013: 291, Fn 14; siehe auch Alemannia Judaica Baden-Baden nach 1945.

Die Geschichte des Erholungsheim für israelitische Frauen Baden-Baden E.V. gilt es noch weiter aufzuarbeiten.

„Wir wissen hier nichts von der Welt u. sehen nur Stacheldraht“ – NS-Verfolgung und Deportation nach Gurs (Südfrankreich)

Unter der NS-Verfolgung bot das jüdische Frauenkurheim zu Baden-Baden seinen Gästen vorübergehend einen Schutzraum:

„Die Notwendigkeit des Heims hat sich in dem vergangenen, für die deutsche Judenheit so schweren Jahr [1934, B.S.] besonders bewährt. Etwa 150 Erholungsbedürftige konnten im Vorjahre aufgenommen werden. In der Versammlung kam der besondere Dank gegenüber den Leitern des Heims, Frau R. Cohn und Frau Thekla Isaacsohn […] zum Ausdruck“ (Anonym. 1935).

1938 trafen die NS-staatlich organisierten Novemberpogrome auch Baden-Badens jüdische Gemeinde: Ein vorsätzlich gelegter Brand zerstörte ihr Gotteshaus, die männlichen jüdischen Bürger wurden verhaftet und in aller Öffentlichkeit durch die Stadt getrieben. Schon im Frühjahr 1938 musste Thekla Isaacsohn vom Suizid ihres einzigen Bruders Josef Mandel – wie sein Vater jüdischer Religionslehrer, unter der NS-Verfolgung zuletzt Handelsvertreter in Berlin – erfahren; mit Josef, Betty und der 1931 in Hamburg verstorbenen Hanna Wolff hatte sie bereits drei Geschwister verloren. Zwei weitere Schwestern – Alma Feist und Rosa von der Walde – wurden zusammen mit ihren Ehemännern in der Shoah ermordet. Einzig die Jüngste, Hermine Norden, konnte im britischen Exil überleben.

Im Jahr 1939 reiste Thekla Isaacsohn noch einmal nach Frankfurt. In einer Wohnung (Thüringer Straße 19) nahe des Frankfurter Zoo entstand am 13. März 1939 das vermutlich letzte und einzige noch erhaltene gemeinsame Foto mit ihrem geliebten jüngeren Enkel Claus.

Thekla Isaacsohn und ihr Enkel Claus, am 13.03.1939 aufgenommen in einer Frankfurter Privatwohnung (Bildausschnitt) – © Mit freundlicher Genehmigung von und herzlichem Dank an Dr. Claus Canisius

Wieder in Baden-Baden, hielt Oberin Thekla im israelitischen Frauenerholungsheim, nunmehr Altersheim, weiterhin die Stellung. „Die letzten Gäste – meist ältere Frauen, für die eine Auswanderung nicht mehr in Frage kam – wurden am 22.10.1940 in das Internierungslager Gurs deportiert“, schreibt die Autorin und Redakteurin Angelika Schindler (dies. 2013: 79). Die Verschleppung der jüdischen Bevölkerung aus Baden und der Saarpfalz in das südfranzösische Lager Gurs war eine der ersten Deportationen aus Nazideutschland. Die als ,Ausweisung‘ getarnte und nach den beiden hauptverantwortlichen NS-Gauleitern benannte ‚Wagner-Bürckel-Aktion‘ stand unter höchster Geheimhaltung (vgl. einführend den Wikipedia-Eintrag ,Wagner-Bürckel-Aktion‘ mit weiteren Literaturangaben: https://de.wikipedia.org/wiki/Wagner-B%C3%BCrckel-Aktion [21.09.2020]). Sie traf die jüdischen Bürger/innen völlig unvorbereitet: In den frühen Morgenstunden des 22. Oktober 1940 drangen Gestapobeamte und Mitglieder nationalsozialistischer Parteiformationen in ihre Häuser und Wohnungen ein und nötigten sie zum hastigen Packen; lediglich 50 Pfund Gepäck und bis zu 100 RM waren erlaubt. Der Überfall ließ keine organisierte Gegenwehr zu, zumal er nach der vorausgegangenen Zwangsemigration jüngerer Menschen viele ältere und gesundheitlich angeschlagene Menschen traf, aber auch Kinder und Jugendliche; jüdische Partner/innen aus so genannten „Mischehen“ blieben vorerst verschont. Durch die Gleichstellung der ‚Ausgewiesenen‘ mit ‚Reichsflüchtlingen‘ unter Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit verschaffte sich der NS-Staat seine ,Legitimation‘ für den Zugriff auf ihr Eigentum. Die Räumlichkeiten der Deportierten wurden behördlich versiegelt, bewegliche Güter im Auftrag der Dienststelle des Generalbevollmächtigten für das jüdische Vermögen öffentlich versteigert.

Auch Thekla Isaacsohn verlor alle finanziellen Rücklagen und nahezu ihre gesamte Habe. Das Gepäck unterlag repressiven Auflagen: „Nicht genehmigt waren z.B. rezeptpflichtige Medikamente, für ältere Menschen – und das waren in Baden-Baden fast alle Deportierten – eine lebensbedrohliche Regelung“ (Schindler 2013: 260). Nur ein wärmender schwarzer Seal-Pelzmantel ,begleitete‘ die 73-jährige Oberin nach Gurs. Den Großteil ihrer Kleidung und Wäsche musste sie zurücklassen, ebenso ihre im Kurheim untergebrachte komplette Wohn- und Schlafzimmereinrichtung sowie Gebrauchsgegenstände und Bücher. Der Verbleib ihres Mobiliars lässt sich nicht mehr ausreichend klären: Nach bisherigem Informationsstand rettete der Noch-Eigentümer des jüdischen Frauenkurheims, die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, vor dem Verkauf (‚Arisierung‘) der Liegenschaft Teile des Inventars für jüdische Altersheime in Mannheim und Konstanz – ohne Kenntnis, dass sich darunter womöglich private Möbel der Oberin befanden (StAF: Personalakte Isaacsohn, Thekla; Restitutionsverfahren Erholungsheim für israelitische Frauen in Baden-Baden e.V.). Die nicht übernommenen Objekte wurden im Haus versteigert oder gelangten gegen eine geringe Gebühr an den Vertreter der jüdischen Reichsvereinigung in den Besitz des Käufers Rubens. Im Sommer 1941 statteten Gretel und Peter Canisius – Thekla Isaacsohn hatte die Lagerhaft bereits das Leben gekostet – dem ‚Haus Rubens‘ einen Besuch ab. Das Ehepaar Rubens zeigte sich kooperativ und händigte einige wenige noch verbliebene Gegenstände aus, die Thekla Isaacsohns Erben als das Eigentum ihrer Mutter und Schwiegermutter erkannten.

Die Deportation am 22. Oktober 1940 in Richtung Südfrankreich, das dem mit Nazideutschland kollaborierenden Pétain-Regime in Vichy unterstand, war mit den französischen Behörden offenbar nicht abgesprochen. Dennoch verweigerten die deutschen Nationalsozialisten strikt die Rückführung der insgesamt über 6.500 jüdischen Badener/innen, Pfälzer/innen und Saarländer/innen nach Deutschland. So leitete das überrumpelte französische Bahnpersonal die Deportationszüge weiter in den Süden. Bis dahin mussten die in verplombten Waggons Eingepferchten mehrere Tage und Nächte ausharren – ohne ausreichende Flüssigkeit, Verpflegung und medizinische Versorgung. Völlig erschöpft erreichten sie das Camp de Gurs und gerieten in ein morastiges, baufälliges und bereits winterlich kaltes Barackenlager am Fuße der Pyrenäen, das „die Dimensionen einer mittleren Stadt hatte“ (Teschner 2002: 123). Das mit Stacheldraht von der Außenwelt abgesperrte Lager „besteht aus ca. 380 Baracken, die weder sanitäre Anlagen noch Trennwände haben. Statt Fenster gibt es unverglaste Lichtluken, die durch Holzklappen verschlossen werden können. In einer Baracke sind etwa 50 bis 60 Menschen untergebracht“ (Gerlach/Weber 2005: 16). Ihre traumatischen Eindrücke vom Lager Gurs im Herbst/Winter 1940 schilderte die Schweizer Rotkreuzschwester Elsbeth Kasser (zit. n. Wiehn 2010: 165-168, hier 165f.):

„Die erste Nacht war kalt und hart. Ratten rannten umher und bissen manchmal zu, Wanzen machten sich bemerkbar. […] Es regnete und regnete… Der Boden war in ein Schlamm-Meer verwandelt, etwas vom Schlimmsten in Gurs. Nur mühsam konnte ich mich fortbewegen, glitt aus, sank ein. […] Als ich zum ersten Mal in eine Baracke eintrat, war es trotz Tageslicht dunkel. Wegen der Kälte hatte man die Fensterläden geschlossen, und Fensterscheiben gab es keine. Da lag und kauerte auf oft feuchten Strohsäcken am Boden Mensch an Mensch. Tisch, Sitzgelegenheit oder Aufhängevorrichtung für Kleider fehlten. Wegen der Kälte schliefen viele in ihren Kleidern. […] Ein spärliches Licht brannte nur von 18 bis 20 Uhr. Ratten und anderes Ungeziefer trieben ihr Unwesen. Die Latrinenverschläge waren bis zu 100 Meter Entfernung in 2 Meter Höhe auf steiler Treppe erreichbar. […] Hier harrten auf engstem Raum vom Unglück verfolgte Menschen: Kranke, Alte und Kinder. Manche erfroren, viele starben vor Schwäche, und auf dem Lagerfriedhof zählte man schon nach dem ersten Winter über 1000 Gräber.“

Auch wegen ihres höheren Alters war die Sterberate unter den jüdischen Gefangenen hoch. „Nach den Unterlagen der Verwaltung starben im Lager Gurs zwischen dem 25. Oktober und dem Jahresende 1940 476 Personen“ (Teschner 2002: 161) – sehr wahrscheinlich an einer Durchfall-Epidemie in Verbindung mit verunreinigtem Trinkwasser. Dieser „Vorhölle von Auschwitz“ entkamen nur wenige Gefangene: Eine minimale Chance hatten Internierte mit Kontakten ins Ausland, die Visa, Schiffspassagen und Devisen beschaffen konnten (vgl. Schindler 2013: 256). Viele Deportierte hatten bei dem hastigen Aufbruch ihre Papiere zurückgelassen; Anträge wurden von den NS-Behörden verschleppt.

Infolge der gezielten Überfall-Strategie der ‚Wagner-Bürckel-Aktion‘ blieben außerhalb Badens und der Saarpfalz lebende Angehörige lange Zeit im Ungewissen und erfuhren erst spät von deren ‚Ausweisung‘. Zu Alma Feist und Rosa van der Walde drang ein Brief ihrer Schwester Thekla durch, der sie über ihre Lagerhaft im fernen Gurs unterrichtete. Korrespondenz von und nach Gurs unterlag, wenn sie überhaupt ihr Ziel erreichte, einer „strengen Zensur“ (Gerlach/Weber 2005: 17). Die im westfälischen Minden wohnende Stieftochter Gretel Canisius hatte anfangs gehofft, die Oberin hätte den Transport der letzten Bewohnerinnen des Baden-Badener Heims nur begleitet und käme bald zurück. Doch sollte sie ihre geliebte „Leviratsmutter“ nie mehr wiedersehen. Selbst unter menschenfeindlichen Lagerbedingungen klardenkend und um ihre Lieben besorgt, bestimmte Thekla Isaacsohn nicht Gretel, sondern deren nach den NS-Rassegesetzen „arischen“ Ehemann zu ihrem offiziellen Erben. Erhalten ist ein Brief (StAF: Personalakte Isaacsohn, Thekla: handschriftliches Schreiben, undatiert (um 1941)) – vermutlich das letzte Lebenszeichen – in dem sie festhielt: „Wir wissen hier nichts von der Welt u.[nd] sehen nur Stacheldraht“. Thekla Isaacsohn überlebte die verheerende Epidemie des Winters 1940/41 im Lager Gurs, doch fiel am 3. Mai 1941 auch sie dem „kalten Mord“ (zitiert nach Resi Weglein, Krankenschwester und Überlebende von Theresienstadt, vgl. dies. 1990) zum Opfer. Von ihrem Tod erfuhren die Angehörigen, wie ihr Enkel Claus Canisius (2015: 325) mitteilt, erst anhand „einer Haarlocke in einem handschriftlichen Brief, geschrieben von einem anonymen Zeitzeugen“.

Seit 2010 erinnern an die Oberin und weitere Mitarbeiter/innen des israelitischen Frauenkurheims am ehemaligen Standort Werderstraße 24 sechs Stolpersteine (vgl. Schindler 2013: 291-292, Fn 14 sowie Badische Landesbibliothek Karlsruhe Verzeichnis: Stadtkreis Baden-Baden, S. 4, Nr. 48; BAK Gedenkbuch; JUF Datenbank; Stolpersteine Baden-Baden; Yad Vashem Datenbank).

Zusammen mit Thekla Isaacsohn wurden deportiert:

  • Lina Geismar geb. Katz (1894 Guxhagen/Melsungen – 1942 Auschwitz), Köchin;
  • Ludwig Geismar (1896 Breisach – 1942 Auschwitz), Hausdiener;
  • Rosa Goldschmidt (1889 Gelnhausen – 1942 Auschwitz), Bürohilfe;
  • Katharina (Käthe) Preis (1913 Saarbrücken – 1942 Auschwitz), Hausgehilfin;
  • Marion (Maria Karin) Spier (1908 Kassel – 1942 Auschwitz), Hausgehilfin.
,Stolpersteine‘ für Oberin Thekla Isaacsohn und ihr Team, Baden-Baden, Werderstraße 24 – © Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Claus Canisius

Schwarzwaldtanne, Stolperstein und Kiddusch-Kelch: Wege des Gedenkens an Thekla Isaacsohn

Anders als die allermeisten Mordopfer der Shoah erhielten Thekla Isaacsohn und viele ihrer 1940 deportierten Leidensgenossinnen und Leidensgenossen eine Beerdigungsstätte: auf dem Lagerfriedhof des Camp de Gurs mit über tausend noch heute bestehenden Gräbern. Der Friedhof, lange Zeit vergessen und verdrängt, verwahrloste zusehends, ein Zustand, der Angehörige und Nachkommen zusätzlich belastete. Im Jahr 1957 begab sich Gretel Canisius auf die mühselige Spurensuche nach dem Grabstein ihres geliebten „Muttchens“. Aus ihrem Bericht (zit. n. Canisius 2015: 327) sprechen Trauer und Wut, aber auch Erleichterung, dass überhaupt ein Grab existiert:

„Diesen Landstrich muss der Herrgott im Zorn erschaffen haben. Es hat aus Eimern geschüttet. […] wir blieben fast stecken im Schlamm, unbefestigte Wege, Gräber in Reihen, Gräber soweit das Auge reichte. Auf jedem Grab ein Schild mit Nummer & Namen der Toten. In der Mitte des Friedhofs ein großer steinerner Obelisk mit einem Davidstern, von Amerikanern gestiftet. Wir haben gesucht & gesucht und haben Muttchens Grab gefunden. Ich habe eine Schwarzwaldtanne gepflanzt, begießen brauchte ich sie nicht, das haben meine Tränen und der Himmel besorgt. – Heute ist der Friedhof vom Land Baden-Württemberg instand gesetzt und bestens gepflegt. Zur Einweihung war Sohn Peter dabei. Ein Alb ist von meiner Seele gewichen. Ich habe sie noch einmal besucht, wenn auch nicht mehr im Leben, so doch im Tode.“

Grabsteine auf dem Lagerfriedhof des Camp de Gurs, 22.11.2007 – © Jean Michel Etchecolonea (Fotograf), https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gurs_tombes-1.JPG?uselang=de

Der „Deportiertenfriedhof“ (vgl. Stadt Karlsruhe:
https://www.karlsruhe.de/b4/international/gurs.de [21.09.2020]) wurde schließlich auf Initiative des damaligen Karlsruher Oberbürgermeisters Günther Klotz instandgesetzt, neugestaltet und am 26. März 1963 eingeweiht. Seit 2002 beteiligt sich auch die Stadt Baden-Baden an der Finanzierung der Pflege des Friedhofs als einem Gedenkort.

,Stolperstein‘ für Thekla Isaacsohn in Baden-Baden, Werderstraße 24, mit der Inschrift: „Hier wohnte und arbeitete Thekla Isaacsohn geb. Mandel, JG [Jahrgang] 1869 [sic!] – deportiert 1940 Gurs– tot 3.5.1941“, 2010 verlegt – © Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Claus Canisius

„[…] das Verschleppen meiner Großmutter nach Gurs und damit in den Tod ist grauenhaft trostlos“, trug Gretels jüngerer Sohn Dr. Claus Canisius in seine Publikation Mosaische Spurensuche (ders. 2015: 329) ein. Ermutigung, Selbstvergewisserung und Trost fand der Musikwissenschaftler im Gedenken an die mütterliche jüdische Familiengeschichte der Isaacsohns und der Mandels, deren biografisches und kulturelles Erbe er aufdeckte und in deren Tradition er sich selbst verortete. So besuchte er nicht nur den ‚Stolperstein‘ für seine Großmutter Thekla vor dem ehemaligen Baden-Badener jüdischen Frauenkurheim, sondern ebenso die Gräber seiner Vorfahren auf dem Jüdischen Friedhof Holzminden (vgl. Canisius 2016). Seine 1993 verstorbene Mutter Gretel hinterließ ihm ein kostbares Gut: zwei unversehrte Kiddusch-Kelche. Die vor der nationalsozialistischen Vernichtung bewahrten rituellen Weinkelche befanden sich zuvor im Besitz seines Großvaters Iwan Isaacsohn.

Kiddusch-Kelch (1859) für Rabbi Chaver Nehemia Ben Jitzhak – © Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Claus Canisius

Iwan Isaacsohn hatte die rituellen Weinkelche von seinen Eltern Fanny und Joseph Nehemias Isaacsohn geerbt und diese wiederum von Josephs Vater Rabbi Chaver Nehemia Ben Jitzhak, Sohn von Rabbi Jitzhak und ein hochangesehener jüdischer Gelehrter (Chaver), der an einer Tora-Talmud-Hochschule (Jeschiwa) lehrte. Der jüngere der beiden Kelche, „verziert mit vier religionsgeschichtlichen bedeutenden Gravuren“ (Canisius 2015: 305), war ein Geschenk der Jeschiwa-Studenten an ihren hochverehrten Lehrer.

Inschrift auf dem Kiddusch-Kelch für Rabbi Chaver Nehemia Ben Jitzhak – © Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Claus Canisius

Die erste Inschrift enthält „die Genealogie der Familie Isaacsohn, die von Lehrern und Schülern gemeinsam erstellten Widmungstexte sowie das Totengedenken“ (ebd.: 307). Diese Entdeckung war für Claus Canisius – als dem Nachfahren und Erben einer von den Nationalsozialisten fast vernichteten jüdischen Familie – von unschätzbarem Wert.

Jüdische Genealogie: Iwan Isaacsohn – Gretel (Isaacsohn) Canisius – Dr. Claus Canisius – © Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Claus Canisius

Die gemeinsame jüdische Tradition und Familiengeschichte (vgl. Canisius 2015: 318), symbolisiert durch die geretteten Kiddusch-Kelche und ihre Inschriften, hat Claus Canisius wieder mit seiner schmerzlich vermissten Großmutter vereint. In einem Interview (vgl. Altenburg 2015) hatte Oberin Theklas über 80-jähriger Enkel seinem Gesprächspartner einen Herzenswunsch offenbart: „Ich würde gerne Rabbiner werden.“

Nachbetrachtung und Dank

Bis auf ihren Brief aus dem Camp de Gurs sind von Thekla (Mandel) Isaacsohn bislang keine weiteren Ego-Dokumente wie Tagebücher, Aufzeichnungen und Korrespondenzen bekannt. Gleichwohl gehört ihre berufliche, persönliche und Familienbiografie zu den wenigen Lebensgeschichten deutsch-jüdischer Krankenschwestern, die weitgehend rekonstruiert werden konnten. Eine ähnlich günstige Quellenlage weisen lediglich der erhaltene Teil-Nachlass und die 1996 veröffentlichte Autobiografie Stationen einer jüdischen Krankenschwester. – Deutschland – Ägypten – Israel von Thea Levinsohn-Wolf auf. Am Beispiel Thekla Isaacsohns und ihrer jüngeren Frankfurter Kollegin Thea lassen sich  für Bildung, Fortbildung, Unterricht und Lehre wichtige Aspekte deutsch-jüdischer Pflegegeschichte dokumentieren, beleuchten und mit Fotomaterial veranschaulichen, Erkenntnisse über Zusammenhänge von Pflege und Judentum gewinnen, Erinnerung vertiefen.

Für die großartige Unterstützung und Zusammenarbeit bei den Recherchen zu diesem Artikel dankt die Autorin ganz besonders dem im März 2020 leider verstorbenen Musikwissenschaftler und Enkel Dr. Claus Canisius, seiner Frau Dorothea Canisius für die gastfreundliche Aufnahme. Des Weiteren geht der Dank (in alphabetischer Reihenfolge) an Dr. Claudia Becker, Stadtarchiv Lippstadt – Klaus Kieckbusch, Holzminden – Jochen Rees, Staatsarchiv Freiburg – Andrea Rönz, Stadtarchiv Linz am Rhein – Gerd Schmitz, Standesamt Linz am Rhein – Dr. Matthias Seeliger, Stadtarchiv Holzminden – Prof. em. Dr. Erhard Roy Wiehn, Universität Konstanz. Für die Erforschung der Familiengeschichte Mandel/Isaacsohn hilfreich war zudem das digitale Datenbankprojekt Jüdisches Leben in Minden und Umgebung (https://juedisches-leben.kommunalarchiv-minden.de/index.php, Stand 21.09.2020).

Birgit Seemann, Stand November 2021

Literaturverzeichnis

Ungedruckte Quellen

ISG Ffm: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main
HB 655: Hausstandsbuch Bornheimer Landwehr 85 (Frankfurter jüdisches
Schwesternhaus), Sign. 655
LA NRW: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abt. Ostwestfalen-Lippe (Detmold):
Register der Juden und Dissidenten im Regierungsbezirk Arnsberg, Lippstadt: P 5, Nr. 256: Nr. 154 (rechte Seite, letzter Eintrag): Geburtseintrag zu Thekla Mandel zu 1867 (rechte Seite, letzter Eintrag)
StAF: Staatsarchiv Freiburg: Landesarchiv Baden-Württemberg, Abteilung Staatsarchiv Freiburg:
Personalakte (Entschädigungsakte): Bestand F 196/1 Nr. 5886: Isaacsohn, Thekla
Zivilprozessakten (Restiutionsverfahren): Bestand F 168/2 Nr. 762: Canisius, Gretel
Zivilprozessakten (Restitutionsverfahren): Bestand F 166/3 Nr. 3863: Canisius, Peter [Schwiegersohn, von Thekla Isaacsohn als Erbe eingesetzt]
Zivilprozessakten (Restitutionsverfahren): Bestand F 168/2 Nr. 619: Isaacsohn-Jackson, Werner, Oxford (Großbritannien)
Landgericht Baden-Baden (Restitutionsverfahren): Bestand F 165/1 Nr. 121:
Rückerstattung (Grundstück mit Wohnhaus Werderstraße 24, Baden-Baden), Kläger: Erholungsheim für israelitische Frauen in Baden-Baden e.V., Frankfurt a.M.: Beklagte(r): Rubens, Hans, Kaufmann, Baden-Baden; Löw, Emil, Fabrikant, Baden-Baden-Oos (1949-1954)
NL 1 Jackson: Jackson, Werner: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz: Jackson, Werner, Teil-Nachlass: http://kalliope-verbund.info/de/eac?eac.id=1111573360
NL 2 Jackson: Bauhaus-Archiv e.V. / Museum für Gestaltung, Berlin: the jackson archive: Jackson, Werner, Teil-Nachlass, Link mit Kurzvita u. Foto: https://www.bauhaus.de/de/sammlung/6445_schenkungen/6449_the_jackson_archive/
PA Canisius: Privatarchiv Dr. Claus Canisius (Canisius/Isaacsohn/Mandel)

 

Digitalisierte Quellen

Badische Landesbibliothek Karlsruhe
Badische Landesbibliothek Karlsruhe Verzeichnis: Digitale Sammlung: Verzeichnis der am 22. Oktober 1940 aus Baden ausgewiesenen Juden, Karlsruhe 1941: Der Generalbevollmächtigte für das Jüdische Vermögen in Baden: Stadtkreis Baden-Baden, Baden-Baden, S. 4 (Nr. 48), Online-Ausg. 2012: https://digital.blbkarlsruhe.de/blbihd/content/titleinfo/1079922
Kommunalarchiv Minden
Kommunalarchiv Minden Datenbank: Jüdisches Leben in Minden und Umgebung. Hg.: Kommunalarchiv Minden. Archiv der Stadt Minden und des Kreises Minden-Lübbecke, https://juedisches-leben.kommunalarchiv-minden.de/index.php
UB JCS Ffm: Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt a.M.
Judaica Frankfurt: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/judaica/
Judaica Frankfurt CM: Judaica Frankfurt, Compact Memory: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/nav/index/title

 

Sekundärliteratur

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Alicke, Klaus-Dieter 2017: Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum, Stand 01.01.2017, https://www.jüdische-gemeinden.de/index.php/home [Link inaktiv, Website zugänglich]
Altenburg, Manja 2015: „Ich würde gerne Rabbiner werden“. [Artikel über Thekla Isaacsohns Enkel Claus Canisius]. In: WINA. Das jüdische Stadtmagazin, Wien (Juni 2015), https://www.winamagazin.at/ich-wuerde-gerne-rabbiner-werden/ [21.09.2020]
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Steppe, Hilde 1997: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre …“. Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt a.M.
Teschner, Gerhard J. 2002: Die Deportation der badischen und saarpfälzischen Juden am 22. Oktober 1940. Vorgeschichte und Durchführung der Deportation und das weitere Schicksal der Deportierten bis zum Kriegsende im Kontext der deutschen und französischen Judenpolitik. Frankfurt a.M. [u.a.]
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Internetquellen (letzter Aufruf aller im Text verwendeten Quellen am 21.09.2020)

Alemannia Judaica: Alemannia Judaica – Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Geschichte der Juden im süddeutschen und angrenzenden Raum: https://www.alemannia-judaica.de/
Alemannia Judaica Baden-Baden (Stadtkreis): https://www.alemanniajudaica.de/badenbaden_synagoge.htm
Alemannia Judaica Baden-Baden (nach 1945): https://www.alemanniajudaica.de/badenbaden_neu.htm
Alemannia Judaica Linz am Rhein: https://www.alemannia-judaica.de/linz_synagoge.htm (unter Mitarb. v. Gisela Görgens)
Alemannia Judaica Rhens: https://www.alemannia-judaica.de/rhens_synagoge.htm
BAK Gedenkbuch: Bundesarchiv Koblenz: Gedenkbuch: Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945, https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch
Geni: https://www.geni.com (private genealogische Website mit noch weiter zu prüfenden Angaben)
Joseph Mandel: https://www.geni.com/people/Joseph-Mandel/6000000036299037167
GenWiki: http://wiki-de.genealogy.net/Hauptseite. Hg.: Verein für Computergenealogie e.V., Dortmund – Datenbank Grabsteine: http://grabsteine.genealogy.net (unter Mitarbeit v. Holger
Holthausen u. Herbert Juling)
JüdPflege: Jüdische Pflegegeschichte / Jewish Nursing History. Forschungsprojekt an der Frankfurt University of Applied Sciences, https://www.juedische-pflegegeschichte.de
JUF Datenbank: Biographische Datenbank Jüdisches Unterfranken, http://www.historischesunterfranken.uni-wuerzburg.de/juf/
Stolpersteine Baden-Baden: http://stolpersteine-baden-baden.de
Theresienstadt Opferdatenbank: https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/
Yad Vashem Datenbank: Gedenkstätte Yad Vashem, Zentrale Datenbank der Holocaust-Opfer, https://yvng.yadvashem.org/

Minderheit im Frauenberuf: jüdische Krankenpfleger in Frankfurt am Main

Jakob Grünebaum – Leopold Kahn – Hermann Rothschild  Walter Samuel Hayum – Jonas Neuberger

Sie sind selbst in der pflegehistorischen Forschung kaum präsent: Männer in der deutsch-jüdischen Krankenpflege. Mit Jakob Grünebaum, Walter Samuel Hayum, Leopold Kahn, Jonas Neuberger und Hermann Rothschild stellt der Artikel fünf jüdische Pfleger mit Dienstort Frankfurt am Main vor. Weitere Namen sind: Alfred Hahn, Walter Kleczewski, Max Ottensoser, Ludwig Strauß. Viele Ego-Dokumente und persönliche Quellen gingen in der Shoah verloren, doch hat ein seltenes Foto ,überlebt‘.

Gewidmet ist der Beitrag der Stuttgarter Pflegehistorikerin Dr. Sylvelyn Hähner Rombach (1959–2019) und den von ihr begonnenen Studien zu Männern in der Krankenpflege. Eingesetzt wurden die Pfleger ihren Recherchen zufolge häufig in der Urologie, Dermatologie und Psychiatrie sowie in der Kriegskrankenpflege und im Sanitäts- und Katastrophendienst.

Leopold Kahn (links) im Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main, Gagernstraße 36, undatiert (um 1941), rechts vermutlich Walter Samuel Hayum – © privat / Gary Kahn, online: Stadt Frankfurt am Main, Stolpersteine; „Juden in Groß-Gerau“ [letzter Aufruf der beiden Websites am 12.06.2020]
Diese Aufnahme hat die Shoah überlebt. Sie stammt aus der Zeit der NS-Verfolgung und gehört zu den seltenen noch erhaltenen Bildquellen mit deutsch-jüdischen Krankenpflegern in Berufskleidung. Wer das Pflegeteam auf dem Gelände seines Arbeitsplatzes – des Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main in der Gagernstraße 36 – um 1941 fotografiert hat, ist bislang unbekannt. Das Foto trat die weite Reise in das US-amerikanische Exil an und fand den Weg zu einem Großneffen des links abgebildeten Leopold Kahn; bei dem jüngeren Kollegen rechts im Bild handelt es sich sehr wahrscheinlich um Walter Samuel Hayum. Zwischen den beiden aufrecht stehenden Pflegern sitzen einträchtig und miteinander plauschend vier Schwestern. Die Fotografie gibt Hinweise auf damalige Geschlechterverhältnisse: Während die Schwestern – hier des 1893 gegründeten Frankfurter Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen – eine Gemeinschaft bildeten und den Frauenberuf Pflege dominierten, traten ihre männlichen Kollegen eher vereinzelt auf. Soweit bekannt, hatten die Männer in der deutsch-jüdischen Krankenpflege keine eigene Vereinigung gegründet. Was den Zugang zu christlichen Organisationen betraf, setzte er in der Regel die Taufe voraus. Unter der rassistisch-antisemitischen Verfolgung im NS-Staat blieben die jüdischen Krankenpfleger aus den nichtjüdischen beruflichen Verbänden ausgeschlossen.

Einleitung

Stellenannonce des Krankenpflegers Moritz Blau in: FIG 15 (1936-1937) 2 (11.1936), S. 40

„[…] empfiehlt sich für Tag- u. Nachtpflege, besonders für schwere Fälle u. Nervenpflege“, inserierte der Privatpfleger Moritz Blau (Lebensdaten unbekannt) in der Novemberausgabe 1936 des Frankfurter Israelitischen Gemeindeblatts. Er gehörte zu einer beruflichen Gruppe, die selbst in der pflegehistorischen Forschung kaum präsent ist: Männer in der deutsch-jüdischen Krankenpflege. Immer noch wird der männlichen Minderheit im ‚Frauenberuf‘ Pflege zu wenig Aufmerksamkeit zuteil (mit Ausnahmen wie z.B. Kolling 2008; Schwamm 2021). Dieses Forschungsdesiderat hat für den deutschen Untersuchungsraum erstmals die 2019 leider verstorbene Stuttgarter Pflegehistorikerin Sylvelyn Hähner-Rombach ausgelotet und mit einem weiterführendem Literatur- und Quellenverzeichnis versehen (vgl. dies. 2015). Vermutet werden häufige Einsätze männlicher Pflegender in der Psychiatriepflege, Urologie (Männerkrankheiten) und Dermatologie (Haut- und Geschlechtskrankheiten) sowie in Kriegskrankenpflege, Sanitäts- und Katastrophendienst, doch bleiben viele Fragen offen:

„Fakt ist, dass wir noch viel zu wenig über Männer in diesem Berufsfeld wissen. Das beginnt schon mit quantitativen Erhebungen: Wie hoch war ihr Anteil an den Pflegenden im Laufe des 20. Jahrhunderts, wie verteilten sie sich auf die verschiedenen Sparten, wie Krankenhaus, psychiatrische Einrichtungen, Privatpflege, Sanitätswesen bzw. auf die verschiedenen Abteilungen, welche Ausbildung(en) haben sie durchlaufen, wie lange blieben sie im Beruf, in welchen Stellungen waren sie dort, etc. […] Gab es Unterschiede in den Praktiken, im Pflegeverständnis, im beruflichen Selbstverständnis, im Umgang mit Kranken und Ärzten, in der Wahrnehmung von Krisen und Katastrophen, etc. zwischen Krankenpflegern und Krankenschwestern?“
(Hähner-Rombach 2015: 136).

Eine von Hähner-Rombach nachfolgend aufgeführte Statistik zur „Verbreitung des Heilpersonals, der pharmazeutischen Anstalten und des pharmazeutischen Personals im Deutschen Reiche“ ergab für das Jahr 1909, dass „von 68.778 Krankenpflegepersonen 12.881 männlichen Geschlechts waren, das entspricht einem Anteil von rund 18,7 Prozent“ (dies. 2017: 544, 545). 1887 und 1898 lag der männliche Anteil noch bei 11 bzw. 10,7 Prozent. 1927 „wurden im Deutschen Reich (ohne das Saargebiet) 88.872 Krankenpflegepersonen gezählt, davon waren 14.033 männlichen Geschlechts, also rund 15,8 Prozent“ (ebd.: 545). Auch liegen Daten über den männlichen und weiblichen Anteil an Pflegenden vor, die einem „weltlichen“, evangelischen oder katholischen Verband angehörten – ausgenommen den jüdischen, die möglicherweise in die Rubrik „sonstige“ erfasst wurden (ebd.).

Anonyme Stellenannonce eines israelitischen Krankenpflegers im Frankfurter Israelitischen
Familienblatt: UB JCS Ffm: FIF 6 (1908) 26, 03.07.1908, S. 11

Angesichts des Recherchestands verwundert es kaum, dass wir über die Berufsbiografien männlicher jüdischer Pflegender in Deutschland bislang weitaus weniger wissen als inzwischen über die der weiblichen (vgl. z.B. Steppe 1997; JüdPflege. Siehe auch Levinsohn-Wolf 1996; Lorz 2016). Laut Thea Levinsohn-Wolf, von 1927 bis 1932 Schwester am Frankfurter jüdischen Krankenhaus Gagernstraße, gab es dort während „meiner Zeit […] keine männlichen Krankenpfleger“ (zit. aus Fragebogen, Nachlass Hilde Steppe: Sign. 0113-1/8, 30, Hinweis von Edgar Bönisch).

Zu den in Ansätzen erforschten Bruderschaften der Diakonie hatten jüdische Männer vermutlich nur nach der Taufe Zugang; Ego-Dokumente und weitere persönliche Quellen gingen in der Shoah verloren. ‚Stellvertretend‘ für ihre namentlich unbekannten Kollegen erinnert der Artikel im Folgenden an fünf jüdische Krankenpfleger mit Dienstort Frankfurt am Main: Jakob Grünebaum, Leopold Kahn, Hermann Rothschild, Walter Samuel Hayum und Jonas Neuberger. Sie gehörten verschiedenen Generationen an: So betrug der Altersunterschied zwischen Jakob Grünebaum, Jahrgang 1870, und dem 1916 geborenen Jonas Neuberger 46 Jahre. Am 30. September 1938 verbot ihnen der NS-Staat die Versorgung nichtjüdischer Patienten und Patientinnen: „Juden dürfen die Krankenpflege nur an Juden oder in jüdischen Anstalten berufsmäßig ausüben.“ (zit. n. Deutsches Reichsgesetzblatt 1938 I, Nr. 154, Tag der Ausgabe: 30. September 1938, S. 346: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f9/Deutsches_Reichsgesetzblatt_38T1_154_1313.jpg.

Ein israelitischer Krankenpfleger: Jakob Grünebaum (1870–1943)

FIF 14 (1916) 23, 16.06.1916, S. 6

FIF 14 (1916) 44, 17.11.1916, S. 6

Inseriert und auf seine Kompetenz in der koscheren Versorgung jüdischer Patientinnen und Patienten hingewiesen hat hier der staatlich geprüfte, selbstständig tätige Krankenpfleger und Masseur Jakob Grünebaum. Wohl aus Gründen der Barrierefreiheit bot er seine Dienste laut Frankfurter Adressbuch seit 1913 von einer Parterre-Wohnung in der Helmholtzstraße 32 im jüdisch geprägten Ostend an, danach in der Friedberger Landstraße 26 (vgl. UB JCS Ffm: Frankfurter Adressbücher). Wie Jakob Grünebaum zu diesem Beruf kam und in welchem Krankenhaus er ausgebildet wurde, ist bislang unbekannt; ging er zuvor einem anderen Gewerbe nach? Geboren am 15. Mai 1870 im tauberfränkischen Wenkheim (heute Ortsteil der Gemeinde Werbach, Baden-Württemberg) als Sohn des Handelsmannes Herz Grünebaum und seiner Ehefrau Sara geb. Adler, zog er laut Entschädigungsakte (HHStAW 518/12659) im Jahr 1895 nach in Frankfurt am Main. Am 7. April 1899 heiratete er, am 24. April 1900 wurde sein einziges Kind, Hedwig Hahn geb. Grünebaum, geboren.

FIG 10 (1931-1932) 11 (7.1932), S. 247

In Frankfurt kümmerte sich Jakob Grünebaum – nach seinem eigenen beruflichen und religiösen Selbstverständnis ein „israelitischer Krankenpfleger“ – jahrzehntelang um seine Patientinnen und Patienten. Seine Dienstleistungen umfassten außer der Pflege und Massage auch die „Pedikur“ (Pediküre, Fußpflege) und das „Hühneraugenschneiden“. Möglicherweise war ihm die Pflege neben dem Beruf auch Berufung, verbunden mit der Erfüllung der religiösen Pflicht (Mitzwa) zur Krankenbetreuung (Bikkur Cholim, vgl. Seemann 2017a). Zugleich musste der Pflegeberuf ihm selbst und seiner kleinen Familie – Ehefrau und Tochter – den Lebensunterhalt sichern.

FIG 10 (1931-1932) 11 (7.1932), S. 247

FIG 11 (1932-1933) 10 (6.1933), S. 273

1931 zog das Ehepaar Grünebaum in die Rotteckstraße 6, danach in den Bäckerweg 7 und zuletzt in die Straße Am Tiergarten 28. Die in der Entschädigungsakte (HHStAW 518/ 12659) genannten Anschriften sind in den Frankfurter Adressbüchern teils nicht verifizierbar; möglicherweise hat sich die Familie Grünebaum nicht immer umgemeldet. 1933 laut Akteneintrag mit einem NS-Berufsverbot belegt, musste der mittlerweile 63-jährige Jakob Grünebaum den Pflegeberuf aufgeben und stattdessen mit Obst und Gemüse handeln. Fünf Jahre später bewahrte ihn nach dem Novemberpogrom 1938 möglicherweise sein Alter vor den Deportationen und mehrwöchigen KZ-Inhaftierungen jüdischer Männer zwischen 18 und 60 Jahren. Doch wenn sich auch „die Leipziger und die Frankfurter Gestapostelle zumindest bei der Einweisung in das Lager im wesentlichen noch an die Altersvorgabe hielten, kamen aus kleineren Städten und Landgemeinden in Thüringen und Hessen vor allem am 10. und 11. November viele Männer im Alter über 60, einige 70jährige und Jugendliche unter 18 Jahren in Buchenwald an“, schreibt Harry Stein, damaliger Kustos an der KZ-Gedenkstätte Buchenwald (vgl. ders. 1999: 26). In Monica Kingreens Auflistung (vgl. dies. 1999a) der im November 1938 von Frankfurt am Main in das KZ Dachau Verschleppten sind die Namen der hier vorgestellten Krankenpfleger nicht zu finden – allesamt jünger als Jakob Grünebaum, wurden sie möglicherweise von Frankfurt am Main oder aus anderen Orten in das KZ Buchenwald deportiert und wochenlang unter brutalen Bedingungen festgehalten. An Leib und Seele geschädigt, kehrten die Überlebenden traumatisiert zu ihren Angehörigen zurück; es war ihnen strikt verboten, über ihre KZ-Haft zu sprechen. Viele Angehörige und  Nachkommen sind daher nicht informiert, in Entschädigungsakten fehlen häufig entsprechende Hinweise.

Inzwischen 72 und 70 Jahre alt, traf das Ehepaar Grünebaum am 15. September 1942 die Deportation in das KZ Theresienstadt. Im Lager erlag Jakob Grünebaum am 31. März 1943 dem Hungertyphus. Seine Ehefrau, deren Geburtsdaten aus Datenschutzgründen im Artikel ungenannt bleiben, überlebte Theresienstadt und kehrte im Juni 1945 nach Frankfurt zurück. Dort verstarb sie 1963 im Jüdischen Altersheim Gagernstraße 36, dem früheren Standort des 1942 NS-zwangsaufgelösten letzten Frankfurter jüdischen Krankenhauses. Jakob Grünebaums Tochter, die Büroangestellte Hedwig Hahn, und seine Enkelin Inge Hahn (geb. 1936) wurden ebenfalls Opfer der Shoah; sein Schwiegersohn konnte in die USA flüchten.

Vom Kaufmann zum Krankenpfleger: Leopold Kahn (1889–1944)

Leopold Kahn wäre – anders als Jakob Grünewald – ohne die nationalsozialistische Verfolgung vermutlich nie Krankenpfleger geworden. Der gelernte Kaufmann wurde am 12. Juni 1889 in Worfelden (heute Stadtteil von Büttelborn, Kreis Groß-Gerau, Hessen) geboren und war mit seiner Cousine Johanna geb. Kahn (geb. 13.06.1895 in Worfelden) verheiratet; ihr einziges Kind Jakob verstarb in seinem Geburtsjahr 1920. Seit 1920 war das Ehepaar Kahn zu 50 Prozent Teilhaber des Textilwarengeschäfts „Kaufhaus J. & L. Kahn OHG“ in Groß-Gerau (Darmstädter Straße 12); der Familienbetrieb wurde in der NS-Zeit zwangsenteignet (HHStAW 518/ 11069, Antragsteller: Leopold Kahns überlebender Bruder; siehe auch die Internetseiten: Alemannia Judaica Worfelden und Groß-Gerau; Juden in Groß-Gerau). Ihres Lebensunterhalts beraubt, zogen Johanna und Leopold Kahn am 15. November 1937 nach Frankfurt am Main in die Bockenheimer Landstraße 91. Im Zuge des Novemberpogroms 1938 wurde wie viele jüdische Männer möglicherweise auch Leopold Kahn verhaftet und wochenlang im Lager festgehalten: Laut Transportliste des Gestapobereichs Frankfurt/Main hatte ihn die Stapo Frankfurt/Main für einen Transport am 12. November 1938 in das KZ Buchenwald vorgesehen; in den Veränderungsmeldungen des von Buchenwald sind mehrere am gleichen Tag deportierte Männer mit Namen Leopold Kahn ohne weitere Personalangaben eingetragen, die als „Aktionsjude“ inhaftiert waren.

Die Frankfurter Adressbücher 1938 und 1939 (UB JCS Ffm) verzeichnen Leopold Kahn für die Jahre 1937 und 1938 noch als Kaufmann, für das Jahr 1939 ist er als Krankenpfleger eingetragen. Diese zeitliche Angabe stimmt mit dem Hinweis in seiner Entschädigungsakte überein, wonach er Anfang 1939 – mit fast fünfzig Jahren – im Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde, Gagernstraße 36, seine Ausbildung startete; für die geplante Auswanderung in die USA erschien ihm die Krankenpflege als ein geeigneter Brotberuf im Exil. Nach der Ausbildung arbeitete Leopold Kahn nicht wie Jakob Grünebaum in der Privatpflege, sondern weiterhin in der Klinik: „Seine Devisenakte im Hess.[ischen] Hauptstaatsarchiv Wiesbaden belegt, dass er am 9.4.1940 66,40 RM als Krankenpfleger in Frankfurt im Krankenhaus in der Gagernstraße 36 verdient und nur ein begrenzt verfügbares Sicherungskonto mit einem Freibetrag von monatlich 570 RM besitzt“ (zit. nach: Juden in Groß-Gerau, http://www.erinnerung.org/gg/haeuser/da10.html [12.06.2020]). Aus dieser Zeit stammt auch das eingangs abgebildete seltene Foto (vgl. Abb. 1), das außer Leopold Kahn (links) möglicherweise Walter Samuel Hayum (vgl. Kap. 5) sowie vier Kolleginnen der jüdischen Schwesternschaft zeigt.

Tragischerweise ist die von Leopold und Johanna Kahn nach Chicago geplante Flucht aus Nazideutschland gescheitert. Beide zogen am 22. November 1941 – nach einer Zwischenstation in der Schumannstraße 51 – in das Krankenhaus Gagernstraße (ISG Ffm: HB 687, Bl. 169). Am 1. September 1942 wurde das Ehepaar aus dieser nunmehr letzten Frankfurter jüdischen Klinik – bis zur endgültigen NS-Liquidierung im September/Oktober 1942 ein NS-Sammellager – nach Theresienstadt deportiert. Im Oktober 1944 wurden sie in getrennten Todestransporten – am 1. Oktober der 55-jährige Leopold Kahn, am 6. Oktober die 49-jährige Johanna Kahn – in das Vernichtungslager Auschwitz verschleppt. Leopold Kahn wurde am 31. Dezember 1945 für tot erklärt. An das in der Shoah ermordete Ehepaar Kahn erinnern seit dem 4. Juni 2011 in Frankfurt am Main (Bockenheimer Landstraße) sowie seit dem 16. November 2012 in Groß-Gerau (Darmstädter Straße) zwei „Stolpersteine“ (vgl. Stolpersteine Ffm Dok. 2011: 80; Juden in Groß-Gerau).

„Einspritzungen, Katheterisieren, Spülungen aller Art“: Hermann Rothschild (1898–1941)

FIG 16 (1937-1938) 4 (1.1938), S. 29

„Einspritzungen, Katheterisieren, Spülungen aller Art“ – 1938 bot Hermann Rothschild seine pflegerischen Dienstleistungen im Frankfurter Israelitischen Gemeindeblatt an. Der selbständige Krankenpfleger und frühere Kaufmann wurde am 25. Juli 1898 in Völkershausen (heute Ortsteil der Stadt Vacha, Thüringen) als Sohn des Kaufmanns Salomon Rothschild und seiner Frau Luise geb. Weisskopf geboren. Bis auf eine im New Yorker Exil lebende Schwester (geb. 1889) und die früh verstorbene jüngste Schwester Rose (1901–1917) wurden vier seiner ebenfalls in Völkershausen geborenen Geschwister in der Shoah ermordet: Simon (geb. 1886), Isidor (geb. 1891), Max (geb. 1893) und Mally (Mali) Löbenstein (geb. 1895) (HHStAW 518/ 31778; BAK Gedenkbuch). Zu Anfang arbeitete Hermann Rothschild im thüringischen Stadtlengsfeld im väterlichen Geschäft. Später zog er nach Bad Nauheim (Hessen) und heiratete am 8. September 1929 Sofie (Sophie) geb. Scheuer (geb. 05.01.1902 in Ostheim, heute Stadtteil von Butzbach, Hessen), Kauffrau und Tochter eines Metzgerei-Inhabers (Mitteilung des Heiratsdatums von Herbert Begemann, Brüder-Schönfeld-Forum e.V., Maintal, per Mail v. 14.08.2020). Ihr einziges Kind Hans kam am 10. Dezember 1931 in Bad Nauheim zur Welt. Vor der Eheschließung hatte Sofie Rothschild seit 1925 das Delikatessengeschäft Scheuer geleitet, das die jüdischen Frauen- und Kinderheime sowie Hotels und Gaststätten belieferte (HHStAW 518/ 36224: Entschädigungsakte Rothschild, Sophie geb. Scheuer). Seit Oktober 1929 firmierte das Geschäft in der damaligen Fürstenstraße 8 als „Feinkosthaus Scheuer. Inhaber Hermann Rothschild“. 1931 kam es zur Geschäftsaufgabe. Von Februar 1931 bis Oktober 1935 hatte Hermann Rothschild einen Handel mit Kleintextilien als Gewerbe angemeldet. Von der Kursstraße 11 in Bad Nauheim zogen Hermann, Sofie und Hans Rothschild am 2. Januar 1936 nach Frankfurt am Main. Zuletzt wohnte die Familie in der Straße Am Tiergarten 42 – nur wenige Häuser entfernt von Jakob Grünebaum und seiner Frau.

Wie Leopold Kahn wechselte auch Hermann Rothschild von dem kaufmännischen in den pflegerischen Beruf: 1936/1937 absolvierte er am Krankenhaus Gagernstraße erfolgreich eine zweijährige Ausbildung, blieb aber nicht auf der Station, sondern ging in die Privatpflege. Durch Entscheid des Regierungspräsidenten in Wiesbaden war er seit dem 24. November 1937 als selbständiger Krankenpfleger zugelassen. Hermann Rothschilds Wohnung Am Tiergarten 42 lag im Erdgeschoss und ermöglichte damit auch in ihrer Mobilität eingeschränkten Kunden barrierefreien Zugang; ob Hermann Rothschild auch weibliche Kranke versorgte, ist unbekannt. Aufgrund der NS-Ausplünderung unterlagen seine Honorare starken Schwankungen und setzten sich häufig aus geringen Honoraren seiner verarmten jüdischen Patienten zusammen (HHStAW 518/ 31778).

Annonce des Krankenpflegers Hermann Rothschild im Frankfurter Israelitischen Gemeindeblatt, 1938

Auch Hermann Rothschild verband mit dem Pflegeberuf erhöhte Emigrationschancen, doch auch hier scheiterte die Flucht aus Nazideutschland. Am 22. November 1941 wurden Hermann, Sofie und Hans Rothschild in das NS-besetzte Litauen verschleppt – im gleichen Deportationszug wie die junge Frankfurter Krankenschwester Zilli Heinrich (geb. 1922) und ihre Mutter Emilie. Laut Online-Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz (siehe BAK) fiel die Familie Rothschild am 25. November 1941 den NS-Massenerschießungen im Festungs-Lager Fort IX in Kauen (Kaunas/ Kowno) zum Opfer. Das 2016 eingeweihte „Holocaust Erinnerungsmal Bad Nauheim“ erwähnt auch die Namen von Hermann, Sophie und dem erst neunjährigen Hans Rothschild (vgl. https://www.holocaust-erinnerungsmal-badnauheim.com/[12.06.2020]).

An dieser Stelle sei auch an Hermann Rothschilds etwa gleichaltrigen Kollegen Max Ottensoser erinnert: Der Kaufmann und Krankenpfleger wurde am 5. Februar 1899 in Bad Neustadt an der Saale (Bayern) in der unterfränkischen Rhön geboren (ISG Ffm: HB 686, Bl. 91; HB 687, Bl. 248). Vom 14. Januar 1939 bis zum 31. Dezember 1941 pflegte er im Krankenhaus Gagernstraße, kehrte dann aber wieder zu seiner Familie in Bad Neustadt an der Saale zurück. Am 25. April 1942 wurde er zusammen mit seiner Ehefrau Mina geb. Heippert (geb. 1897) und seiner Tochter Selma (geb. 1929) ab Würzburg in ein Todeslager (laut BAK Gedenkbuch: Krasnystaw; laut BDJU: Krasniczyn) im NS-besetzten Polen deportiert und vermutlich in einem Vernichtungslager ermordet. Sechs Jahre jünger als Hermann Rothschild war der am 20. August1905 in Bad Ems (Rheinland-Pfalz) geborene Kaufmann und Krankenpfleger Ludwig Strauß (Strauss). Am 8. August 1939 zog er vom Röderbergweg 38 in das Krankenhaus Gagernstraße und arbeitete dort als Pfleger (ISG Ffm: HB 687, Bl. 339). Am 2. August 1940 verließ er Frankfurt in Richtung Köln. Von dort wurde er am 7. Dezember 1941 zusammen mit seiner Ehefrau Berta geb. Kohlhagen (geb. 1906) und seiner Tochter Doris (geb. 1934) in das NS-besetzte Lettland (Ghetto Riga) deportiert. An die Familie Strauß erinnern heute in Bad Ems, Lahnstraße 5, „Stolpersteine“, ebenso Gedenkblätter in der Opferdatenbank der Gedenkstätte Yad Vashem.

Verschollen in Minsk: Walter Samuel Hayum (1909 – 1941 deportiert)

Walter Samuel Hayum, ohne Jahr – © Gedenkstätte Yad Vashem, Jerusalem

Walter Samuel Hayum stammte aus einer jüdischen Viehhändlerfamilie (vgl. ISG Ffm: HB 686, Bl. 94; HB 687, Bl. 121; Geni: https://www.geni.com/people/Elias-Eliyahu-Hayum/6000000014157844756 [12.06.2020]; Alemannia Judaica Kirf [12.06.2020]). Geboren wurde er am 6. März 1909 als jüngstes von sechs Kindern des Ehepaares Amalia geb. Mayer (1872 – 1944 KZ Theresienstadt) und Elias (Eliyahu) Hayum (1863–1935) in dem katholischen Bauerndorf Kirf (heute Verbandsgemeinde Saarburg-Kell, Rheinland-Pfalz). Wo er seine Pflegeausbildung erhielt und ob er zuvor ebenfalls in einem kaufmännischen oder einem anderen Beruf tätig war, konnte bislang nicht recherchiert werden. Vom Baumweg 3 – dort befanden sich verschiedene Institutionen der Frankfurter Jüdischen Gemeinde – zog Walter Samuel Hayum am 28. April 1939 in das Krankenhaus Gagernstraße und pflegte dort zweieinhalb Jahre. In der Klinik traf er vermutlich auf einen fast gleichaltrigen, ebenfalls unverheirateten Kollegen: Walter Kleczewski wurde am 31. Juli 1910 in Herne (Nordrhein-Westfalen) geboren. Von Essen war er vermutlich aufgrund der NS-Verfolgung nach Frankfurt gezogen und seit dem 28. September 1939 im Krankenhaus Gagernstraße gemeldet. Für den 9. Juni 1941 verzeichnet das Hausstandsbuch Gagernstraße 36 (ISG Ffm: HB 687, Bl. 166). Walter Kleczewskis Abmeldung nach Posen im NS-besetzten Polen, wo sich seine biografischen Spuren verlieren. Möglicherweise konnte er überleben.

Kehren wir zurück zu Walter Samuel Hayum: Er zog vermutlich auf Druck der NS-Behörden 17. Oktober 1941 vom Krankenhaus in die Zobelstraße 9. Dabei handelte es sich sehr wahrscheinlich um ein ,Judenhaus‘ (NS-Behördenjargon), in der neueren Forschung inzwischen als „Ghettohaus“ benannt, einem NS-zwangsenteigneten Wohnhaus aus ehemals jüdischem Eigentum, in das die NS-Behörden jüdische Mieter/innen und Untermieter/innen zwangsweise einwiesen – die letzte Station vor der Deportation. Vom ,Ghettohaus‘ wurde Walter Samuel Hayum am 11. November 1941 mit weiteren Bewohnerinnen und Bewohnern in das Ghetto Minsk im NS-besetzten Weißrussland verschleppt – im gleichen Deportationszug wie die seine Kollegin Amalie Stutzmann (geb. 1890). Auch diesen zweiten Todestransport aus Frankfurt am Main mit bis zu 1.052 Opfern haben nur wenige Menschen überlebt (vgl. Kingreen 1999; Rentrop 2011; Yad Vashem Deportationen Minsk).

Übersichtskarte des Ghettos Minsk – Epstein, Barbara 2008: The Minsk Ghetto 1941-1943: Jewish Resistance and Soviet Internationalism, University of California Press, Lizenzangaben: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Map_of_the_Minsk_Ghetto.jpg?uselang=de [12.06.2020]
Wie Walter Samuel Hayum wurden auch seine Mutter Amalia und fünf ebenfalls in Kirf geborene Geschwister samt ihren Familien in der Shoah ermordet (vgl. BAK Gedenkbuch; Geni; Yad Vashem): Johanna Hayum (vermutlich verheiratete Bach, geb. 1901), die Viehhändler Jakob (geb. 1902), Alfred (geb. 1903) und Siegfried Hayum (geb. 1905) und Erna Hayum (geb. 18.01.1907, vermutlich identisch mit Erna Hayum verheiratete Herz, geb. 23.10.1906). Zu Walter Samuel Hayums Bruder Alfred ist inzwischen bekannt, dass er sich unter 86 in Auschwitz selektierten jüdischen Frauen und Männern befand, die am am 17. oder 19. August 1943 im KZ Natzweiler-Struthof (Elsass) in der Gaskammer ermordet wurden – im Auftrag der SS-Wissenschaftsorganisation „Ahnenerbe“: Die Skelette der Opfer sollten bei einer rassenideologischen Ausstellung im Anatomischen Institut der Reichsuniversität Straßburg zur Schau gestellt werden (vgl. Lang 2007; ders. o.J.).

Aus neo-orthodoxem Hause: Jonas Neuberger (1916–1942)

Auch Jonas (Jona) Neuberger hatte vor seinem Einstieg in die Krankenpflege in einem kaufmännischen Beruf gearbeitet. Geboren wurde er am 26. August 1916 in Berlin als Sohn von Sara Hulda Neuberger geb. Ansbacher (geb. 1881 in Nürnberg) und Menachem Max Neuberger (geb. 1880 in Frankfurt a.M.). Mit seinen Geschwistern wuchs er im religiös-kulturellen Milieu der jüdischen Neo-Orthodoxie auf, die sich in Opposition zu den vorwiegend liberalen jüdischen Mehrheitsgemeinden gründete und in ‚Austrittsgemeinden‘ organisierte. So stand Jonas Neubergers Vater Max, ein gebürtiger Frankfurter, in der Tradition Samson Raphael Hirschs, des Begründers der jüdischen Neo-Orthodoxie in Deutschland und langjährigen Rabbiners der Israelitischen Religionsgesellschaft Frankfurt am Main. In Berlin bekleidete Max Neuberger das Amt des Gemeindesekretärs der neo-orthodoxen Israelitischen Synagogen-Gemeinde (Adass Jisroel):
„Einer der aktivsten, geradezu vom Arbeitseifer besessenen, dabei äußerst bescheidenen Mitarbeiter der Adass war ihr Sekretär Max Neuberger, der seine Jugend in der Austrittsgemeinde Frankfurt a.M. verlebt [hatte] und vom Geiste Samson Raphael Hirschs beseelt war. […] Max Neuberger wurde von den Herren des Rabbinats, von den Mitgliedern der Verwaltung wegen seiner Tüchtigkeit und unbedingten Zuverlässigkeit hochgeschätzt“ (Sinasohn 1966: 43, zit. n. Kalisch 2012).

Die Familie Neuberger wohnte „damals im Haus der Gemeinde in Berlin N4, Artilleriestraße 31, wo der Vater auch tätig war […]. Dort, in der heutigen Tucholskystraße im Bezirk Mitte, standen Rabbinerseminar, Schule, Synagoge und Gemeindehaus der ‚Adassianer'“ (zit. n. Kalisch 2012).

Jonas Neuberger besuchte von 1922 bis 1932 das Adass Jisroel-Gymnasium in Berlin und legte dort das Einjährigen-Abitur ab; anschließend folgte bis 1933 eine kaufmännische Lehre in dem Berliner jüdischen Metallbetrieb „Firma Hirsch Erz- und Metalle A.-G“ am Kurfürstendamm (HHStaW 518/ 41479). Nach dreijähriger Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter verlor er unter der NS-Verfolgung 1936 seinen Arbeitsplatz. In Vorbereitung seiner Flucht aus Nazideutschland ließ sich Jonas Neuberger von 1936 bis um 1939 im Israelitischen Krankenheim von Adass Jisroel (vgl. https://adassjisroel.de/ [15.10.2021] zum diplomierten Krankenpfleger ausbilden. Am 30. Oktober 1940 wechselte er nach Frankfurt am Main und pflegte im Hospital der Georgine Sara von Rothschild´schen Stiftung (Röderbergweg) der Israelitischen Religionsgesellschaft, wo u.a. der Krankenpfleger Alfred Hahn (1911 – um 1944 [ermordet]) zum Team gehörte (vgl. Seemann 2017 u. 2020). Seit dem 7. Mai 1941 wohnte Jonas Neuberger vorübergehend im Personalwohnhaus des Rothschild’schen Hospitals, Rhönstraße 51 (ISG Ffm:  HB 742, Bl. 236). Wegen der NS-Zwangsauflösung des Rothschild’schen Hospitals zog er am 20. Mai 1941 in das letzte noch bestehende jüdische Krankenhaus Gagernstraße.

Jonas Neuberger wurde vermutlich 1942 aus Frankfurt deportiert – der Eintrag im Hausstandsbuch Gagernstraße lautet: „27.6.42 evakuiert (Stapo)“ (ISG Ffm: HB 687, Bl. 236). Am 25. Juli 1942 wurde der junge Krankenpfleger, noch keine 26 Jahre alt, im Vernichtungslager Majdanek ermordet. Auch seine Eltern Hulda und Max Neuberger und die Geschwister Markus (geb. 1909), Salomon (geb. 1912), Miriam (geb. 1913) und Simon Neuberger (geb. 1915) haben samt ihren Familien die Shoah nicht überlebt; nur zwei Brüder konnten noch rechtzeitig flüchten (BAK Gedenkbuch; Yad Vashem Opferdatenbank; Kalisch 2012).

Ausblick und Dank

Infolge der schwierigen Quellenlage liegt der Fokus dieses Artikels auf jüdischen Krankenpflegern, deren Namen im Kontext der Holocaust Studies recherchiert werden konnten. Die hier vorgestellten Personen waren bis auf Jakob Grünebaum nachweislich kaufmännisch tätig und fanden vermutlich erst unter der NS-Verfolgung den Weg zum Pflegeberuf, von dem sie sich verbesserte Chancen auf Emigration und einen verlässlichen Lebensunterhalt im Exil erhofften. Anders als ihre Kolleginnen im aktiven Dienst waren sie zumeist verheiratet und Ernährer ihrer Familien. Ihre erfolgreiche Bewältigung der Pflegeausbildung lässt Neigungen und Fähigkeiten vermuten, die sie für den Pflegeberuf prädestinierten.

Insgesamt steht die Forschung zu Männern in der deutsch-jüdischen Krankenpflege noch am Anfang und bedarf dringend weiterer Recherchen. Hinweise sind herzlich willkommen. Für wichtige Informationen dankt die Autorin insbesondere Herbert Begemann (Brüder-Schönfeld-Forum e.V., Maintal), Hartmut Schmidt (Stolpersteine Frankfurt am Main) und Hans-Georg Vorndran (Erinnerungsprojekt und Website „Juden in Groß-Gerau“). Diesen Artikel widme ich unserer Kollegin Dr. Sylvelyn Hähner-Rombach (1959–2019) und ihrem wegweisenden Beitrag zur Geschichte der Männer in der Krankenpflege.

Birgit Seemann, Stand November 2021

Quellen- und Literaturverzeichnis

8.1. Ungedruckte Quellen

HHStaW: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden
Bestand 518 Nr. 11069: Entschädigungsakte Kahn, Leopold
Bestand 518 Nr. 12659: Entschädigungsakte Grünebaum, Jakob
Bestand 518 Nr. 31778: Entschädigungsakte Rothschild, Hermann
Bestand 518 Nr. 36224: Entschädigungsakte Rothschild, Sophie geb. Scheuer
Bestand 518 Nr. 41479: Entschädigungsakte Neuberger, Jonas

ISG Ffm: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main
HB 686: Hausstandsbuch Gagernstraße 36 (Frankfurter Jüdisches Krankenhaus), Teil 1, Sign. 686
HB 687: Hausstandsbuch Gagernstraße 36 (Frankfurter Jüdisches Krankenhaus), Teil 2, Sign. 687
HB 742: Hausstandsbuch Rhönstraße 47-55 (Personalwohnungen des
Rothschild’schen Hospitals), Sign. 186/742

8.2. Digitale Quellen

FES Bibliothek: Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, https://www.fes.de/bibliothek/
Die Sanitätswarte: http://library.fes.de/gewerkschaftszeitschrift/sol/?q=libtitle:Die%20Gewerkschaft&start=1360

UB JCS Ffm: Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt a.M.
Frankfurter Adressbücher (Digitalisate, bis 1943): https://www.ub.unifrankfurt.
de/wertvoll/adressbuch.html
Judaica Frankfurt (Digitalisate): http://sammlungen.ub.unifrankfurt.
de/judaica/nav/index/all
Judaica Frankfurt / Compact Memory (digitalisierte jüdische Periodika):
https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/nav/index/title
FIG: Gemeindeblatt der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main (Frankfurter Israelitisches Gemeindeblatt)
FIF: Neue jüdische Presse (Frankfurter Israelitisches Familienblatt)

8.3. Literatur

Alicke, Klaus-Dieter o.J. [2014]: Aus der Geschichte jüdischer Gemeinden im
deutschen Sprachraum, http://www.jüdische-gemeinden.de/index.php/home [URL inaktiv, aber zugänglich, zuletzt aufgerufen am 12.06.2020]
Hähner-Rombach, Sylvelyn 2015: Männer in der Geschichte der Krankenpflege. Zum Stand einer Forschungslücke / Men in the history of nursing. In: Medizinhistorisches Journal 50 (2015) H. 1/2, Themenheft: Geschlechterspezifische Gesundheitsgeschichte: Warum nicht einmal die Männer …?, S. 123-148
Hähner-Rombach, Sylvelyn 2017: Geschlechterverhältnisse in der Krankenpflege. In: dies. (Hg.): Quellen zur Geschichte der Krankenpflege. Mit Einführungen und Kommentaren. Hg. unter Mitarbeit v. Christoph Schweikardt. 4., überarb. u. erw. Aufl. Frankfurt a.M.: 535-555
Israelitische Synagogen-Gemeinde (Adass Jisroel) zu Berlin, K.d.ö.R. (Hg.) o.J.:
https://adassjisroel.de/
Kalisch, Christoph 2012: Flora Rabinowitz (Neuberger, verh.). In: Gedenkbuch für die Karlsruher Juden, Dezember 2012, http://gedenkbuch.informedia.de/gedenkbuch.php/PID/2.html [12.06.2020]
Kingreen, Monica 1999a: Von Frankfurt in das KZ Dachau. Die Namen der im November 1938 deportierten Männer. In: dies. 1999 (Hg.): 55-89
Kingreen, Monica 1999b: Gewaltsam verschleppt aus Frankfurt. Die  Deportationen der Juden in den Jahren 1941–1945. In: dies. (Hg.) 1999: 357-402
Kingreen, Monica (Hg.) 1999: „Nach der Kristallnacht“. Jüdisches Leben und antijüdische Politik in Frankfurt am Main 1938–1945. Frankfurt a.M.
Kolling, Hubert 2008: Krankenpfleger, Gewerkschafter und Fachbuchautor Franz Bauer (1898–1969). Sonneberg: Sonneberger Museums- und Geschichtsverein
Lang, Hans-Joachim 2007: Die Namen der Nummern. Wie es gelang, die 86 Opfer eines NSVerbrechens zu identifizieren. Überarb. Ausg. Frankfurt a.M.
Lang, Hans-Joachim [o.J.]: Die Namen der Nummern. Erinnerung an 86 jüdische Opfer eines Verbrechens von NS-Wissenschaftlern, https://www.die-namen-dernummern.de/index.php/de/ [12.06.2020]
Rentrop, Petra 2011: Tatorte der „Endlösung“. Das Ghetto Minsk und die Vernichtungsstätte von Maly Trostinez. Berlin
Schwamm, Christoph 2021: Wärter, Brüder, neue Männer. Männliche  Pflegekräfte in Deutschland ca. 1900–1980. Medizin, Gesellschaft und Geschichte – Beiheft 79, hg. v. Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung. Stuttgart
Seemann, Birgit 2017a: Der jüdische Krankenbesuch (Bikkur Cholim), updated 2017:  JüdPflege
Seemann, Birgit 2017b: Das Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung: JüdPflege
Seemann, Birgit 2017b: Das Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung (1870–1941) Teil 4: biographische Wegweiser: JüdPflege
Seemann, Birgit 2020: Frankfurter jüdische Krankenschwestern und ihre Verbindungen nach Mittelfranken (Nürnberg, Fürth), 2013, updated 2020: JüdPflege
Sinasohn, Max 1966: Adass Jisroel, Berlin. Entstehung, Entfaltung, Entwurzelung. 1869-1939: eine Gemeinschaftsarbeit. Jerusalem
Stein, Harry 1999: Das Sonderlager im Konzentrationslager Buchenwald nach den Pogromen 1938. In: Kingreen 1999 (Hg.): 19-54
Steppe, Hilde 1997: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre …“. Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt a.M.

8.4. Online-Datenbanken und Links [zuletzt aufgerufen am 12.06.2020]

Alemannia Judaica: Alemannia Judaica – Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Geschichte der Juden im süddeutschen und angrenzenden Raum: http://www.alemanniajudaica.de
Alemannia Judaica Bad Ems: http://www.alemannia-judaica.de/bad_ems_synagoge.htm
Alemannia Judaica Bad Neustadt an der Saale: http://www.alemanniajudaica.
de/neustadt_saale_synagoge.htm
Alemannia Judaica Groß-Gerau: http://www.alemannia-judaica.de/gross-gerau_synagoge.htm
Alemannia Judaica Kirf: http://www.alemannia-judaica.de/kirf_synagoge.htm
Alemannia Judaica Völkershausen: http://www.alemanniajudaica.
de/voelkershausen_synagoge.htm
Alemannia Judaica Wenkheim: http://www.alemannia-judaica.de/wenkheim_synagoge.htm
Alemannia Judaica Worfelden: http://www.alemannia-judaica.de/worfelden_synagoge.htm
Arcinsys: Archivinformationssystem Hessen, https://arcinsys.hessen.de
BAK Gedenkbuch: Das Gedenkbuch des Bundesarchivs für die Opfer der
nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland (1933–1945),
http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/index.html.de
BDJU: Biographische Datenbank Jüdisches Unterfranken, http://www.historischesunterfranken.uni-wuerzburg.de/juf/
Geni: Geni – A MyHeritage Company, https://www.geni.com/people [private genealogische Website mit weiter zu prüfenden Daten]
JM Ffm Gedenkstätte: Jüdisches Museum Frankfurt am Main, Gedenkstätte Neuer Börneplatz
– Lebensläufe [interne Datenbank, im Jüdischen Museum einsehbar]
Juden in Bad Neustadt: Wiederentdeckte Gemeinden: Die verlorenen Juden von Bad Neustadt. Ein Projekt des Hadassah Academic College Jerusalem in Kooperation mit der Stadt Bad Neustadt an der Saale, http://www.judaica-badneustadt.de/de/index.html
Juden in Groß-Gerau: Juden in Groß-Gerau. Eine lokale Spurensuche. Red.: Hans-Georg Vorndran, http://www.erinnerung.org/gg/ [Historische Fotogalerie Leopold und Johanna Kahn: http://www.erinnerung.org/gg/histfotogal/kahn_leo.html]
JüdPflege: Jüdische Pflegegeschichte – Biographien und Institutionen in Frankfurt Main
Levinsohn-Wolf, Thea 1996: Stationen einer jüdischen Krankenschwester. Deutschland – Ägypten – Israel. Frankfurt a.M.
Lorz, Andrea 2016: „… primo et uno loco als Oberin fuer unser Haus empfohlen …“ – Eine Spurensuche nach dem Wirken von Angela Pardo, Oberin im Israelitischen Krankenhaus zu Leipzig von 1928 bis 1938. In: Heidel, Caris-Petra (Hg.): Jüdinnen und Psyche. Frankfurt a.M.: 195-211.
Stadt Ffm Stolpersteine: Stadt Frankfurt am Main: Stolpersteine in Frankfurt am Main, https://frankfurt.de/frankfurt-entdecken-und-erleben/stadtportrait/stadtgeschichte/stolpersteine
Stolpersteine Ffm Dok. 2011: Initiative Stolpersteine Frankfurt am Main: 9. Dokumentation 2011: Westend, Bockenheimer Landstraße 91: Leopold und Johanna Kahn, http://www.stolpersteine-frankfurt.de/downloads/doku2011_WEB_1.pdf, S. 79f. [mit Abb.]
Yad Vashem: Yad Vashem – Internationale Holocaust Gedenkstätte, Jerusalem,
https://www.yadvashem.org/de.html
Yad Vashem Deportationen Minsk: Das Internationale Institut für Holocaust-Forschung: Transport, Zug Da 53 von Frankfurt am Main, Frankfurt a. Main (Wiesbaden), Hessen-Nassau, Deutsches Reich nach Minsk, Minsk City, Minsk, Weißrussland (UdSSR) am 11/11/1941, http://db.yadvashem.org/deportation/transportDetails.html?language=de&itemId=9437934
Yad Vashem Opferdatenbank: Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer, https://yvng.yadvashem.org/index.html?language=de

Jüdische Pflegegeschichte - interkonfessionell - Meta Conrath

„… immer treu zur Seite gestanden“ – Meta Conrath, Franziska Fleischer, Frieda Gauer: christliche Krankenschwestern in der Frankfurter jüdischen Pflege

Jüdische Pflegegeschichte - interkonfessionell - Meta Conrath
Schwesternfoto von Meta Conrath mit der Diensthaube des Deutschen Roten Kreuzes, undatiert um 1916)
Mit freundlicher Genehmigung von Klaus – J. Penné

Dass in Deutschland bis zur Shoah langjährig gewachsene jüdisch-nichtjüdische Pflegeteams wirkten, ist bislang wenig bekannt. Als ein Glücksfall für unser Forschungsprojekt Jüdische Pflegegeschichte erwies sich hier die Kontaktaufnahme und Übermittlung seltener Dokumente und Fotografien durch den Neffen von Meta Conrath, einer evangelischen Schwester am Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main (Gagernstraße 36). Des Weiteren entdeckte Birgit Seemann bei Recherchen zum Buchprojekt Das Gumpertz’sche Siechenhaus – ein „Jewish Place“ in Frankfurt am Main (Seemann/ Bönisch 2019) die Namen der Protestantin Frieda Gauer und der Katholikin Franziska Fleischer: Jahrzehntelang versorgten sie gemeinsam mit ihren jüdischen Oberinnen Thekla (Mandel) Isaacsohn und Rahel (Spiero) Seckbach die Bewohner/innen dieses orthodox-jüdischen Pflegeheims. Zu einer weiteren namentlich bekannten Schwester, Amalie Stutzmann, hat Edgar Bönisch geforscht. Auch in der NS-Zeit haben alle vier Pflegenden ihren Arbeitgebern, Kolleginnen und Patienten „immer treu zur Seite gestanden“ (zit. n. Arbeitszeugnis des Direktors des Krankenhauses Gagernstraße für Meta Conrath, 01.03.1939).

Nichtjüdisches Personal in Frankfurter jüdischen Pflegeinstitutionen

Die hier vorgestellten Frankfurter Krankenschwestern Meta Conrath, Franziska Fleischer und Frieda Gauer stehen stellvertretend für die bis heute zumeist ’namenlosen‘ nichtjüdischen Angestellten und Arbeiter/innen, die bis zur Shoah ihren Dienst in Frankfurter jüdischen Pflegeinstitutionen verrichteten; ihre genaue Zahl ist infolge des NS- und kriegsbedingten Aktenverlustes wohl kaum noch zu ermitteln. Vermutlich wurden sie durch Stellenannoncen auf ihre jüdischen Arbeitgeber aufmerksam, welche möglicherweise bessere Löhne und Bedingungen anboten als christliche und öffentliche Träger. Solche interkonfessionellen Beschäftigungsverhältnisse entwickelten sich in einer Zeit, als die Judenfeindschaft auf dem Rückzug und das nichtjüdisch-jüdische Zusammenleben alltäglich schienen. Bis zur NS-Zeit ließen sich nichtjüdische Erkrankte ganz selbstverständlich in jüdischen und jüdische Patientinnen und Patienten in nichtjüdischen Kliniken und Arztpraxen behandeln; das 1914 in einen modernen Neubau umgezogene große Frankfurter jüdische Krankenhaus Gagernstraße hatte in der gesamten Stadt einen hervorragenden Ruf. Zugleich war der Antisemitismus keineswegs besiegt und für die jüdische Minderheit weiterhin schmerzhaft spürbar, jüdische Gläubige in nichtjüdischen Kliniken vermissten die dort in der Regel nicht zu leistende koschere Versorgung, weshalb seit 1870 eigenständige jüdische Krankenhäuser und Pflegeheime entstanden. Vor allem orthodox-jüdische Institutionen wollten der wachsenden Säkularisierung und ‚Assimilation‘ innerhalb des Judentums entgegenwirken – mit dem Resultat einer auf den ersten Blick widersprüchlichen Personalpolitik: Bewerber/innen aus dem liberalen Reformjudentum waren nicht gern gesehen, nichtjüdisch-christliche hingegen willkommen. Letztere wurden vom zuständigen Rabbiner in die jüdischen Regeln der Pflege eingewiesen und durch die jüdische Oberin oder Wirtschafterin angeleitet.

Nichtjüdische Arbeitskräfte waren in Frankfurter Pflegeinstitutionen aller jüdischen Richtungen tätig und vor allem am Shabbat und an den jüdischen Feiertagen im Einsatz. Im liberal-jüdischen Krankenhaus Gagernstraße taten „etwa vier nichtjüdische Krankenschwestern“ (Steppe 1997: 236), darunter Meta Conrath, Dienst. Im Gumpertz’schen Siechenhaus, das dem kleineren orthodoxen Flügel der liberalen Israelitischen Gemeinde zuzuordnen ist, pflegten Franziska Fleischer und Frieda Gauer. Das von der oppositionellen neo-orthodoxen Austrittsgemeinde ‚Israelitische Religionsgesellschaft‘ verwaltete Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung stellte ebenfalls nichtjüdisches Personal ein – darunter die vom evangelischen zum jüdischen Glauben konvertierte Amalie Stutzmann.

Während der NS-Zeit gehörten die standhaften christlichen Schwestern Meta Conrath, Franziska Fleischer und Frieda Gauer innerhalb der nichtjüdischen Krankenpflege zu einer kleinen Minderheit: Wie andere Berufsgruppen waren die „arischen“ Pflegekräfte – als Mitläufer/innen oder gar Mittäter/innen (vgl. Beiträge in Steppe/ Ulmer 2013; Betzien 2018) – und ihre Verbände weitgehend „gleichgeschaltet“ und in das nationalsozialistische Herrschaftssystem integriert. Doch rührte sich auch hier vereinzelt ein noch weiter zu erforschender „Rettungswiderstand“ (zit. n. Lustiger 2011): Für Frankfurt am Main recherchierten Ursula Kiel-Römer, Martina Süß und Hilde Steppe (dies. 2013) einige mutige NS-widerständige Pflegende. So wurde die evangelische Krankenschwester Eva Gleichmann (geb. Junk, geb. 1887 in Salzwedel) wegen „Heimtücke; Wehrkraftzersetzung (staatsfeindliche Äußerungen)“ (zit. n. Arcinsys: Eintrag zur Akte HHStAW 409/ 61) 1941 in das Frauenstrafgefängnis Frankfurt-Höchst und 1943 in ein KZ eingewiesen; das „Verfahren gegen Eva Gleichmann wurde an den Volksgerichtshof abgegeben“ (ebd.). 1944 wurde dem Oberpfleger Georg Löw (geb. 1899 in Weitengesäß) aus Frankfurt-Eschersheim der Prozess gemacht (vgl. Arcinsys; Entschädigungsakte HHStAW 518/ 6194). Ob sich Meta Conrath, Franziska Fleischer und Frieda Gauer, als „arische“ Angestellte einer jüdischen Institution, insbesondere nach den im September 1935 erlassenen „Nürnberger Rassegesetzen“ ohnehin gesellschaftlichem und vermutlich auch familiärem Legitimationsdruck ausgesetzt, ebenfalls im Frankfurter NS-Widerstand engagierten? Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die drei Krankenschwestern mit der Ausplünderung und Vernichtung aller jüdischen Institutionen, die für die Alterssicherung auch ihres nichtjüdischen Personals vorgesorgt hatten, von Altersarmut bedroht, sie mussten um ihre materielle Existenz kämpfen.

Gumpertz’sches Siechenhaus: Frieda Gauer und Franziska Fleischer

Geburtseintrag Frieda Gauer (mit nachträglichem Eintrag der Sterbedaten), 13.08.1878
© Stadt Adelsheim (Standesamt)

Die evangelische Krankenschwester Frieda Karolina Gauer gehörte – zeitweilig als Oberschwester – fast vier Jahrzehnte lang zum Team des Gumpertz’schen Siechenhauses, einem in Frankfurt und Umgebung angesehenen orthodox-jüdischen Pflegeheim im Röderbergweg. Geboren wurde sie am 7. August 1878 im nordbadischen Sennfeld (heute Stadtteil von Adelsheim, Neckar-Odenwald-Kreis, Baden-Württemberg). In Sennfeld, wo Frieda Gauer sehr wahrscheinlich auch aufwuchs, war zeitweise jede/r zehnte/r Einwohner/in jüdisch (um 1895: 10,1 % von 1.144); die engagierte kleine Gemeinde verfügte über eine für dörfliche Verhältnisse stattliche Synagoge, eine Religionsschule, eine Mikwe sowie einen eigenen Friedhof.

Auf welchen Wegen – über persönliche Kontakte oder eine Stellenannonce – Frieda Gauer wohl nach Frankfurt am Main zum orthodox-jüdischen Gumpertz’schen Siechenhaus im Ostend auf dem Röderberg gefunden hat? Die bereits ausgebildete 23jährige Krankenschwester trat dort am 12. Januar 1902 (HHStAW 518/ 53914) ihren Dienst an. Zu diesem Zeitpunkt war das Heim für bedürftige israelitische Frauen, Männer und Kinder mit chronischen Erkrankungen in einer alten Villa, dem sog. ‚Hinterhaus‘, untergebracht. Infolge der großen Nachfrage handelte es sich wohl ausschließlich um jüdische Bewohner/innen, wobei die Statuten eine Aufnahme nichtjüdischer Leidender nicht ausschlossen. Vermutlich wohnte Frieda Gauer entweder im Siechenhaus selbst oder in einer räumlich nahen Personalwohnung ihres Arbeitgebers zur Untermiete; in den Frankfurter Adressbüchern ist ihr Name nicht zu finden.

Auf welchen Wegen – über persönliche Kontakte oder eine Stellenannonce – Frieda Gauer wohl nach Frankfurt am Main zum orthodox-jüdischen Gumpertz’schen Siechenhaus im Ostend auf dem Röderberg gefunden hat? Die bereits ausgebildete 23jährige Krankenschwester trat dort am 12. Januar 1902 (HHStAW 518/ 53914) ihren Dienst an. Zu diesem Zeitpunkt war das Heim für bedürftige israelitische Frauen, Männer und Kinder mit chronischen Erkrankungen in einer alten Villa, dem sog. ‚Hinterhaus‘, untergebracht. Infolge der großen Nachfrage handelte es sich wohl ausschließlich um jüdische Bewohner/innen, wobei die Statuten eine Aufnahme nichtjüdischer Leidender nicht ausschlossen. Vermutlich wohnte Frieda Gauer entweder im Siechenhaus selbst oder in einer räumlich nahen Personalwohnung ihres Arbeitgebers zur Untermiete; in den Frankfurter Adressbüchern ist ihr Name nicht zu finden.

An der im Gumpertz’schen Siechenhaus geleisteten professionellen Kranken-, Schwerbehinderten-, Alten- und Armenpflege beteiligte sich Schwester Frieda zunächst unter Anleitung der ersten Gumpertz’schen Oberin Thekla (Mandel) Isaacsohn (1867–1941). 1907 erlebte sie die feierliche Einweihung eines Gumpertz’schen Neubaus: dem als modernes Krankenheim mit Operationssaal ausgestatteten, anfangs für weibliche Bewohner eingerichteten, so genannten ‚Vorderhaus‘. Nach Oberin Theklas Heirat und Wegzug noch im gleichen Jahr bekam Frieda Gauer mit Rahel (Spiero) Seckbach (1876–1949 eine neue Oberin, welche 1919 den Gumpertz’schen Verwalter Hermann Seckbach (1880–1951) heiratete. Am 13. Juli 1911 (HHStAW 518/ 75113) stellte die Gumpertz’sche Verwaltung mit der 33-jährigen Labor- und Krankenschwester Anna Theresia Franziska Fleischer (geb. 19.12.1877 in Frankfurt a.M.) eine weitere christliche Pflegekraft ein. Ungeachtet aller Differenzen innerhalb des Christentums sowie zwischen Christentum und Judentum bildeten die evangelische Schwester Frieda und die katholische Schwester Franziska gemeinsam mit dem orthodox-jüdischen Gumpertz’schen Verwalterpaar Rahel und Hermann Seckbach drei Jahrzehnte lang ein funktionierendes und eingespieltes Team im Dienst für die „Aermsten der Armen“ (Neuhaus 1949) der jüdischen Gemeinschaft.

Im Dienst für die Pflegebedürftigen: ein interkonfessionelles Team als eingeschworene Gemeinschaft

„Weihnukka“-Feier von Personal und Patienten im Wintergarten des Gumpertz’schen Lazaretts, 1918 – Nachweis: Cohn-Neßler, Fanny: Das Frankfurter Siechenhaus. Die Minka-von-Goldschmidt-Rothschild-Stiftung.
In: Allgemeine Zeitung des Judentums 84 (16.04.1920) 16, S. 174, online: UB JCS Ffm, Judaica, CM, http://sammlungen.ub.unifrankfurt.
de/cm/periodical/pageview/3288197

Der Erste Weltkrieg schweißte die interkonfessionelle Gumpertz’sche Pflegegemeinschaft, unterstützt von ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern aus der jüdischen Gemeinde, noch enger zusammen: In seiner großen Vorderhaus-Villa richtete das Siechenhaus gleich zu Kriegsbeginn ein Lazarett ein, wo jüdische wie nichtjüdische Verwundete behandelt und operiert wurden. Neben der Organisation des Lazaretts, einer Schwerkrankenstation für Offiziere und Mannschaften mit zuletzt 40 Betten, musste zugleich der laufende Pflegebetrieb aufrechterhalten werden. Im Rechenschaftsbericht für die Jahre 1914 und 1915 dankte der Gumpertz’sche Vorstand bei der Würdigung seines Personals auch der „Laborantin Fräulein Franziska Fleischer und ganz besonders der im Wirtschaftsbetrieb so überaus verdienstvollen Schwester Frieda“ (GumpRechenschaftsbericht 1916: 9). Vermutlich wirkten die christlichen Schwestern Franziska Fleischer und Frieda Gauer auch an den Vorbereitungen zur „Weihnukka“ (Kugelmann 2005; Loewy 2011) mit: Im Dezember wurde zusammen mit den jüdischen und christlichen Verwundeten im Gumpertz’schen Lazarett neben dem Chanukka-Fest Weihnachten gefeiert und ein Weihnachtsbaum aufgestellt. Auf der obigen Gruppenfotografie sind möglicherweise auch Oberin Rahel (Spiero) Seckbach, Verwalter Hermann Seckbach, Schwester Frieda und Schwester Franziska abgebildet.

Nach dem für Deutschland verlorenen Ersten Weltkrieg hielt das interkonfessionelle Gumpertz’sche Team auch den Inflationsjahren gemeinsam stand, die zudem von einem erstarkten Antisemitismus geprägt waren. Mit Elisabeth Gontrum (Lebensdaten unbekannt, vgl. JüdPflege) trat 1921 eine weitere christliche Schwester in den Dienst des jüdischen Pflegeheims. 1929 musste die Gumpertz’sche Stiftung 1929 ihr Vorderhaus aus Kostengründen an die Stadt Frankfurt vermieten. So waren Gepflegte, Pflegende und weiteres Personal wieder im älteren Hinterhaus vereint, das bis 1932 einen neuen Anbau erhielt; auch im Gebäude selbst wurde modernisiert.

Zum Zeitpunkt der NS-Machtübernahme 1933 standen Frieda Gauer bereits über 30 Jahre, ihre Kolleginnen Franziska Fleischer und Elisabeth Gontrum fast 22 bzw. 12 Jahre im Dienst des nun unmittelbar in seiner Existenz bedrohten Gumpertz’schen Siechenhauses. Als die fortan von einem nationalsozialistischen Oberbürgermeister und Magistrat regierte Stadt Frankfurt den Mietvertrag für das Vorderhaus – das nacheinander verschiedene NS-Gruppierungen belegten – kurzerhand kündigte, sorgte sich der Gumpertz’sche Präsident Richard Merzbach (1873–1945) auch um die berufliche Zukunft und materielle Absicherung „unserer christlichen Schwesternschaft“ (ISG Ffm: Magistratsakten, Sign. 8957, Bl. 154). Trotz – oder gerade wegen? – der aggressiven öffentlichen Hetzpropaganda und zunehmenden antisemitischen Schikanen hielten Frieda Gauer und Franziska Fleischer dem jüdischen Heim die Treue; der Arbeitsplatzwechsel an eine nichtjüdische Pflegeeinrichtung kam für sie nicht in Frage. Zum Zeitpunkt des Erlasses der Nürnberger Gesetze im September 1935 längst über 45 Jahre alt, fielen beide nicht unter die Auflage für jüdische Arbeitgeber, weibliche nichtjüdische Hausangestellte unter 45 Jahren zwecks Vermeidung von „Rassenschande“ zu entlassen. Dennoch musste der fast 60jährige Hermann Seckbach, Oberin Rahels Ehemann und seit 35 Jahren Verwalter des Siechenhauses, im März 1939 nach England flüchten – nicht nur im Zuge des Novemberpogroms 1938, sondern auch wegen einer Haftandrohung der NS-Behörden, da im Siechenhaus „arisches“ weibliches Personal arbeite und er deshalb gegen das Paragraph 3 des „Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ verstoße (Angaben nach HHStAW 518/ 59144). Nach Kräften unterstützten Schwester Frieda und Schwester Franziska ihre nun auf sich allein gestellte Oberin und wurden wiederholt Zeuginnen von Hausdurchsuchungen der Gestapo, die nach versteckten antisemitisch Verfolgten und angeblich gehorteten Lebensmitteln fahndeten. Doch verstärkte sich der nationalsozialistische Druck auf nichtjüdisches Personal, da es der Umrüstung der jüdischen Institutionen in Ghettohäuser und Sammellager vor der Deportation im Wege stand. Zum 1. Januar 1941 gingen Frieda Gauer und Franziska Fleischer deshalb in den unfreiwilligen Ruhestand. Ihre Pensionen zahlte bis zu ihrer eigenen NS-Zwangsauflösung die Frankfurter Jüdische Gemeinde. Bereits im April 1941 fiel Schwester Friedas und Schwester Franziskas ehemalige Arbeits- und Wirkungsstätte, das Gumpertz’sche Siechenhaus, der NS-Zwangsräumung zum Opfer. Ihre zumeist bettlägerigen jüdischen Schützlinge, die sie so lange Zeit liebevoll betreut hatten, wurden in das letzte Frankfurter jüdische Krankenhaus Gagernstraße zwangsverlegt – die letzte Station vor ihrer Deportation 1942 zusammen mit Oberin Rahel Seckbach in das KZ Theresienstadt. Die Oberin überlebte Theresienstadt nur knapp und mit schweren gesundheitlichen Schäden; gemeinsam mit ihrer Schwester Minna Spiero konnte sie später zu Ehemann Hermann und Tochter Ruth nach England ausreisen.

Nach der NS-Zeit: Kampf gegen die Altersarmut

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatten Frieda Gauer und Franziska Fleischer infolge der nationalsozialistischen Vernichtung ihres jüdischen Arbeitgebers und der Frankfurter Jüdischen Gemeinde alle privatrechtlichen Versorgungsansprüche verloren. Franziska Fleischer besuchte um 1950 Hermann Seckbach, seine Tochter Ruth und seine Schwägerin Minna Spiero im englischen Exil. Sie fand die NS-vertriebene und zuvor ausgeplünderte Familie gesundheitlich angeschlagen und in bitterer Armut vor, die orthodox-jüdischen Gemeinde zu Manchester leistete Unterstützung. Ihre ehemalige Oberin Rahel Seckbach traf die Besucherin aus Deutschland nicht mehr an, da diese bereits am 4. September 1949 mit 72 Jahren verstorben war. Die interkonfessionelle ehemalige Gumpertz’sche Pflegegemeinschaft endete erst mit Hermann Seckbachs Krebstod am 14.12.1951, zuvor bewährte sie sich noch einmal in der gegenseitigen Zeugenschaft bei den so genannten ‚Wiedergutmachungsanträgen‘. Hier galten nichtjüdische Angestellte jüdischer Institutionen wie Frieda Gauer und Franziska Fleischer nicht als NS-verfolgt, so dass die Nachkriegsbehörden ihre 1951 gestellten Entschädigungsanträge zunächst abwiesen. Beide kämpften jahrelang um ihre Rentenbezüge kämpfen und lebten sehr wahrscheinlich am Existenzminimum. Notfallhilfe leistete ein vom Hessischen Landtag eingerichteter Härtefonds für frühere Bedienstete von jüdischen Gemeinden. Die Versorgungsansprüche übernahm ab dem 1. Oktober 1952 die Bundesstelle für Entschädigung der Bediensteten jüdischer Gemeinden mit Sitz in Köln-Deutz.

Sterbeurkunde (Ausschnitt) von Franziska Fleischer
© ISG Ffm, Personenstandsunterlagen

Frieda Gauer wohnte als Sozialrentnerin in Wiesbaden (Platterstraße 55, seit 1956 Galileistraße 24), wo sie am 28. Dezember 1960 mit 82 Jahren verstarb. Ihre ebenfalls in Altersarmut lebende katholische Kollegin Franziska Fleischer verstarb am 21. April 1969 mit 91 Jahren in ihrer Geburtsstadt Frankfurt am Main (letzte Anschrift: Senckenberganlage 16). Beide Krankenschwestern waren unverheiratet und blieben kinderlos.

Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde: Meta Conrath

Die evangelische Schwester Meta Conrath pflegte fast zwei Jahrzehnte lang im Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main in der Gagernstraße 36, wo sie auch wohnte. Geboren wurde sie als Meta Alma Martha Kahl am 6. Februar 1888 (ISG Ffm: Personenstandsunterlagen; E-Mail v. Klaus-J. Penné v. 26.04.2019. Siehe auch PA Penné: Familientafel Conrath/ Kahl, Taufdokument; ISG Ffm: HB 687 T. 2, Bl. 32: Geburtsjahr 1888, letzte Ziffer mit „9“ überschrieben; Arbeitszeugnis der Augenklinik des Krankenhauses Gagernstraße, 23.01.1939: Geburtsjahr-Angabe 1889) im westpreußischen Wintersdorf (Kreis Schwetz (Regierungsbezirk Marienwerder), heute: Przechówko, Polen). Meta verlor früh ihren Vater. Mit ihrem Bruder Bruno Kahl (1889–1938) und einer jüngeren Schwester (1896–1986) wuchs die Halbwaise in der damals westpreußischen Hafen- und Handelsstadt Thorn (heute Toruń, Polen) an der Weichsel auf. Sehr wahrscheinlich ging sie mit jüdischen Kindern zur Schule, welche in Thorn zumeist christliche Schulen besuchten (vgl. Alicke 2014).

Berufliche Anfänge: Rotkreuz- und Lazarettschwester

Im Jahr 1909 heiratete Meta Kahl in Thorn Richard Paul Conrath (geb. 1878), welcher als Sergeant (Dienstgrad eines Unterfeldwebels) beim Ulanenregiment von Schmidt (1. Pommersches) Nr. 4 diente. Nur ein Jahr nach der Trauung verstarb ihr Ehemann am 28. Dezember 1910 in Thorn nach langem, schweren Leiden (vgl. Todesanzeige zu Richard Paul Conrath in: Die Presse – Ostmärkische Tageszeitung, 01.01.1911, übermittelt von Klaus-J. Penné per E-Mail v. 04.01.2020). Früh verwitwet und auf sich allein gestellt, hat Meta Conrath vermutlich bald darauf ihre Schwesternausbildung begonnen.

Die Rotkreuzschwester Meta Conrath in Schwesterntracht, ohne Jahr (vor 1919)
© Klaus-J. Penné
Abzeichen des Deutschen Roten Kreuzes (Vaterländischer Frauenverein) von Meta Conrath, vor 1919
© Klaus-J. Penné
Rotkreuzschwester Meta Conrath (vorne rechts) im Lazarett, ohne Jahr (um 1918)
© Klaus-J. Penné

[/vc_column_text][vc_column_text]Während des Ersten Weltkriegs pflegte Meta Conrath als Rotkreuzschwester vermutlich in westpreußischen Lazaretten. Die Fotografie zeigt Schwester Meta (rechts) zusammen mit einer Kollegin und den Patienten.

Polnischer Pass von Meta Conrath (für die Ausreise nach Deutschland), 1919
© Klaus-J. Penné

[/vc_column_text][/vc_column][/vc_row][vc_row][vc_column][vc_column_text]Unter den Deutschen, die infolge des Versailler Vertrags mit der Angliederung westpreußischer Gebiete an die Zweite Polnische Republik in den Westen übersiedelten, befand sich auch Meta Conrath, zusammen mit ihrer Mutter und den beiden Geschwistern. Vermutlich 1920 traf die Familie im südosthessischen Dörnigheim, heute ein Stadtteil von Maintal im Main-Kinzig-Kreis, ein. Bei der Suche nach einer neuen Anstellung orientierte sich Meta Conrath in Richtung Frankfurt am Main.

Beliebt und geachtet: als christliche Schwester im jüdischen Krankenhaus

Vermutlich wurde Meta Conrath durch eine Stellenanzeige auf das Frankfurter jüdische Krankenhaus Gagernstraße aufmerksam, wo bis zur NS-Zäsur auch viele nichtjüdische Patientinnen und Patienten Heilung fanden. Die Bewerbung der erfahrenen Krankenschwester war erfolgreich, zumal es nach dem Ersten Weltkrieg an Fachkräften mangelte. Ihren Dienst in der Klinik trat sie am 22. September 1921 an, wo sie seit dem 28. September 1921 auch wohnte (ISG Ffm: HB 687, T. 2, Bl. 32). Hilde Steppe erwähnt in ihrem Standardwerk zur deutsch-jüdischen Krankenpflege „etwa vier nichtjüdische Krankenschwestern“ (dies. 1997: 236), von welchen bislang nur Meta Conrath namentlich bekannt ist. Ihre erste Oberin war eine Pionierin der beruflichen deutsch-jüdischen Pflege: Minna Hirsch (1860–1938, vgl. JüdPflege), Mitbegründerin des ersten Schwesternverbands Verein für jüdische Krankenpflegerinnen Frankfurt a.M. und als Oberin von Krankenhaus und Schwesternschaft auch für die christlichen Pflegekräfte zuständig. Nach Minna Hirschs Pensionierung folgte um 1925 Oberin Julie Glaser (1878 – 1941 deportiert).

Die evangelische Schwester Meta gehört zu den wenigen Angestellten NS-vernichteter deutsch-jüdischer Kliniken und Pflegeheime, deren Arbeitszeugnisse noch aufgefunden wurden; sie dokumentieren neben ihrem erfolgreichen Werdegang im Krankenhaus Gagernstraße auch die hohe Wertschätzung und Zuneigung ihrer Vorgesetzten, Kolleginnen und Gepflegten. Meta Conraths erster Einsatz erfolgte 1921 in der Infektionsabteilung, die sie später zeitweise als Oberschwester leitete. Seit 1923 pflegte sie in der Privatabteilung und bewährte sich dort in allen Zweigen der Krankenpflege. So versorgte sie viele Patientinnen und Patienten mit stationären gynäkologischen, urologischen und Augenkrankheiten, bei letzteren auch Star-Operierte, sowie nach schweren OPs. Ihre ärztlichen Vorgesetzten schildern sie als äußerst gewissenhaft, sicher und belastbar.

Gratulationsschreiben des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins zu Meta Conraths 10-jährigem Dienstjubiläum im Krankenhaus Gagernstraße, 22.09.1931
Mit freundlicher Genehmigung von Klaus-J. Penné (der Name des ärztlichen Verfassers dieses Dokuments wurde aus urheberrechtlichen Gründen geschwärzt).

Zudem wurde sie erfolgreich in der Ausbildung und Anleitung der Lehrschwestern eingesetzt. „Sehr geehrte, liebe Schwester Meta!“ heißt es denn auch im Gratulationsschreiben des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins aus Anlass ihres zehnjährigem Dienstjubiläums am 22. September 1931.

Meta Conraths Bewährung in der NS-Zeit: Dokumente und mündliche Überlieferung

Wie ihre christlichen Kolleginnen Frieda Gauer und Franziska Fleischer am Gumpertz’schen Siechenhaus – leider liegen bislang keine Quellen zu möglichen Verbindungen zwischen nichtjüdischen Pflegenden an Frankfurter jüdischen Einrichtungen vor – stand auch Meta Conrath nach der NS-Machtübernahme weiterhin zu ihrem jüdischen Arbeitgeber. Möglicherweise kooperierte sie mit einer NS-widerständigen nichtjüdischen Kollegin: Die Frankfurter Krankenschwester Luise (Louise) Zorn (1880–1968) betreute „jüdische Patienten, als diese keine ärztliche Versorgung mehr fanden und kein Krankenhaus sie mehr aufnahm. Als ihr das Betreten des jüdischen Krankenhauses verboten wurde, kletterte sie nachts heimlich über die Mauer und assistierte unter Mitbringen ihres eigenen Verbandszeuges bei Operationen“ (Kiel-Römer/ Süß/ Steppe 2013: 202f. Siehe auch K.H. 1945 sowie Eintrag bei JüdPflege).

Zum Zeitpunkt des Erlasses der Nürnberger Gesetze im September 1935 46 Jahre alt, entging Schwester Meta gerade noch dem NS-Verbot für weibliches „arisches“ Personal unter 45 Jahren, mit männlichen jüdischen Vorgesetzten zu arbeiten. Angesichts der weiter eskalierenden antisemitischen NS-Segregationspolitik stellt sich hier die Frage, ob Meta Conraths weitgehend nationalsozialistisches privates Umfeld sie dazu drängte, die jüdische Klinik zu verlassen und in eine „arische“ Einrichtung zu wechseln. Wie mochten ihre Verwandten darauf reagiert haben, die sie um Lebensmittelkarten für die Gepflegten, Kolleginnen und Ärzte des Krankenhauses Gagernstraße gebeten haben soll (Angabe nach PA Penné)? 1938 erschütterte die Familie der Suizid von Metas Bruder Bruno Kahl (geb. 1889), eines überzeugten Nationalsozialisten, der als Lehrer in Dörnigheim unterrichtete. Dort gründete und leitete er die Dörnigheimer NSDAP-Ortsgruppe und wurde 1933 NSDAP-Abgeordneter im Kreistag Hanau-Land. Im Juni 1938 erhängte sich Bruno Kahl während eines Lehrgangs in der NS-Schulungsburg (Gauführerschule) zu Kronberg (Taunus) (vgl. Salzmann/ Voigt 1991: 40, 130-132); er soll einen Abschiedsbrief verfasst und sich darin von Hitler und der NSDAP distanziert haben. Der Suizid wurde als Unglücksfall getarnt. Ob Meta Conrath an der nationalsozialistischen Trauerfeier mit NS-Totenwache teilnahm, ist unbekannt. Bruno Kahls Witwe, ebenfalls NSDAP-Mitglied, soll ihre nationalsozialistische Gesinnung auch nach 1945 beibehalten und sich einer Gruppe Freier Deutscher Christen angeschlossen haben, ihr Verhältnis zu Meta Conrath blieb „angespannt“ (Angabe nach PA Penné). NSDAP-Mitglied war seit 1932 auch der Ehemann von Metas Schwester; er fungierte als NS-Gauwalter für Körperbehinderte und Kreiswalter in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt.

Spätestens 1939, vermutlich schon früher, pflegte Meta Conrath im Krankenhaus Gagernstraße ausschließlich jüdische Patientinnen und Patienten; ihre 1938 NS-behördlich zu „Krankenbehandlern“ degradierten ärztlichen Vorgesetzten durften nur noch als jüdisch eingestufte Kranke behandeln, die Versorgung von „arischen“ Kranken war strikt verboten. Aus den nachfolgend chronologisch dargestellten Dokumenten wird deutlich, dass die bis 1939 für Schwester Meta ausgestellten Arbeitszeugnisse von Ärzten stammen, die nach dem Novemberpogrom 1938 aus Nazideutschland flüchten mussten. Während der ebenfalls verfolgungsbedingten Fluktuation des jüdischen Pflegepersonals (hierzu Steppe 1997) hielt Meta Conrath, seit Sommer 1939 u.a. als leitende Oberschwester der Privatabteilung, weiterhin die Stellung und wurde zu einer wichtigen Stütze des unter den NS-Angriffen leidenden Klinikbetriebs. Am 4. November 1940 – sie selbst hatte zum 31. Dezember 1940 offiziell gekündigt – musste sie ihre jüdischen Gepflegten dann doch verlassen und verlor zudem ihre langjährige Arbeits- und Wohnstätte. Nur zwei Wochen später, am 19. November, trafen ihre Kolleginnen aus dem NS-zwangsgeräumten jüdischen Schwesternhaus in der Klinik ein. Mit dem unfreiwilligen Auszug der vermutlich letzten nichtjüdischen Schwester Meta Conrath war die NS-Umrüstung des Krankenhauses Gagernstraße zum Ghettohaus und Sammellager vor den Deportationen vollzogen.

„[…] durch ihr ruhiges und sicheres Wesen ist sie fähig, eine Station zu führen und die ihr unterstellten Schwestern anzuleiten“, trug der Chefarzt der Chirurgie des Krankenhauses Gagernstraße in sein am 31. Oktober 1940 für Meta Conrath ausgestelltes Arbeitszeugnis ein. Die nachfolgenden Quellen vermitteln seltene Einblicke in den Werdegang einer evangelischen Schwester am Frankfurter jüdischen Krankenhaus Gagernstraße. Zahlreiche Personalunterlagen sind durch die Shoah und durch Kriegseinwirkung ,verschollen‘.

Arbeitszeugnis für Meta Conrath (Urologie des Krankenhauses Gagernstraße), 18.09.1938
Mit freundlicher Genehmigung von Klaus-J. Penné (der Name des ärztlichen Verfassers dieses Dokuments wurde aus urheberrechtlichen Gründen geschwärzt).
Arbeitszeugnis für Meta Conrath (ausgestellt vom Facharzt für Innere Krankheiten am Krankenhaus Gagernstraße), 30.09.1938
Mit freundlicher Genehmigung von Klaus-J. Penné (der Name des ärztlichen Verfassers dieses Dokuments wurde aus urheberrechtlichen Gründen geschwärzt).
Arbeitszeugnis für Meta Conrath (Augenklinik des Krankenhauses Gagernstraße), 23.01.1939
Mit freundlicher Genehmigung von Klaus-J. Penné (der Name des ärztlichen Verfassers dieses Dokuments wurde aus urheberrechtlichen Gründen geschwärzt).
Arbeitszeugnis für Meta Conrath, ausgestellt von Prof. Dr. Simon Isaac, Direktor des Krankenhauses Gagernstraße, 01.03.1939
Mit freundlicher Genehmigung von Klaus-J. Penné
Arbeitszeugnis für Meta Conrath (Leiter des Krankenhauses Gagernstraße), 22.10.1940
Mit freundlicher Genehmigung von Klaus-J. Penné (der Name des ärztlichen Verfassers dieses Dokuments wurde aus urheberrechtlichen Gründen geschwärzt).
Zwischenzeugnis für Meta Conrath (Krankenhaus Gagernstraße), 28.10.1940
Mit freundlicher Genehmigung von Klaus-J. Penné (der Name des ärztlichen Verfassers dieses Dokuments wurde aus urheberrechtlichen Gründen geschwärzt).
Arbeitszeugnis für Meta Conrath (ausgestellt vom Leiter der Chirurgie des Krankenhauses Gagernstraße), 31.10.1940
Mit freundlicher Genehmigung von Klaus-J. Penné (der Name des ärztlichen Verfassers dieses Dokuments wurde aus urheberrechtlichen Gründen geschwärzt).
Letztes Arbeitszeugnis für Meta Conrath (Krankenhaus Gagernstraße), 31.12.1940
Mit freundlicher Genehmigung von Klaus-J. Penné (der Name des ärztlichen Verfassers dieses Dokuments wurde aus urheberrechtlichen Gründen geschwärzt).

Vom Krankenhaus Gagernstraße zog Meta Conrath am 4. November 1940 in den Frankfurter Stadtteil Eschersheim, Neumannstraße 9 (ISG Ffm: HB 687, T. 2, Bl. 32); danach arbeitete die inzwischen über Fünfzigjährige als Privatpflegerin. Familieninformationen zufolge soll sie für längere Zeit auf Schloss Jettingen (Bayerisch-Schwaben) eine Verwandte des Hitler-Gegners Claus Schenk Graf von Stauffenberg gepflegt und die beiden später hingerichteten Brüder Claus und Berthold noch persönlich kennengelernt haben. Als die Stauffenberg-Familie nach dem gescheiterten Staatsstreich ab dem 20. Juli 1944 verhaftet wurde, befand sich Meta Conrath gerade auf Heimaturlaub in Frankfurt am Main. Hatte ein Bruder ihres verstorbenen Ehemannes, Wehrmachtsgeneral Paul Conrath (1896–1979), mit dem sie auch nach 1945 noch in gutem Kontakt stand, die Pflegestelle bei den Stauffenbergs vermittelt? Es ist nicht auszuschließen, dass dieser Schwager Meta Conraths trotz seiner engen Verbindungen zu Göring zum Umfeld der Widerstandsbewegung „20. Juli“ gehörte.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wohnte Meta Conrath weiterhin in der Neumannstraße 9 und versorgte ihre Mutter. Laut Auskunft der Frankfurter Meldebehörde verstarb sie aber nicht in Frankfurt, sondern am 19. August 1960 in Köppern (heute Stadtteil von Friedrichsdorf). Den Angaben (per Mail v. 04.01.2020) ihres Neffen Klaus-J. Penné zufolge „hat Meta Conrath nach Kriegsende mehrfach Carepakete von ehemaligen Patienten und Ärzten aus Amerika erhalten“ – ihre engagierte Fürsorge im jüdischen Krankenhaus und das vorbildliche Standhalten gegen die antisemitische Hetze des NS-Regimes waren unvergessen.

Resümee und Dank

Von den hier vorgestellten christlichen Schwestern wurden bislang keine Ego-Dokumente wie Briefe oder Tagebücher aufgefunden. Ihre Motive, weshalb sie so viele Jahre in jüdischen Institutionen pflegten und auch dem Nationalsozialismus widerstanden, lassen sich deshalb nur vermuten. Mangels Fotografien aus diesem Zeitraum ist zudem unbekannt, welche Schwesterntracht sie in der jüdischen Klinik anlegen, gehörten sie doch den jüdischen Pflegeorganisationen nicht an. Weitere Fragen bleiben zu klären: Wie war Meta Conraths, Franziska Fleischers und Frieda Gauers Verhältnis zur eigenen Kirchengemeinde? Gehörten sie NS-kritischen Kirchenkreisen oder – wie etwa die an Rettungsaktionen beteiligten Frankfurter Quäker/innen (vgl. Bonavita 2014) – einer der innerchristlichen Minderheiten an, die mitunter in Opposition zur Amtskirche standen?

Für wichtige Quellen und Hinweise dankt die Autorin ganz besonders Meta Conraths Neffen Klaus-J. Penné, des Weiteren Sigrid Kämpfer und Janica Kuhr (Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main) und Carmen Killian (Standesamt Adelsheim). Weitere Informationen zu diesem offenen Forschungsfeld sind willkommen.

Birgit Seemann, Stand November 2021

Quellen- und Literaturverzeichnis

Unveröffentlichte Quellen

HHStAW: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden
Bestand 409 Nr. 61: Häftlingsakte Gleichmann, Eva
Bestand 518 Nr. 6194: Entschädigungsakte Löw, Georg
Bestand 518 Nr. 53914: Entschädigungsakte Gauer, Frieda
Bestand 518 Nr. 59139: Entschädigungsakte Seckbach, Rahel geb. Spiero
Bestand 518 Nr. 59144: Entschädigungsakte Seckbach, Hirsch Hermann
Bestand 518 Nr. 75113: Entschädigungsakte Fleischer, Franziska
ISG Ffm: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main
Magistratsakten Sign. 8957: Städtische Krankenanstalten: Ermietung des Gumpertz´schen Siechenhauses zur Unterbringung von Kranken und Weiterverpachtung an die Feldjägerei (1930–1938), Bl. 154
HB 655: Hausstandsbuch Bornheimer Landwehr 85 (Frankfurter Jüdisches Schwesternhaus): Sign. 655
HB 686: Hausstandsbuch Gagernstraße 36 (Frankfurter Jüdisches Krankenhaus), Teil 1, Sign. 686
Personenstandsunterlagen: Sterbeurkunde Fleischer, Franziska
Standesamt Adelsheim
Geburtseintrag Gauer, Frieda (mit Sterbedaten)
UB JCS Ffm: Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt a.M.
Frankfurter Adressbücher (Digitalisate, bis 1943): https://www.ub.uni-frankfurt.de/wertvoll/adressbuch.html
Judaica Frankfurt (Digitalisate): http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/judaica/nav/index/all
PA Penné: Privatarchiv Klaus-J. Penné
Korrespondenz des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen und des Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main mit Meta Conrath (18.09.1938 – 31.12.1940)
Familientafel Conrath / Kahl, undatiert (Stand 21.01.2019)
Tauf- und Heiratsdokumente, polnischer Pass (Ausreisedokument) Fotografien

Sekundärliteratur

Alicke, Klaus-Dieter o.J. [2014]: Thorn/Weichsel (Westpreußen). In: ders.: Aus der Geschichte jüdischer Gemeinden im deutschen Sprachraum, https://www.jüdische-gemeinden.de/index.php/home [04.11.2021, Link inaktiv]
Betzien, Petra 2018: Krankenschwestern im System der nationalsozialistischen
Konzentrationslager. Selbstverständnis, Berufsethos und Dienst an den Patienten im Häftlingsrevier und SS-Lazarett. Frankfurt a.M.
Bonavita, Petra 2014: Quäker als Retter … im Frankfurt am Main der NS-Zeit. Stuttgart
GumpRechenschaftsbericht 1916: Rechenschaftsbericht des Vereins Gumpertz’sches Siechenhaus und der Minka von Rothschild-Goldschmidt-Stiftung in Frankfurt am Main für die Jahre 1914 und 1915. Frankfurt a.M. 1916, online: UB JCS Ffm, Judaica Ffm: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/judaicaffm/urn/urn:nbn:de:hebis:30:1-306391
K.H. 1945: Die Schwester. In: Frankfurter Rundschau, 05.09.1945, online: RettungsWiderstand, Artikel: Folgen der Hungerpolitik 1942: „Elend wohin man blickt“,  https://rettungs-widerstand-frankfurt.de/ [04.11.2021}
Kiel-Römer, Ursula/ Süß, Martina/ Steppe, Hilde 2013: Widerstand des Pflegepersonals. Ein Fragment. In: Steppe/ Ulmer (Hg.): 195-211
Kugelmann, Cilly (Hg.) 2005: Weihnukka. Geschichten von Weihnachten und Chanukka. [Ausstellungskatalog des Jüdischen Museums Berlin]. Berlin
Levinsohn-Wolf, Thea 1996: Am Krankenhaus der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main. In: dies.: Stationen einer jüdischen Krankenschwester. Deutschland – Ägypten – Israel. Frankfurt a.M.: 21-32
Loewy, Hanno (Red.) 2011: „Solls der Chanukkabaum heißen“. Chanukka, Weihnachten, Weihnukka. Jüdische Geschichten vom Fest der Feste. Gesammelt v. Hanno Loewy. 3., durchges. u. verb. Aufl. Berlin
Lustiger, Arno (Hg.) 2011: Rettungswiderstand. Über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit. Göttingen
Neuhaus, Leopold 1949: Nachruf auf Rahel Seckbach. In: AUFBAU 15 (23.09.1949) 38, S. 41
Salzmann, Bernd/ Voigt, Wilfried 1991: „Keiner will es gewesen sein“. Dörnigheim im Nationalsozialismus. Hg.: Magistrat der Stadt Maintal. Maintal
Seemann, Birgit/ Bönisch, Edgar 2013: Jüdische Pflegegeschichte im Nationalsozialismus am Beispiel Frankfurt am Main. In: Steppe/ Ulmer (Hg.): 257-265
Seemann, Birgit/ Bönisch, Edgar 2019: Das Gumpertz’sche Siechenhaus – ein „Jewish Place“ in Frankfurt am Main. Geschichte und Geschichten einer jüdischen Wohlfahrtseinrichtung. Hg.: Verein zur Förderung der historischen Pflegeforschung. Frankfurt a.M.
Steppe, Hilde 1997: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre …“. Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt a.M.
Steppe, Hilde/ Ulmer, Eva-Maria (Hg.) 2013: Krankenpflege im Nationalsozialismus. 10. aktualis. u. erw. Aufl. Frankfurt a.M.

Online-Datenbanken und Links

(zuletzt aufgerufen am 04.11.2021)

Alemannia Judaica Sennfeld: https://www.alemannia-judaica.de/sennfeld_synagoge.htm
Arcinsys: Archivinformationssystem Hessen, https://arcinsys.hessen.de
JüdPflege: Jüdische Pflegegeschichte – Biographien und Institutionen in Frankfurt Main. Forschungsprojekt an der Frankfurt University of Applied Sciences, https://www.juedische-pflegegeschichte.de/
RettungsWiderstand: RettungsWiderstand in Frankfurt am Main während der Herrschaft der Nationalsozialisten. Hg.: Petra Bonavita. URL: https://rettungs-widerstand-frankfurt.de/

Jüdische Pflege in Basel und Davos

Basel
Es war Isaac Dreyfus-Strauß (1852-1936), der 1903 den Israelitischen Spitalverein in Basel initiierte (vgl. Doepgen 2004). Er war Chef des Bankhauses Dreyfus, Sons and Company und hatte in Basel unterschiedliche Funktionen in der jüdischen Gemeinde inne. So war er ihr Präsident, leitete den Pflegefonds und hatte bereits das jüdische Waisenhaus ins Leben gerufen, welches er ebenfalls leitete (vgl. JTA 1932).
Das Waisenhaus wurde später für 10 Frankfurter Waisen vorübergehend ein Zuhause, als Isidor Marx [Link], der Leiter des Frankfurter Israelitischen Waisenhauses, viele „seiner“ Kinder in Sicherheit vor den Nazis brachte (vgl. Krohn 1995).
In der Nähe des Waisenhauses kaufte der Spitalverein, dessen 318 Mitglieder großzügig spendeten, ein ca. 1000 qm großes Grundstück. Unter der Leitung des Architekten Rudolf Sandreuter entstand das neue Spital, welches am 5. Dezember 1906 mit 15 Betten und einem Operationssaal eröffnet wurde (vgl. Doepgen 2004).

Fotografie: Israelitisches Spital Basel.
Israelitisches Spital Basel
© Staatsarchiv Basel-Stadt

Dieses einzige jüdische Spital der Schweiz an der Buchenstraße 56 war bestimmt für kranke Juden, die die Möglichkeit zur rituellen Versorgung auch beim Krankenhausaufenthalt wünschten. So wurden die jüdischen Essensvorschriften ebenso berücksichtigt wie die jüdischen Feiertage. Unabhängig von Religion und finanziellen Möglichkeiten stand das Haus für alle Menschen offen. Die Pflege sollte gemäß den Statuten aufopfernd und menschlich sein, bei Bedarf konnte sie kostenlos geleistet werden. Unter der Leitung der Chefärzte Dr. Edmund Wormser und später Dr. Karl Mayer konnte man das Haus 1930/31 auf 24 Betten vergrößern. Eine weitere geplante Renovierung im Jahr 1940 konnte wegen zu knapper Mittel nicht mehr durchgeführt werden. 1953 musste man das Haus schließen, da inzwischen ausreichend staatliche Einrichtungen zur Verfügung standen. Heute erinnert an der Buchenstraße 56 nichts mehr an das Krankenhaus (vgl. Doepgen 2004: 6, Meier 1972: 11).
Nach Berichten einer Nachbarin von 2004, die das Krankenhaus noch kannte, haben sich Menschen unterschiedlichster Religionen und Schichten im jüdischen Spital behandeln lassen (vgl. Manta-Katz zit. nach Doepgen 2004). Die Patientenzahlen lagen 1911 bei 112 und 1914 bereits bei 174. Dr. Wormser zog zum 10jährigen Bestehen Bilanz und berichtete von insgesamt 1287 Patientinnen und Patienten. Bei der Renovierung von 1930/31 kam es zu der lange geplanten Erweiterung und einer Modernisierung, die neue Anstriche, neue Möbel und als Standard fließend kaltes und warmes Wasser in jedem Zimmer brachten. Eine separate Geburtenabteilung wurde eingerichtet. Die bisherigen Wohnräume des Personals wurden zu Krankenzimmern ausgebaut. Das Personal kam in einer nahe gelegenen Wohnung unter (vgl. Doepgen 2004).
Eine wichtige Rolle bei der Entstehung des jüdischen Gesundheitswesens in Basel spielte die Loge Bne Briss. Die Basel-Loge No 595 setzte sich auch für die Ausbildung jüdischer Krankenschwestern ein: „Unser Orden darf es sich ferner als ein Verdienst anrechnen, energisch für die Erziehung geeigneter jüdischer Mädchen zu dem Berufe von Krankpflegerinnen eingetreten zu sein. Die Grossloge für Deutschland z. B. lässt in jedem Jahr 6 jüdische Krankenschwestern für die Logen des VIII. Distrikts ausbilden“ (U.O.B.B. Basel-Loge No 595, zit. nach Foscube/7.10.2015).
Im Staatsarchiv des Kantons Basel-Stadt existieren viele Akten des Spitals und des Spitalvereins, deren Bearbeitung bisher noch nicht erfolgen konnte. Es handelt sich unter der Archivnummer „Privatarchiv 792“ um ein Meter achtzig Regalmeter Dokumente im Zeitraum 1903 bis 1953. Eventuell sind dort auch weitere Informationen über das „Kuratorium für jüdische Krankenschwestern“, dessen Präsident Dr. med. Edmund Wormser war, zu finden.
Detailliert zu untersuchen bleibt auch die Verbindung zwischen Basel und Davos: In dem Luftkurort Davos gründeten viele Schweizer Kantone und Orte, so auch Basel, eigene Sanatorien. Auch ein jüdisches Sanatorium, das Internationale Sanatorium Davos-Dorf unter dem Direktor A. Hirsch, wurde 1897 errichtet.

Davos
Besonderen Bezug zwischen Frankfurt und Davos gab es durch den Frankfurter Arzt Dr. med. E. Rosenbusch, der im Zentralkomitee der Gründer des Internationalen Sanatoriums saß. Eine Geldgeberin war Frau Baronin Willy von Rothschild (d. i. Mathilde von Rothschild, die Frau des letzten Frankfurter Rothschilds) (vgl. Alemannia Judaica). Um 1919 war Rosa Spiero Oberschwester in Davos, sie gehörte dem Frankfurter jüdischen Krankenpflegerinnenverein an. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete die spätere Frankfurterin Trude Simonsohn von 1946 bis 1947 in der Heilstätte Höhenwald.

Fotografie: Davos, Switzerland, Medical staff of the "Ram Yaar" - "Hohwald" ("High Forest") sanatorium for "Chalutzim".
Davos, Switzerland, Medical staff of the „Ram Yaar“ – „Hohwald“ („High Forest“) sanatorium for „Chalutzim“
© Yad Vashem Photo Archive

Davos erlangte seit Mitte des 19. Jahrhunderts Bedeutung als Kurort für Lungenkranke. Das jüdische Leben fand seit 1918 in einer jüdischen Gemeinde statt. Ein jüdischer Friedhof wurde 1931 angelegt. Nach und nach entstanden rituell geleitete Heilstätten. 1896/97 gründete A. Hirsch das erste streng rituell geführte Haus, das „Internationale Sanatorium“, ein Haus mit Synagoge und Mikwe, das jedoch 1905, da zu unwirtschaftlich, wieder verkauft werden musste. Ein weiteres Haus entstand 1919, das jüdische Sanatorium „Ethania“, gegründet durch den Hilfsverein für jüdische Lungenkranke in der Schweiz, die ihren Sitz in Zürich hatten. Geleitet wurde es von Dr. Oeri und war speziell für Arme eingerichtet. Die in Frankfurt ausgebildete und dem Frankfurter jüdischen Krankenpflegerinnenverein angehörende Rosa Spiero war um 1919 die Oberschwester im Haus „Ethania“ (vgl. Rechenschaftsbericht 1920). Trotz einer Lawinenkatastrophe im Jahr 1920 konnte das Sanatorium mit Synagoge weitergeführt werden. Erst seit 1991 steht es leer (vgl. Alemannia Judaica).

Die Heilstätte Höhenwald wurde von Josef Brumlik, dem Vater des Frankfurter Pädagogikprofessors Micha Brumlik, nach dem Krieg gegründet. Josef Brumlik war Leiter der Flüchtlingshilfe in Genf. Im Sanatorium Höhenwald sollten Tuberkulosekranke geheilt werden, bevor sie nach Palästina auswanderten. Berthold Simonsohn, der Mann von Trude Simonsohn, leitete die Heilstätte ein Jahr lang. Trude Simonsohn übernahm die Pflege.

Basler jüdische Krankenschwestern
Es folgt eine Aufzählung von Krankenschwestern, die gemäß dem Hausstandsbuch des Schwesternhauses des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main entweder in Basel oder Davos geboren wurden oder nach Basel oder Davos gingen.

Johanna Beermann wurde am 10. Juli 1863 in Wittlich geboren. Sie hatte u. a. in Hamburg und Basel in der Privat- und Armenpflege gearbeitet, bevor sie 1913 nach Frankfurt am Main kam und in der Säuglingsmilchküche tätig wurde. Am 27. April 1914 zog sie von der Königswarter Straße 20, dem alten Schwesternwohnhaus, in die Bornheimer Landwehr 85, von wo sie am 19. November 1940 in die Gagernstraße 36 in das Israelitische Krankenhaus umziehen musste. Am 23. August 1942 nahm sie sich dort das Leben.

Rita Jacobstamm wurde am 4. August 1911 in Posen geboren und kam am 7. Januar 1932 aus Berlin als Lehrschwester in die Bornheimer Landwehr 85 in Frankfurt am Main. Am 18. Januar 1938 meldete sie sich nach Basel ab (ISG HB 655).

Betty Schlesinger wurde am 8. Oktober 1866 in Pforzheim geboren. Als eine der Ersten absolvierte sie eine Krankenschwesternausbildung im Frankfurter Verein für jüdische Krankenpflegerinnen. Danach war sie viele Jahre lang in der Privatpflege tätig. 1903 erhielt Betty Schlesinger für ihr 10jähriges Dienstjubiläum als Krankenschwester die „Goldene Brosche“ des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins. 1907 entsandte sie der Frankfurter jüdische Schwesternverein in die Schweiz, wo sie als Oberin die Pflege des im Dezember 1906 eröffneten Israelitischen Spitals zu Basel aufbaute. 1908 kehrte sie nach Frankfurt zurück und wirkte u. a. im Verband für Säuglingsfürsorge der Stadt Frankfurt. Sie betreute, durch den Verein für Krankenpflegerinnen finanziert, drei Stadtbezirke (vgl. Steppe 1997: 258). 1912 schied sie aus dem Verein aus. Im Ersten Weltkrieg beteiligte sich Betty Schlesinger an der Verwundetenpflege des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins im Vereinslazarett 27 (vgl. Steppe 1997: 225). Am 22. Oktober 1940 wurde Betty Schlesinger nach Gurs deportiert.

Trude Simonsohn war keine Schwester des Frankfurter Vereins. Sie wurde am 25. März 1921 in Ölmütz geboren. Sie überlebte Auschwitz und arbeitete als Sozialarbeiterin. Sie hatte eine Ausbildung als Krankenschwester begonnen, hospitierte nach dem Krieg in der Baseler Heilstätte in Davos, um in der Heilstätte Höhenwald in Davos mit ihrem Mann zusammen zu arbeiten. Die Baseler Heilstätte (1886-1985) wurde von Baseler Ärzten initiiert, die der armen Baseler Bevölkerung eine Möglichkeit zur Heilung der „Schwindsucht“ im Luftkurort Davos schaffen wollten (vgl. Staatsarchiv Basel-Stadt). Trude Simonsohn nimmt auch heute noch rege am Frankfurter Stadtgeschehen teil.

Fotografie: Rosa Spiero / In New York.
Rosa Spiero / In New York
Aus: Thea Levinsohn-Wolf 1996: Stationen einer Krankenschwester. Frankfurt aa Main: 139

Rosa Spiero wurde am 12. März 1885 in Prostken geboren. Ab 1906 erhielt sie eine Ausbildung zur Krankenschwester in Frankfurt im Verein für jüdische Krankenpflegerinnen. Danach war sie in der Privatpflege in Hamburg beschäftigt und im Israelitischen Spital in Straßburg. Während des Ersten Weltkriegs war Rosa Spiero als Operations- und Narkoseschwester in der Etappe. Um 1919 war sie in der Israelitischen Lungenheilanstalt in Davos beschäftigt. 1920 pflegte sie in der Kann-Stiftung in Oberstedten bei Frankfurt am Main. Dann kehrte sie ins jüdische Krankenhaus und ins Schwesternhaus in Frankfurt zurück. Am 24. März 1941 konnte sie nach New York entkommen. Sie arbeitete in den USA bis ins hohe Alter als Krankenschwester und starb 1977.

Hildegard Vogelsang wurde am 31. Dezember 1916 in Norden geboren, sie kam am 30. April 1936 aus Norden nach Frankfurt in den Krankenpflegerinnenverein als Lehrschwester. Am 23. März 1939 ging sie nach Davos (vgl. ISG HB 655). Im „Niedersächsischen Landesamt für Bezüge und Versorgung/Wiedergutmachung“, liegen unter dem Aktenzeichen Hannover 228662b weitere Dokumente, die vermutlich Aufschluss über ihren Lebensverlauf geben können, jedoch noch gesichtet werden müssen.

Margarete Wolf wurde am 26.10.1901 in Basel geboren. Ihre Staatsangehörigkeit wird als Badenerin angegeben. Die Krankenschwester verbrachte ein Jahr, vom 7. Februar 1931 bis zum 6. Februar 1932, im Israelitischen Krankenhaus in der Gagernstraße 36, wo sie vermutlich auch wohnte (vgl. ISG HB 686: 58).

Edgar Bönisch, 2015

Quellen und Literatur
Primärquellen

Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main: Hausstandsbuch 655: Bornheimer Landwehr 85

Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main: Hausstandsbuch 686: Gagernstraße 36

Literatur

Baumann, Christoph Peter 2010: Judentum in Basel. Basel.

Doepgen, Valerie 2004: 100 Jahre Israelitisches Spital. Eine segensreiche Institution. In: tachles. Das jüdische Wochenmagazin Nr. 52/53 (4), 24. Dezember 2004, S. 6f.

Krohn, Helga 1995: Vor den Nazis gerettet. Eine Hilfsaktion für Frankfurter Kinder 1939/40. Sigmaringen.

Meier, Eugen A. 1972: Basel in der guten alten Zeit. Basel.

Simonsohn, Trude mit Elisabet Abendroth 2013: Noch ein Glück. Erinnerungen. Göttingen.

Steppe, Hilde 1997: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre…“. Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt a. M.

Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1920: Rechenschaftsbericht für die Jahre 1913 bis 1919 des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main. Frankfurt a. M.

Internetquellen

Alemannia Judaica. Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Geschichte der Juden im süddeutschen und angrenzenden Raum: Basel (Kanton Basel-Stadt, CH) Jüdische Geschichte / Betsäle/Synagogen http://www.alemannia-judaica.de/basel_synagoge.htm (8.10.2015)

Alemannia Judaica. Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Geschichte der Juden im süddeutschen und angrenzenden Raum: Davos (Kanton Graubünden, Schweiz) Jüdische Geschichte vom Ende des 19. Jahrhunderts bis um 1920: Jüdische Kureinrichtungen / Gründung einer jüdischen Gemeinde http://www.alemannia-judaica.de/davos_juedgeschichte.htm (8.10.2015)

Dokumentation der zwischen 1919 und 1945 in Pforzheim geborenen bzw. ansässigen jüdischen Bürgerinnen und Bürger und deren Schicksale https://www.pforzheim.de/kultur-freizeit/stadtgeschichte/juedische-buerger.html (8.10.2015)

Foscube: http://www.fschuppisser.ch/looslizion/beneberithbasel.pdf (7.10.2015)

JTA (Jewish Telegraphic Agency) 1932: 80th. Birthday of Isaac Dreyfus-Strauss Leading Figure in Swiss Jewry. March 23. www.jta.org/1932/03/23/archive/80th-birthday-of-isaac-dreyfus-strauss-leading-figure-in-swiss-jewry (17.8.15)

Staatsarchiv des Kantons Basel-Stadt http://query.staatsarchiv.bs.ch/query/detail.aspx?id=132567 (8.10.2015)

Jüdische Pflege in Heidelberg

1894 wurde, als erste Zweigstelle des jüdischen Bne-Briss-Ordens in Baden, die Friedrich-Loge in Heidelberg gegründet. Im Jahr 1930 hatte sie ca. 80 Mitglieder (vgl. Müller 1930: 43-48).
Eines ihrer prominentesten Gründungsmitglieder war der Weinheimer Lederfabrikant Sigmund Hirsch (1845-1908), der zunächst als Mitglied der Frankfurt-Loge nach Heidelberg gekommen war (vgl. Müller 1930). Ihm zu Ehren richteten seine Söhne Max (1871-1950) und Julius Hirsch (1874-1955?) den Sigmund Hirsch-Krankenschwesternfonds ein. Aus diesem Fonds konnte die Friedrich-Loge einen festen jährlichen Mitgliedsbeitrag an den von ihr 1909 ins Leben gerufenen Krankenschwesternverein der jüdischen Gemeinde Heidelberg bezahlen.
Sigmund Hirsch war wohl einer derjenigen, die sich innerhalb der Loge am intensivsten für die Sache der Krankenschwestern eingesetzt hatte, ebenso wie der Logenbruder Ferdinand Liebhold. Letzterer wurde überregional bekannt, als er die Zentralisierung der jüdischen Krankenpflegerinnenausbildung bei der Großloge in Berlin beantragte (vgl. Müller 1930: 21 und Turtel 1979). Dies wirkte sich auf das gesamtdeutsche Ausbildungswesen der jüdischen Krankenpflegerinnen aus und führte letztlich zur Gründung der Krankenschwesternorganisation (KSO) der Loge Unabhängiger Orden Bne-Briss (vgl. UOBB Heidelberg).

Fotocollage: Sigmund Hirsch (links am Tisch sitzend) in der Schützengesellschaft 1860 Weinheim. / Fotocollage mit Grauton-Malerei in Tempera als Hintergrund, 1904.
Sigmund Hirsch (links am Tisch sitzend) in der Schützengesellschaft 1860 Weinheim. / Fotocollage mit Grauton-Malerei in Tempera als Hintergrund, 1904

Vom Verein für israelitische Krankenschwestern in Heidelberg ist außer dem Gründungsjahr 1909 überliefert, dass er eine Krankenstation in der Akademiestraße 2 unterhielt. Der Verein hatte 1933 240 Mitglieder. Vereinsvorstand war 1911 Ferdinand Liebhold, Bluntschlistraße 4, Logenbruder und Bruder des Tabakfabrikanten Michael Liebhold. Sein Stellvertreter war der Bezirksrabbiner Dr. Hermann Pinkuss (1867-1936).
Schatzmeister des Vereins war der Darmhändler Friedrich (Fritz) Schlössinger. 1925/26 übernahm der Logenbruder Max Meyer den Vorsitz, er hatte in der Akademiestraße 2 ein Schneiderbedarfsgeschäft. Wie die Andordnung im Haus war, ob die Krankenstation in der Wohung Meyer oder darüber oder daneben war ist z. Zt. nocht nicht festgestellt. Ihm folgte 1928 Friedrich (Fritz) Schlössinger. Die Geschäftsführung übernahm ab 1929 die „Witwe Max Mayer“, die in der Akademiestraße 2 im 2. Stock wohnte, höchstwahrscheinlich die Witwe von Max Meyer. Der Verein erhielt seit 1925/26 jährlich 1.000 Mark von der jüdischen Gemeinde Heidelberg, der größte Betrag, den ein Verein von der Gemeinde ausbezahlt bekam (vgl. Adressbuch Heidelberg 1911, Steppe 1997: 113, Turtel 1979, Wennemuth 1996: 380, Zentralwohlfahrtsstelle 1928: 212-216).
Das Wissen über die jüdische Pflegegeschichte in Heidelberg ist nur bruchstückhaft, zu dürftig sind die erhaltenen Quellen. So wenig wir über das Alltagsleben des Vereins und der Loge wissen, so wenig wissen wir über die Krankenschwestern aus Heidelberg und deren Verbindung zum Heidelberger Verein oder auch der Beziehungen zum Frankfurter Verein für jüdische Krankenpflegerinnen.
Wer Mitglied des Heidelberger Schwesternvereins war, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht bekannt, es liegt kein Mitgliedsverzeichnis vor. So folgt hier ein biographisches Lexikon von Pflegekräften und Frauen aus mit der Pflege verwandten Berufen, die in irgendeiner Form mit Heidelberg zu tun hatten, um zukünftig genauere Details erforschen zu können.

Emma Bendix (1896-1942)
Emma Bendix lebte 1939 in der Rohrbacher Straße 51, einem sogenannten „Judenhaus“, bei der Familie Snopek. Weitere Informationen über sie sind im Artikel „Jüdische Pflege in Mannheim“ enthalten, da sie als Krankenschwester in Mannheim arbeitete.

Fotografie: Jüdisches Altersheim Häusserstraße, Heidelberg (Villa Julius).
Jüdisches Altersheim Häusserstraße, Heidelberg (Villa Julius)
Aus: http://www.weststadt-online.de

Emma Braunschild (1869-1957)
Emma Braunschild wurde am 5. Oktober 1869 in Nieheim/Westfalen geboren. Nach ihrer Schulausbildung war sie fünf bis sechs Jahre lang Schülerin am jüdischen Krankenhaus Berlin. 1905 übersiedelte sie nach Amerika und arbeitete als Krankenschwester in verschiedenen New Yorker Krankenhäusern. Nach 18 Jahren, 1923, kehrte sie nach Heidelberg zurück und lebte von ihrem privaten Vermögen und einer Altersrente. Sie wohnte zusammen mit ihrer Schwester in der Rottmannstraße 36. Ihre Schwester Rosa Braunschild, geb. am 5. Dezember 1873, kam um 1937 in die psychiatrische Anstalt Wiesloch, am 4. September 1939 in die Heil- und Pflegeanstalt Philippshospital in Goddelau und am 14. Mai 1940 weiter in die Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten. Am 21. Mai 1940 wurde Rosa Braunschild in die Tötungsanstalt Grafeneck gebracht und am selben Tag ermordet.
1937 hatte Emma Braunschild ihr Haus in der Rottmannstraße verkauft, das bemerkenswerterweise eine in Stuttgart prämierte Modellküche besaß. Sie zog nach Wiesloch in die „Fabrik“, wie sie berichtete. Nach weiteren drei Wohnungswechseln, z. B. in die Nadlerstraße 1(1939), wurde sie im „Judenhaus“ Landriedstr. 14 untergebracht. Sie berichtete von Belästigungen und Verhören, von Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmung von Geld, Möbeln und Wäsche, bis sie Ende Oktober 1940 nach Gurs deportiert wurde, wo sie bis August 1943 in den Lagern Gurs, Noé und Récébédou blieb. Bis 1947 hielt sie sich in St. Laurent du Pont (Isére) auf. 1948 kehrte sie nach Heidelberg, in die Große Mantelgasse (Weisser Bock), zurück. Auf Antrag der jüdischen Gemeinde kam Frau Braunschild im Alters- und Pflegeheim St. Hedwig unter.

Johanna Herz (1910-?)
Johanna Herz, verheiratete Dollman, wurde am 23. Juni 1910 in Essen geboren. 1932 be-stand sie die Abschlussprüfung der Städtischen Sozialen Frauenschule in Mannheim. Aus dem Praktikum vorzeitig entlassen, arbeitete sie als Wohlfahrtspflegerin in Heidelberg. Im Mai 1933 emigrierte sie nach Frankreich und 1935 nach Schweden, wo sie ein Hochschulstudium begann und auch 1964 noch (in Stockholm) lebte (vgl. Giovannini 2011: 167).

Alice Hirsch (1911-?)
Alice Hirsch wurde am 9. Februar 1911 in Heidelberg geboren. Von 1917 bis 1925 besuchte sie die Volksschule in Rot Malsch bei Heidelberg, danach bis 1927 eine Fortbildungsschule in Neu-Isenburg. Von 1927 bis 1936 befand sich Alice Hirsch in der Berufsausbil-dung. Zunächst lernte sie im Jüdischen Säuglings- und Kleinkinderheim in Breslau/Krietern bis 1929, danach ein Jahr im Jüdischen Säuglingsheim Berlin/Niederschönhausen. Anschlie-ßend war sie ein halbes Jahr in der Heilpädagogischen Schule in Berlin/Borgsdorf, Oranienburg, dann wieder in Breslau im Jüdischen Krankenhaus, wo sie von 1934 bis 1936 eine Krankenschwesternausbildung absolvierte. Entsprechend war sie nun sowohl Säuglingspflegerin als auch Krankenschwester (vgl. HHStA Abt. 518 Nr. 15852).
Am 3. November 1938 zog Alice Hirsch in Frankfurt am Main von der Maximilianstraße 1, gegenüber dem Haupteingang des Jüdischen Krankenhauses (Gagernstraße 36), in das Krankenhaus selbst um, wo sie auch arbeitete. Unter dem Eindruck des Suizids eines Arztes des Krankenhauses (Dr. Rosenthal), bemühte sie sich um die Ausreise aus Deutschland und konnte am 28. Juli 1939 nach England entkommen (ISG HB 686: 89).
In einer Meldung des 2. Polizeireviers in Frankfurt am Main heißt es: “Die Alice Sara Hirsch, geb. 9.2.1911 in Heidelberg, kam am 28.7.1939 von Gagernstraße 36 nach England zur Ab-meldung und ist verzogen“ (HHStA Abt. 519/3 Nr. 27.914).
In England arbeitete sie als Büroangestellte und lebte in London. Ihr Rechtsanwalt schrieb, dass sich der Gesundheitszustand seiner Mandantin nach der Auswanderung weiter verschlechtert habe, zumal sie die Mitteilung erhalten habe, dass ihre Mutter im Konzentrationslager gestorben sei (HHStA Abt. 518 Nr. 15852).
Die Mutter von Alice Hirsch war Johanna Hirsch, geb. 24. Februar 1889. Sie war am 22. Oktober 1940 von Mannheim nach Gurs deportiert worden. Am 14. Januar 1942 kam sie in das Aile de Limoux (Aude), ein psychiatrisches Krankenhaus, wo sie bis 1958 blieb. Anscheinend erfuhr ihre Tochter erst dann von dem Verbleib der Mutter worauf sie sie nach England holte (vgl. GLAK Abt. 243 Zug. 2004-125 Nr. 9529).

Alice Kaufmann (1923-?)
Alice Kaufmann, verheiratete Young, wurde am 21. Januar 1923 in Heidelberg geboren. Sie besuchte das Heidelberger Gymnasium, dessen Besuch sie abbrechen musste. Eine Ausbil-dung zur Krankenschwester folgte. Sie emigrierte am 3. Mai 1937 nach England (vgl. Weck-becker 1983: 85, Giovannini 2011: 212).
Ihre Eltern waren der Kaufmann Theodor Kaufmann (1883-1958), geb. am 27. September 1883 in Fried-berg/Hessen, und Erna Anna Kaufmann, geb. Stolzenberg (nichtjüdisch). Die Familie wohnte in der Klingenteichstraße 4. Alices Bruder war Theo Kaufmann, geboren am 3. Dezember 1919 in Heidelberg, er konnte nach Australien auswandern (Weckbecker 1983: 85).

Berta Lenel (1882-1940)
Berta Lenel wurde am 7. März 1882 in Leipzig geboren. Sie war Rot-Kreuz-Schwester und arbei-tete als Oberschwester an der Universitätsaugenklinik in Heidelberg. Am 29. April 1933 zog sie nach Freiburg. Am 22. Oktober 1940 wurde sie nach Gurs deportiert. Vom 16. Feb-ruar 1942 bis 22. April 1944 lebte sie versteckt von den Bewohnern des Dorfes Le Cham-bon-sur-Lignon/Dep. Haute-Loire in der Auvergne. 1944 konnte sie in die Schweiz entkom-men und kehrte 1948 nach Freiburg zurück (vgl. Giovannini 2011: 241, GLAK Abt. 480 Nr. 14329, Weckbecker 1983: 105).
Die Eltern waren Otto Lenel (1849-1935), Rechtshistoriker, seit 1907 in Freiburg lehrend und Luise, geb. Eberstadt (1857-1940). Die Mutter wurde mit Berta Lenel gemeinsam nach Gurs deportiert, wo sie am 7. November 1940 starb (vgl. Giovannini 2011: 241).

Lola (Karola) Levi (1920-2008)
Lola (Karola) Levi, verheiratete Selma (Lola) Deehan, wurde am 11. August 1920 in Heidelberg geboren. Von 1930 bis 1936 besuchte sie die Mädchenrealschule in Heidelberg. Nach der mittleren Reife ging sie bis 1938 auf die Handelsschule in Heidelberg und die Haushaltsschu-le in Konstanz (vgl. Giovannini 2011: 24). Als Lehrschwester kam sie am 2. August 1938 von Heidelberg in die Bornheimer Landwehr 85 (vgl. ISG HB 686: 57) und erhielt dort bis 1939 eine Ausbildung zur Krankenpflegerin am Jüdischen Krankenhaus in Frankfurt am Main. Am 8. Mai 1939 meldet sie sich nach Heidelberg ab. Am 5. Juni 1939 emigrierte sie nach England, wo sie ihre Ausbildung bis 1945 fortsetzte. In den USA arbeitete sie als Krankenpflegerin und Hausfrau. Am 9. Februar 2008 starb sie in Punta Gorda/Florida. Auch ihre Schwester Martha war Krankenpflegerin, vermutlich ausgebildet in England (vgl. Giovannini 2011: 247).

Fotografie: Häusserstraße 4, Heidelberg.
Häusserstraße 4, Heidelberg
Aus: Giovannini, Norbert u.a. 2011: Erinnern, Bewahren, Gedenken. S. 472

Madeleine Lion (1907-?)
Madeleine Lion, geboren am 22. April 1907 in Mühlhausen/Elsaß, war Säuglingspflegerin. Sie war von 1929 bis 1933 Stationsschwester im Mütter- und Säuglingsheim des Frauenvereins der Berliner Logen, wo sie 1933 entlassen wurde. Von 1933 bis 34 arbeitete sie im Betrieb der Eltern, Textilgroßversand C&A Lion, Häusserstraße 4, Heidelberg. Am 9. Dezember 1934 wanderte sie in die USA aus, wo sie am 14. September 1938 in Oklahoma heiratete (vgl. Giovannini 2011: 259; Weckbecker 1983: 115).

Stefanie Pauline Nöther (1912-?)
Stefanie Pauline Nöther, verheiratete Becker, geboren am 26. Dezember 1912 in Bruchsal. Beruf Krankenschwester. In Heidelberg arbeitete sie von 1931 bis 1938 in verschiedenen Stellen als Haushaltshilfe. Sie ging am 8. September 1939 nach Bremen, wurde dort zur Rot-Kreuz-Schwester ausgebildet und wirkte als Rot-Kreuz-Helferin im städtischen Krankenhaus. 1939 reiste sie nach Chile aus, wo sie am 6. Juni 1944 den Gelsenkirchner Josef Becker heiratete und nun Stefanie Pauline Nöther de Becker hieß. In Chile konnte sie weiter als Krankenschwester arbeiten. 1954 kam sie nach Heidelberg und legte am 4. April 1960 ihre Krankenpflegeprüfung ab (vgl. Weckbecker 1983: 143, Giovannini 201: 314, Generallandesarchiv Abt. 480, Nr. 11066).

Fotografie: Lotte Selma Pinkuss mit Ehemann Rabbiner Fritz Pinkuss beim Besuch in Heidelberg 1980.
Lotte Selma Pinkuss mit Ehemann Fritz Pinkuss / Lotte Selma Pinkuss mit Ehemann Rabbiner Fritz Pinkuss beim Besuch in Heidelberg 1980
© Stadtarchiv Heidelberg

Lotte Selma Pinkuss (1912-2003)
Lotte Selma Pinkuss, geb. Sternfels, geboren am 27. Juli 1912 in Darmstadt, war Kinderpflegerin. Ihr Abitur machte sie auf der Viktoriaschule in Darmstadt im April 1932. Sie schloss ein Praktikum beim Jugend- und Fürsorgeamt Darmstadt an. Im Oktober 1933 bestand sie das staatliche Examen in Säuglings- und Kinderpflege an der Uniklinik Heidelberg. Umzug von Darmstadt nach Heidelberg am 30. Juni 1934. Eine Anstellung fand sie im Kinderheim der jüdischen Gemeinde in München. Anschließend arbeitete sie ehrenamtlich in der Juden- und Auswandererberatung im Amtsbezirk ihres Gatten, des damaligen Bezirksrabbiners Dr. Fritz Pinkuss zu Heidelberg. Die letzte Adresse in Heidelberg war die Handschuhsheimer Landstraße 8. Nach der Auswanderung, 16. August 1936, wohnte sie in Sao Paulo, Alameda Fernao Cardim 284. Eine weitere Adresse war Rua Haiti 58. Lotte Pinkuss verstarb im November 2003. Sie hatte ein Kind, Michael Ludwig, geb. 1935 in Heidelberg. (vgl. Giovannini 2001: 332, GLAK Abt. 480. Nr. 25242/1, Weckbecker 1983: 151).

Ihr Ehemann war Dr. Fritz Pinkuss (1905-1994), geb. am 13. Mai 1905 in Egeln bei Magdeburg/Salzlandkreis. Bezirksrabbiner und Rabbiner der jüdischen Gemeinde Heidelbergs (Hauptgemeinde). Studium am Rabbinerseminar in Breslau 1925 bis 1928. Studium in Würzburg und Berlin. Belegt ist, dass Fritz Pinkuss zeitweise stellvertretender Vorsitzender des Schwesternvereins war und auch Vorsitzender der Friedrich-Loge (vgl. Brocke/Carlebach 2009: 482, Zentralwohlfahrtstelle 1928: 212-216). Seit 1936 Rabbiner der Congregação Israelitia Paulista in São Paulo. Seit 1945 Professor of Jewish Studies, Universidade de São Paulo. Träger des Bundesverdienstkreuzes (vgl. Giovannini 2011: 332).

Luise Wolfers (1875-?)
Luise Wolfers wurde am 28. Juni 1875 in Minden/Westalen geboren. Sie war von Beruf Krankenpflegerin und wohnte 1939 mit ihrer Schwester Paula Grünebaum in der Hauptstraße 165 und 1940 in der Rohrbacher Straße 51, einem sogenannten „Judenhaus“ (Giovannini 2011: 447, Weckbecker 1983: 214).

Quellen


GLAK = Generallandesarchiv Karlsruhe: Abt. 480 Nr. 1358 Nr. I, Abt. 243 Zug. 2004-125 Nr. 9529, Abt. 480 Nr. 14329, Abt. 480, Nr. 11066, Abt. 480. Nr. 25242/1

HHStA = Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden. Abt. 518 Nr. 15852, Abt. 519/3 Nr. 27.914

ISG = Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main. HB=Hausstandsbuch 686, Gagernstraße 36 Teil 1

Literatur

Brocke, Michael/Carlebach Julius 2009: Die Rabbiner im Deutschen Reich 1871-1945, Bd. 2. https://books.google.de/books?id=JJL5HQCT6nMC&dq=Friedrich+loge+heidelberg&hl=de&source=gbs_navlinks_s (13.8.2015)

Giovannini, Norbert, Rink, Claudia, Moraw, Frank 2011: Erinnern, Bewahren, Gedenken. Die jüdischen Einwohner Heidelbergs und ihre Angehörigen 1933-1945. Heidelberg.

Giovannini, Norbert, Moraw, Frank (Hrsg.) 1998: Erinnertes Leben. Autobiographische Texte zur jüdischen Geschichte Heidelbergs. Heidelberg
Müller, Samuel 1930: Geschichte der Friedrich-Loge. XXIX, 444 U.O.B.B. 1894-1930. O.O.

Steppe, Hilde 1997: „…den Kranken zum Troste, dem Judenthum zur Ehre…“. Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt am Main

Turtle, Chasia 1979: Geschichte der Juden in Heidelberg von den Anfängen bis zur Gegenwart (Stadtarchiv Heidelberg).

Weckbecker, Arno 1985: Die Judenverfolgung in Heidelberg 1933-1945. Heidelberg

Weckbecker, Arno 1983: Gedenkbuch an die ehemaligen Heidelberger Bürger jüdischer Herkunft. Heidelberg

Wennemuth, Udo 1996: Geschichte der Juden in Heidelberg in der Weimarer Republik. In Andreas Cser u.a.: Geschichte der Juden in Heidelberg. Heidelberg. S. 379-387

Zentralwohlfahrtstelle der deutschen Juden 1928: Führer durch die jüdische Wohlfahrtspflege in Deutschland. Berlin.

Internetquellen

Adressbuch Heidelberg 1911: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/AdressbuchHD1911/0541?sid=16e2a06fd6eef97c011c8e146db86b1e

BA Konstanz: Das Gedenkbuch des Bundesarchivs für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland (1933-1945). https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/

UOBB Heidelberg: Bericht der Großloge für Deutschland. Organ des 8. Distrikts

U.O.B.B. compact memory http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/urn:nbn:de:hebis:30:1-138615

Jüdische Pflege in Mannheim und ihre Verbindung zur Frankfurter jüdischen Pflege

Die Krankenunterstützungsvereine

In Mannheim gab es traditionelle Hilfsvereine wie die Chewra Kadischa, eine Beerdigungsbruderschaft (seit 1694), und die Bikkur Cholim, eine Krankenverpflegungs- und Brautausstattungsbruderschaft (seit 1770). In den Jahren 1776, 1798 und 1816 kamen zusätzlich Krankenunterstützungsvereine hinzu, aus denen 1879 die „Vereinigte Verwaltung der Israelitischen Krankenunterstützungsvereine“ hervor ging. Ihren Mitgliedern wurde bei Bedarf Pflegepersonal zur Verfügung gestellt oder finanzielle Unterstützung zuteil. Die Krankenunterstützungsvereine gründeten 1906 das Israelitische Krankenschwesternheim (vgl. Keller 1995: 119f). Auch die jüdische August-Lamey-Loge in Mannheim spielte bei der Einrichtung des Mannheimer Gesundheitssystems eine Rolle, die jedoch noch zu untersuchen ist.
Das Israelitische Krankenschwesternheim befand sich seit seiner Gründung im Quadrat B7, 11 und ab 1911 im Quadrat C2, 19. Im Jahr 1913 waren eine Oberschwester und fünf Pflegeschwestern im Heim untergebracht. 1931 zogen die Schwestern in das neu erbaute jüdische Altersheim um. In einem Artikel über das Krankenschwesternheim von 1935 heißt es: „Das hiesige Schwesternheim umfaßt [sic] gegenwärtig vier ausgebildete Schwestern, die in langen Arbeitsjahren sich reiche Erfahrungen in der Krankenpflege erworben haben.“ Von deren Arbeitsleistungen entfiel eine kleinere Anzahl „auf Hilfeleistungen im jüdischen Krankenhaus (Assistenz bei Operationen, Nachtwachen bei Schwerkranken) und auf Vertretungen im jüdischen Altersheim. Die weitaus größte Zahl aller Pflegen und Ambulanzen aber wurde im Hausstand der Erkrankten selbst durchgeführt“ (IG 1935: 9). Vorsitzender der Vereinigten Verwaltung der Israelitischen Krankenunterstützungsvereine und damit auch des Israelitischen Krankenschwesternheims war lange der Rabbiner Dr. Gustav Oppenheim (vgl. Keller 1995: 119f).

Das Krankenhaus

Fotografie: Israelitisches Kranken- und Pfründnerhaus Mannheim.
Israelitisches Kranken- und Pfründnerhaus Mannheim

Bereits im Jahr 1711 reichte es nicht mehr aus, Kranke zu Hause oder in angemieteten Häusern zu versorgen, und die jüdische Gemeinde Mannheim kaufte das „Haus Straßburg“ im Quadrat E5, um es als Krankenhaus einzurichten (vgl. Keller 1995: 122). Das „Haus Straßburg“ war zuvor die Wirtschaft „Zur Stadt Straßburg“, für die die jüdische Gemeinde 900 Gulden bezahlte (IG 1936: 8). Erweiterungsgrundstücke kamen 1722 und 1798 hinzu, wie auch ein Schabbesofen und eine Metzgerschranne (Verkaufsstand), die durch Vermietung einen Teil der Finanzierung des Hauses einbrachten. 1831 beschloss die Gemeinde, das Krankenhaus auch für Arme und Pfründner zu öffnen, also auch für Menschen, die eine Rente meist aus weltlichen oder kirchlichen Ämtern erhielten. Dazu wurde der verfallene 2. Stock ausgebaut (vgl. Keller 1995: 123). Ein Umbau 1843/44 brachte einen zusätzlichen 3. Stock und Nebenflügel, der Schabbesofen und die Metzgerschranne wurden wieder abgebaut. Im Erdgeschoss befanden sich nun „die Verwalterwohnung, ein Sitzungs- und Arztzimmer, die Küche und Funktionsräume und an Stelle der Schranne, [ein] […] Speisesaal; im ersten Obergeschoss befanden sich sechs Kranken- und ein Totenzimmer sowie je ein Raum für den Wärter und die Wärterin; im zweiten Obergeschoß schließlich waren die Pfründnerwohnungen untergebracht. Der Hof wurde nach Entfernung des Schabbesofen als Garten hergerichtet“ (Keller 1995:123). 1877 erhielt das Haus den Namen: Israelitisches Kranken- und Pfründnerhaus (vgl. Keller 1995: 123). 1894, zur Eröffnung eines weiteren Vergrößerungsbaus, war auch die Großherzogin Luise von Baden anwesend.

Fotografie: Israelitisches Kranken- und Pfründnerhaus Mannheim / Reinigen des OP-Saals, 1930 (Quadrat E5, 9).
Israelitisches Kranken- und Pfründnerhaus Mannheim / Reinigen des OP-Saals, 1930 (Quadrat E5, 9)
© Institut für Stadtgeschichte Mannheim

Die Bewohner des Israelitischen Kranken- und Pfründnerhauses wurden rituell verpflegt. Auch viele Nichtjuden nutzten die seit 1894 verbesserten chirurgischen Möglichkeiten. 1910 wurden im Haus 124 im Jahr 1929 428 Patientinnen und Patienten versorgt.
Aus Städteplanungsgründen wurde das gesamte Quadrat E5 1936 abgerissen. In dem stattdessen im nationalsozialistischen Architekturstil erbauten Gebäude, befindet sich heute das Rathaus der Stadt Mannheim. Das Krankenhaus wurde unter der Oberin Pauline Maier in das wenige Jahre zuvor erbaute jüdische Altersheim in der Collinistraße verlegt (vgl. Keller 1995: 123).

Fotografie: Israelitisches Altersheim Collinistraße, Mannheim.
Israelitisches Altersheim Collinistraße, Mannheim / Luftaufnahme
© Institut für Stadtgeschichte Mannheim

Vor dem Ersten Weltkrieg war in der Gemeinde Geld für den weiteren Ausbau des Krankenhauses gesammelt worden. Dieses Geld steckte man nun in den inzwischen dringlicher gewordenen Neubau eines Altersheims. 1930 wurden der Grundstein gelegt und das Richtfest gefeiert. Am ersten Sederabend 1931 startete der Betrieb im jüdischen Altersheim in der Collinistraße, heute Bassermannstraße. Die ersten Bewohner zogen am 1. April 1931 ein. Die groß geplante Einweihungsfeier wurde jedoch, scheinbar aus Furcht vor antisemitischen Aktionen, kurzfristig abgesagt (vgl. Keller 1995: 125). Das Gebäude hatte der Frankfurter Regierungsbaumeister Fritz Nathan, der in Frankfurt auch den Neubau des Rothschildschen Krankenhauses erbaut hatte, mit Beteiligung von Josef Zizler entworfen. Es ähnelte, im Stil der Neuen Sachlichkeit gehalten, dem Budge-Altenheim im Edingerweg in Frankfurt, das im Juni 1930 eröffnet worden war und ebenfalls von einer Architektengruppe um Frankfurts Siedlungsdezernenten Ernst May entworfen worden war.

Fotografie: Israelitisches Altersheim und Krankenhaus Mannheim / Krankenschwestern vor dem Collinibau.
Israelitisches Altersheim und Krankenhaus Mannheim / Krankenschwestern vor dem Collinibau
© Institut für Stadtgeschichte Mannheim

Das Mannheimer israelitische Altersheim beherbergte 50 Bewohner. Es gab einen „Wohngarten“, der durch große Glastüren von Aufenthaltsräumen und Speisesaal, der auch als Gottesdienstraum nutzbar war, erreichbar war. Die Küche war modern eingerichtet und für Trennung von Milch- und Fleischzubereitung vorgesehen, mit Sabbatofen und einem Raum für das Pessachgeschirr. Wäschereianlage und Aufzüge ergänzten die Funktionalität. Die hellen Einzelräume und einige Doppelzimmer richteten sich nach der Sonne, fast alle hatten einen Balkon. Im obersten Stockwerk befand sich seit 1931 das Krankenschwesternheim. Als 1936 das Krankenhaus mit einzog, trennte der Architekt das Gebäude in Ost- und Westhälfte. Geteilt durch eine gläserne Wand befand sich im östlichen Flügel das Krankenhaus mit ca. 40 Betten. Im Westflügel blieb das Altersheim für 25 Bewohner erhalten. Die Krankenhausausrüstung war hochmodern. In einem Anbau gab es Operationsräume mit Sterilisationseinrichtungen und Vorbereitungszimmern. Die Röntgeneinrichtung war neu. Die Krankenzimmer waren in drei Klassen eingeteilt und beherbergten ein bis vier Betten. Zur Zeit des Nationalsozialismus wurde das Krankenhaus immer wieder zum Sammelpunkt verfolgter Juden, so 1938 nach der Pogromnacht, in der der Rabbiner Dr. Karl Richter eine Nacht lang im Isolierzimmer versteckt worden war. Der Speisesaal diente nach der Zerstörung der Hauptsynagoge als Saal für Gottesdienste. Und kurze Zeit darauf war das Krankenhaus Schauplatz von Selektionen zur Deportation. Am 24.12.1941 wurden die letzten Patienten des Krankenhauses aus dem Haus gewiesen. Es wurde zum Polizeikrankenhaus umfunktioniert. Nach Kriegsschäden wurde das Haus 1952 verändert wieder aufgebaut und als Tuberkulosekrankenhaus genutzt. Seit 1964 war es Alters- und Pflegeheim der Stadt Mannheim und trug den Namen der Oberin Pauline Maier (vgl. Keller 1995: 124-126). Das Haus wurde 2010 abgerissen und durch ein neues er-setzt, das weiterhin den Namen der Oberin trägt.

Die Schwestern des Israelitischen Schwesternheims

Anzeige: Israelitisches Krankenhaus Mannheim / Stellen- und Ausbildungsplatzanzeige des Israelitischen Krankenhauses Mannheim von 1922.
Israelitisches Krankenhaus Mannheim / Stellen- und Ausbildungsplatzanzeige des Israelitischen Krankenhauses Mannheim von 1922

In Mannheim gab es keine eigene jüdische Schwesternausbildung wie z. B. in dem Schwesternverein in Frankfurt am Main. Das Krankenhaus und die Krankenunterstützungsvereine konnten jedoch auszubildende Lehrschwestern nach Berlin schicken, wo sie durch die Großloge Bne Briss und später von der Krankenschwesternorganisation (KSO) betreut wurden (vgl. Steppe 1997: 113).
Die heute bekannteste jüdische Krankenschwester in Mannheim war die Oberin Pauline Meier (1877-1942). Sie hatte sich in Berlin und Breslau ausbilden lassen. Im Israelitischen Krankenhaus Mannheim war sie seit 1913 beschäftigt und wirkte ab 1922 als Oberin. Am 22. Oktober 1940 begleitete sie, gegen den Befehl der Gestapo in Mannheim bleiben zu sollen, ihre Patienten nach Gurs. In Gurs wirkte sie weiter in der Pflege. Im August 1942 wurde sie nach Auschwitz deportiert, obwohl sie gebeten worden war, im Lager zu bleiben. Ihr Wunsch war es, bei ihren Patienten zu bleiben und auch nach ihren verschwundenen Geschwistern zu suchen. Ihr Leben, das in vielen Artikel beschrieben wird (vgl. Watzinger 1984: 125-126 oder Sauer 1969: 279f) endete in Auschwitz.

Fotografie: Israelitisches Krankenhaus Mannheim / Die Belegschaft des Mannheimer jüdischen Krankenhauses im Jahr 1942.
Israelitisches Krankenhaus Mannheim / Die Belegschaft des Mannheimer jüdischen Krankenhauses im Jahr 1942
© Ruth Landsberger, mit freundlicher Genehmigung von Volker Keller

Pauline Meier und auch andere Schwestern wie Emma Bendix, Johanna Gödelmann, Gertrud Joehlinger, geb. Schad, Elsa Berta Schloss, geb. Rosenberg, Hilda Wunsch oder Ruth Sekyrka (Gerechte der Pflege, Keller 1995 und ISG Mannheim ZGS S2/1142) stehen jedoch nicht mit der Frankfurter jüdischen Pflege in Verbindung, weshalb an dieser Stelle nicht weiter über sie berichtet wird.
Von der Belegschaft des Krankenhauses existiert ein Foto aus dem Jahre 1942. Die abgebildeten Personen sind nicht in den Unterlagen des Frankfurter Vereins jüdischer Krankenpflegerinnen verzeichnet, was darauf hindeutet, dass die Krankenschwestern nicht in Frankfurt, sondern vermutlich in Berlin ausgebildet wurden.
Krankenpflegerinnen, die sowohl mit Mannheim als auch mit Frankfurt in Verbindung standen, z. B. durch Herkunft oder Arbeitsstelle, waren (in alphabetischer Folge):

Gerda Bloch
Gerda Bloch (später Gertrude Block) wurde am 21. September 1893 in Mannheim geboren. 1923 wurde sie Lehrschwester und ab 1925 staatlich anerkannte Krankenschwester, wobei nicht belegt ist, wo sie ausgebildet wurde. Im Schwesternhaus in der Bornheimer Landwehr 85 in Frankfurt wurde sie am 8. Juli 1932, aus Karlsruhe kommend, angemeldet. Am 20. Juli 1939 konnte sie per Flugzeug nach England flüchten. Ihr bereits beantragtes USA-Visum erhielt sie jedoch erst am 15. Juli 1940, so dass eine bereits bezahlte Schiffspassage verfiel und sie eine neue mit Hilfe eigener Mittel und von ihrem in den USA lebenden Bruder kaufen musste. Sie reiste per Schiff von Glasgow über New York nach Los Angeles. Zuvor hatte sie in England als Krankenpflegerin in einem Nursing-Home gearbeitet. In Los Angeles war sie ebenfalls Krankenpflegerin sowie Haushaltshilfe. 1947 arbeitete sie unbezahlt im White Memorial Hospital in Los Angeles und bekam ihre Anerkennung als registrierte Krankenschwester in Kalifornien. Sie leistete weitre Dienste als Privatkrankenschwester in Hospitälern und bei privaten Patienten in San Francisco (vgl. ISG Hausstandsbücher, HHStA:Abt. 518 Nr. 4659).

Bella Forst
Bella Forst (Isabella), verheiratete Windmüller, wurde am 6. Juli 1905 in Kaiserslautern geboren. Der Vater war Samuel Forst, ein Handelsmann in Niederkirchen, die Mutter hieß Elisabeta Forst, geb. Berg. Eine Zeit lang, von Mai bis September 1929, war sie nach Ladenburg abgemeldet. Am 28. Februar 1930 meldete sie sich, aus Niederkirchen kommend, im Frankfurter Schwesternhaus Bornheimer Landwehr 85 an. Abgemeldet hat sie sich wieder am 16. August 1932, um nach Mannheim zu gehen. Nach den Aussagen ihres Bruders Eugén Isaac Forst heiratete sie nach ca. 15 Jahren Tätigkeit im jüdischen Krankenhaus in Frankfurt am Main Julius Windmüller, geboren am 11. September 1883 in Schlitz (Kreis Lauterbach). Das Ehepaar wohnte zuletzt in Frankfurt in der Liebigstrasse 24. Beide wurden nach Polen deportiert und dort ermordet, wo genau ist unbekannt. Beider Todestag wurde auf den 23. Mai 1942 festgesetzt (vgl. ISG Hausstandsbücher / HHStA Abt. 518 Nr. 37.645).

Erna Heimberg
Erna Heimberg wurde am 11. Januar 1889 in dem Dorf Madfeld im Sauerland (Nordrhein-Westfalen) geboren. Sie wurde seit 1911 im Verein für jüdische Krankenpflegerinnen in Frankfurt ausgebildet. Im Ersten Weltkrieg versorgte sie als OP-Schwester verwundete Soldaten. 1936 kehrte sie aus Mannheim nach Frankfurt in das jüdische Schwesternhaus zurück. Ihre Fluchtversuche in das britisch kontrollierte Mandatsgebiet Palästina scheiterten. Erna Heimberg war vermutlich die letzte Oberin des im Frühjahr 1941 liquidierten Rothschild’schen Hospitals und danach des letzten Frankfurter jüdischen Krankenhauses in der Gagernstraße 36. Sie wurde am 15. September 1942 mit Ottilie Winter und weiteren Kolleginnen nach Theresienstadt deportiert und am 15. Mai 1944 in Ausschwitz ermordet (vgl. Gedenkbuch Koblenz).

Dokument: Holland, Liselotte / Zeugnis des Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main.
Holland, Liselotte / Zeugnis des Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main
© HHStA Wiesbaden Abt. 518 Nr. 19162

Liselotte Holland
Liselotte Holland, (Lotte, Lilo) verheiratete Katz, wurde am 27. Juni 1910 in Mannheim geboren. Ihr Vater war Hermann Holland, ihre Mutter Julie Holland, geb. Moos. Sie ging in Mannheim in die Lieselotte Schule und weiter zur städtischen Handelsschule. Danach arbeitete sie im Geschäft ihres Vaters und beschloss 1932 Krankenpflegerin zu werden. Am 31. Juli 1934 kam sie in das Schwesternhaus Bornheimer Landstraße 85 in Frankfurt. Ihr Schwesterndiplom vom Regierungspräsidenten in Wiesbaden ist auf den 23. November 1935 datiert. Sie arbeitete ein Jahr im jüdischen Krankenhaus in Frankfurt, welches auch ihre letzte Adresse in Deutschland war: Gagernstraße 36. Bei der Verabschiedung ihrer Schwester nach den USA im Hamburger Hafen traf sie ihren Jugendfreund Siegfried Katz (geb. 1. August 1905 in Nendershausen, Bez. Kassel), dieser bereitete sich auf seine Ausreise nach Palästina auf einem landwirtschaftlichen Gut in der Nähe Hamburgs vor. Am 5. Juli 1936 heirateten sie und gingen gemeinsam nach Palästina. Dort fehlte Liselotte Katz allerdings das Geld für eine nachträgliche Prüfung als Krankenschwester, auch die Sprache verhinderte eine weitere Arbeit in der Pflege. Sie wurde Hilfsarbeiterin in einer Krankenkasse. 1940 bekam das Ehepaar eine Tochter. Sie bearbeiteten ein 2.000 qm großes Grundstück als Siedler und besaßen Hühner und Kühe. Liselotte Katz litt zunehmend an epileptischen Anfällen, weshalb sie die Siedlung aufgeben mussten. Lilo Katz starb am 18. September 1963 in Kfar Scharjahn, Israel (vgl. ISG Hausstandsbücher und HHS-tA Abt. 518 Nr. 19162).

Charlotte Lewy
Charlotte Lewy wurde am 19. Januar 1910 in München geboren. Sie kam am 2. Oktober 1936 aus Mannheim in die Bornheimer Landwehr 85 und kehrte am 28. Dezember desselben Jahres wieder zurück nach Mannheim (vgl. ISG Hausstandsbücher).

Hildegard Rausenberg
Hildegard Rausenberg, geboren am 2. Dezember 1912 in Meschede, kam aus Meschede am 30. Juli 1931 nach Frankfurt als Lehrschwester. Bis zum 33. März 1934 war sie im Verein in der Bornheimer Landwehr 85, um dann nach Mannheim zu ziehen (vgl. ISG Hausstandsbücher).

Melanie Rothschild
Melanie Rothschild wurde am 16. Januar 1896 in Offenbach geboren. Im Schwesternhaus Bornheimer Landwehr 85 meldete sie sich am 5. Dezember 1924 an. Abgemeldet hat sie sich am 19. April 1934, um in die Neckarstraße 5 zu ziehen. Dort befand sich ebenfalls die Privatklinik Dr. Max Mainzer, es liegt nahe anzunehmen, dass Frau Rothschild dort arbeitete. Vermutlich ist sie in die USA emigriert. In einer Meldung des 2. Polizeireviers in Frankfurt hieß es nämlich am 30. Januar 1940: „Die Jüdin Melanie Sara Rothschild geb. 16.1.96 zu Offenbach, kam am 5.9.40 von Bornheimer Landstr. 85 nach U.S.A. zur Abmeldung und ist verzogen.“ In ihrer Devisenakte steht: „Beruf Krankenschwester. Möchte weiterhin als Krankenschwester arbeiten“ (vgl. ISG, HHStA Abt. 519/3 Nr. 27.194 und HHStA Abt.513/3 Nr.31779).

Lotte Wolff
Lotte Wolff wurde am 1. Oktober 1912 in Mannheim geboren. Lt. einer Auflistung im Hessischen Hauptstaatsarchiv hielt sie sich zwischen 1931 und 1939 an folgenden Orten auf:
3.8.31 bis 15.5.33 in Walldorf bei Heidelberg; 15.5.33 bis 1.6.35 Frankreich; 1.6.35 bis 1.4.36 Mannheim; 1.4.36 bis 1.4.38 Breslau; 1.4.38 bis 10.3.39 Mannheim und ab 10.3.39 in Frankfurt.
Am 16. März 1939 meldete sie sich in der Bornheimer Landwehr 85, dem Schwesternhaus in Frankfurt, an. Am 22. August desselben Jahres konnte sie nach England ausreisen (vgl. HHS-tA Abt. 519/3 Nr. 21.293 und ISG Frankfurt am Main).

Edgar Bönisch 2015

Quellen
HHStA = Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden.

ISG = Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main. Hausstandsbücher 686, Gagernstraße 36, Teil 1

ISG Mannheim = Institut für Stadtgeschichte Mannheim

Literatur

IG = Israelitisches Gemeindeblatt. 30. April 1935, Nr. 8 und 1936, Nr. 10.

Keller, Volker 1995: Jüdisches Leben in Mannheim. Mannheim.

Keller, Volker 1988: Bilder vom jüdischen Leben in Mannheim. Mannheim.

Sauer Paul 1969: Die Schicksale der jüdischen Bürger Baden-Württembergs während der Nationalsozialistischen Verfolgungszeit 1933-1945. Stuttgart.

Steppe, Hilde 1997: „…den Kranken zum Troste, dem Judenthum zur Ehre…“. Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflegte in Deutschland. Frankfurt am Main.

Watzinger, Karl Otto 1984: Geschichte der Juden in Mannheim 1650-1945. Stuttgart.

 
Internetquellen

Alemania Judaica = Alemannia Judaica. Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Geschichte der Juden im süddeutschen und angrenzenden Raum: Mannheim (Stadtkreis). Berichte aus dem jüdischen Gemeinde- und Vereinsleben des 19./20. Jahrhunderts (bis 1938).
http://www.alemannia-judaica.de/mannheim_texte.htm (2. 9.2015)

Gedenkbuch Koblenz = Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozi-alistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945. https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/ (2.9.2015)

Gerechte der Pflege = http://www.gerechte-der-pflege.net/wiki/index.php/Hauptseite (2.9.2015)

Julie Glaser (1878 – 1941 deportiert) – Oberin des Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main

… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre …“

– als langjährige Oberin des Frankfurter jüdischen Krankenhauses in der Gagernstraße setzte auch Julie Glaser diesen Leitspruch der jüdischen Pflege (vgl. Feldmann 1901) in die Tat um.

Herkunft
Julie Glaser kam am 7. Oktober 1878 (1877 nach Strätz 1989, S. 193) in der bayerisch-fränkischen Bischofsstadt Würzburg zur Welt. Sie gehörte der jüdischen Minderheit an, wurde aber auch von dem katholischen Milieu geprägt, in dem sie aufwuchs.
Ihre Eltern entstammten beide dem unter- und mittelfränkischen Judentum Bayerns. Der Vater Max (Marx) Glaser, ein Kaufmann, wurde am 4. April 1844 in Thüngen geboren. Der kleine Spessartort zählte wegen seines hohen jüdischen Bevölkerungsanteils zu den so genannten „Judendörfern“: In Thüngen lebte und wirkte bis zu ihrer Vernichtung 1942 die größte jüdische Synagogengemeinde des heutigen Landkreises Main-Spessart. Max Glaser zog mit seinen Eltern, Babette Glaser geb. Amson und dem Kaufmann Jakob Glaser, nach Würzburg, erhielt 1874 das Heimatrecht und 1892 das Bürgerrecht. Viele Jahre lang leitete er eine Weingroßhandlung und war zuletzt Inhaber einer Immobilienagentur. Wohnhaft im damaligen Haugerring 14 (heute etwa Haugerring 7), starb er am 3. oder 4. Juli 1909 in Würzburg (Strätz 1989, S. 193).
Julie Glasers Mutter Rosa Glaser geb. Regensburger wurde am 13. März 1851 in Feuchtwangen geboren. In der mittelfränkischen Kleinstadt waren seit dem 13. Jahrhundert Juden ansässig, darunter Vorfahren des bekannten Schriftstellers Lion Feuchtwanger. Mit ihren Eltern, Clara Regensburger geb. Cohn und dem Lederhändler Nathan Regensburger, wohnte Rosa Glaser später in Rothenburg ob der Tauber, das ebenfalls eine reichhaltige jüdische Geschichte hat. Dort heiratete sie 1874 Max Glaser und zog zu ihm nach Würzburg. Des Weiteren ist von Julie Glasers Mutter, seit 1909 Witwe, nur bekannt, dass sie 1930 verzogen oder verstorben ist (Strätz 1989, S. 193).

Familiengeschichte
Julie Glaser war das dritte Kind und die erste Tochter von Rosa und Max Glaser. Sie hatte zwei ältere und vier jüngere Geschwister. Der älteste Bruder, Adolf Glaser, wurde am 12. März 1875 in Würzburg geboren. Nach seinem Medizinstudium praktizierte er als Arzt in Mannheim und als Schiffsarzt. Er starb am 10. Juli 1914 in Straßburg (Elsass, Frankreich). Julie Glasers jüngerer Bruder Jakob Glaser wurde am 16. Oktober 1881 in Würzburg geboren. Er starb bereits im Oktober 1900 vermutlich in Neuendettelsau (Mittelfranken, Bayern).

Leo Glaser
Eine beachtliche Karriere machte Julie Glasers zweiter Bruder, der Chemiker, Apotheker, Unternehmer und Politiker Dr. phil. Leo Glaser, geboren am 28. Mai 1876 in Würzburg. Nach seinem Würzburger Studium promovierte er 1901 bei Prof. Wilhelm Conrad Röntgen, dem Entdecker der Röntgenstrahlen und ersten Nobelpreisträger für Physik. Leo Glaser verband wissenschaftliche Fähigkeiten mit unternehmerischem Geschick. Bald verschlug es ihn von Bayern in das heutige Bad Doberan bei Rostock (Mecklenburg-Vorpommern): Dort übertrug ihm der Unternehmer, Zeitungsverleger und Stadtrat a.D. Reinhold Rudloff die fachliche Leitung der Haliflor-Company GmbH, einer „florierenden chemischen Fabrik für Parfümerien und Kosmetika“ (Palme 2002, S. 147). Als Reinhold Rudloff 1904 starb, wurde Leo Glaser Betriebsleiter und 1906 durch die Heirat mit der Tochter Elsa Bitt geb. Rudloff (1873-1947) auch offiziell sein Nachfolger im Unternehmen. Elsa Glaser brachte zwei kleine Töchter mit in die Ehe: die spätere bekannte Rostocker Malerin Kate Diehn-Bitt (1900-1978) und ihre ältere Schwester Annemarie. Mit Leo Glaser bekam sie die Tochter Lili (geb. 29.11.1910 in Doberan), Julie Glasers Nichte. Leo Glaser steigerte das Know-how von Haliflor (zu dem auch ein Lager mit Cognac gehörte) und baute die internationalen Firmenbeziehungen weiter aus. Von 1924 bis 1928 amtierte er als Präsident der mecklenburgischen Handelskammer in Rostock, die Universität Rostock ernannte ihn zum Ehrenmitglied. Auch politisch engagiert, gehörte Leo Glaser 1919 zu den Mitbegründern der Deutschen Demokratischen Partei in Mecklenburg. In der NS-Zeit waren seine vielfältigen Verdienste vergessen (vgl. die lesenswerte Doktorarbeit Leimkugel 1999 über Lebenswege weiterer antisemitisch verfolgter Apotheker und Pharmazeuten). 1938 kam Julie Glasers Bruder zeitweise in Haft, sein Unternehmen fiel in die Hände der Nazis. Von 1935 bis zum Kriegsende 1945 hauste das Ehepaar Glaser in äußerst bescheidenen Verhältnissen, isoliert von seinen nichtjüdischen Verwandten und Freunden, ja selbst von Elsa Glasers Töchtern Annemarie und Käthe, um diese nicht zu gefährden. Den Deportationen konnte Leo Glaser nur entkommen, weil seine nichtjüdische Ehefrau zu ihm hielt. Seine als „Halbjüdin“ verfolgte Tochter Lili Hahn geb. Glaser emigrierte 1941 zusammen mit ihrem Ehemann in die USA. Die Demütigungen, Bedrohungen und Zerstörungen der NS-Zeit hielt ihre nichtjüdische Halbschwester, die Künstlerin Käthe Diehn-Bitt, in eindrucksvollen „KZ-Bildern“ (siehe Palme 2002) fest. Nach Kriegsende bestellten die Sowjetbehörden Leo Glaser zum Leiter des Finanzamtes, doch baute er zugleich die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) in Mecklenburg mit auf. Da er in der Sowjetischen Besatzungszone keine demokratische Zukunft sah, gab Leo Glaser sein 1946 für die LDPD angetretenes Amt als Rostocker Stadtrat für Finanzen wieder auf. Nach dem Tod seiner Frau Elsa wanderte er 1947 zu der Tochter Lili nach New York aus und starb dort am 27. oder 28. Juni 1950. Lili Hahn geb. Glaser, aus gutbürgerlichem Hause, bestritt ihren Lebensunterhalt im Exil zeitweise als Zahnarzthelferin. Sie war die letzte Überlebende der Familie Glaser.

Emma, Cilli und Ida Glaser
Eine besonders innige Beziehung verband Julie Glaser mit ihren jüngeren Schwestern Emma und Cilli Glaser. Entgegen dem konservativen Ehe- und Mutterschaftsmodell, das bis in die 1960er Jahren vorherrschte, blieben alle drei unverheiratet und berufstätig: Julie Glaser wurde Krankenschwester. Emma Glaser, geboren am 10. September 1880, praktizierte in Würzburg als Dentistin (Zahnärztin ohne Hochschulprüfung, mit staatlicher Ausbildung und Kassenzulassung). Die ausgebildete Sekretärin Cilli Glaser, geboren am 11. Februar 1883, arbeitete als Angestellte im christlichen Luitpold-Krankenhaus Würzburg sowie als Privatsekretärin. 1934 ging sie nach München. Die Jüngste der vier Schwestern, Ida Glaser, geboren am 25. September 1884, war als Buchhalterin und Bankangestellte tätig. Auch mit ihr gab es enge Verbindungen: Wie Julie Glaser leistete Ida Glaser im Ersten Weltkrieg Kriegsdienst als Krankenschwester, seit 1927 lebte sie ebenfalls in Frankfurt am Main. Ihre Nichte Lili Hahn vermutete, dass sie ebenfalls unverheiratet blieb und noch vor den Deportationen verstarb.

Der Weg zur Oberin

Sozialisation
Schon in ihrer Kindheit und Jugend hatte Julie Glaser Prägungen erfahren, die sie auf die Führungsposition einer Pflegedienstleitung bzw. Oberin eines Krankenhauses biographisch vorbereiteten. So wuchs sie nicht wie die meisten Pflegenden in der unteren Mittelschicht auf, sondern kam aus dem sozial aufgestiegenen Bürgertum. Die Erfahrung als Angehörige der lange diskriminierten jüdischen Minderheit verstärkte zudem Anstrengungen, Besonderes zu leisten. Die beiden älteren Brüder studierten, alle vier Schwestern lernten Berufe, was für Frauen im Deutschen Kaiserreich keineswegs selbstverständlich war. In der Mitsorge um vier jüngere Geschwister, darunter den jung verstorbenen, offenbar kränkelnden Bruder Jakob Glaser, schulte Julie Glaser ihr Verantwortungsbewusstsein und Organisationstalent.

Werdegang
Julie Glaser ließ sich nicht an einem christlichen Krankenhaus ausbilden, sondern ging nach Frankfurt am Main. Dort war 1893 der im Deutschen Kaiserreich erste Verein für jüdische Krankenpflegerinnen gegründet worden. Eine Taufe, die die Aufnahme in eine katholische oder evangelische Schwesternvereinigung ermöglicht hätte, kam für sie nicht in Frage. Warum Julie Glaser 1900 (vgl. Steppe 1997, S. 227) am Hospital der Israelitischen Gemeinde in der Königswarterstraße 26 („Königswarter Hospital“) nur eine verkürzte Schwesternausbildung absolvierte, ist unbekannt. Danach arbeitete sie weiterhin im Hospital sowie in der Privatpflege. 1911 stieg Julie Glaser zur Oberin des Israelitischen Krankenhauses Straßburg im Elsass (heute: Clinique Adassa, Alsace/ Frankreich) auf, dessen Pflegedienst der Frankfurter jüdische Schwesternverein übernommen hatte; ihr anfängliches Team bestand aus Operationsschwester Bertha Schönfeld und Narkoseschwester Rosa Spiero. Gewiss hatte sie Kontakt zu ihrem ältesten Bruder, dem Schiffsarzt Adolf Glaser, der 1914 in Straßburg mit erst 39 Jahren starb.

Kriegskrankenpflege
Zu Beginn des Ersten Weltkrieges im August 1914 verließen die Patientinnen und Patienten aus Furcht vor einer Besetzung durch französische Truppen das Israelitische Krankenhaus Straßburg. Anders Oberin Julie Glaser und ihr Schwesternteam – Blondine Brück, Jenny Cahn, Gertrud Glaser, Ricka Levy, Bella Peritz und Rahel (Recha) Wieseneck – die sich den Militärbehörden sofort für die Verwundetenpflege zur Verfügung stellten. Vom jüdischen Spital wechselte Julie Glaser als Lazarett-Oberin in das Festungslazarett XXII B, einem ehemaligen Lyzeum. Von dort aus organisierte sie die Kriegskrankenpflege: „Dieses Lazarett in Straßburg wird bald zum hauptsächlichen Gefangenenlazarett für Verwundete aus Frankreich, Russland, Italien, Rumänien, England und Amerika und besteht bis November 1918“ (Steppe 1997, S. 217). Hierzu notierte Julie Glaser: „Es wurde fieberhaft gearbeitet, operiert und verbunden, durchschnittlich blieben uns nur vier bis fünf Stunden Schlaf. […] Im Operationssaal konnte man beim Verbinden die interessantesten Völkerstudien machen […]“ (zit. n. Rechenschaftsbericht 1920, S. 39). Im November 1918 kehrte sie zusammen mit ihren getreuen Mitstreiterinnen in das Frankfurter jüdische Krankenhaus zurück.

Würdigung
Um 1925 folgte Julie Glaser der pensionierten Minna Hirsch als Oberin des Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde Frankfurt (Wolff 2001, S. 100); ihre Kollegin Sara Adelsheimer wurde Oberin der Schwesternschaft des Frankfurter Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen. Nach Sara Adelsheimers Emigration während der NS-Zeit leitete Oberin Julie Glaser auch das Schwesternhaus. Am Frankfurter jüdischen Krankenhaus zählte sie zu den dienstältesten Pflegenden. Auch aufgrund ihrer leitenden Stellung und der damit verbundenen Mitgestaltung der Pflege sind ihre Biographie und die institutionelle Geschichte des Krankenhauses eng miteinander verbunden; dessen nationalsozialistische Zwangsschließung im Herbst 1942 erlebte sie nicht mehr. Zwei Jahre zuvor hatte Julie Glaser anlässlich ihres 40-jährigen Berufsjubiläums im Jüdischen Nachrichtenblatt noch folgende Würdigung erfahren: „Am 15. August 1900 begann „Schwester Julie“, jetzt seit vielen Jahren schon die verehrte Frau Oberin Julie Sara [sic!] Glaser des Krankenhauses der Jüdischen Gemeinde und Oberin des Schwesternhauses, aus dem sie selbst einst als junge Schwester hervorgegangen ist, ihren Dienst als Krankenschwester. Seit vierzig Jahren steht sie nun im Dienst, und in diesem seit vielen Jahren an führenden und leitenden Stellen. Sie hat im Schwesternhaus unzählige junge Schwestern in die Pflichten und Kenntnisse der Krankenschwester eingeführt und sie zu der gleichen hohen und ernsten Auffassung dieses Berufs hingeleitet, die in ihr selbst lebt“ (Wertheimer 1940). Der Beitrag stammt von der Frankfurter jüdischen Pädagogin und Autorin Dr. Martha Wertheimer (geb. 1890); sie wurde 1942 in das Vernichtungslager Sobibor deportiert.

NS-Zeit und Deportation
Die antisemitische Verfolgung in der NS-Zeit gefährdete zunehmend Emma Glasers freiberufliche Existenz als Dentistin in Würzburg. 1934 verließ sie ihre Geburtsstadt und zog zu Julie Glaser nach Frankfurt, deren Stellung zunächst gesichert war. Wann Cilli Glaser, die in München vermutlich von einer nichtjüdischen Arbeitsstelle vertrieben worden war, in Frankfurt eintraf, ist noch ungeklärt. Sie kam als Büroangestellte im Frankfurter jüdischen Krankenhaus unter. Die drei Schwestern waren wieder vereint und konnten einander beistehen; zu einer Emigration kam es nicht. 1941 – dem Jahr ihrer Deportation – wohnten Julie, Emma und Cilli Glaser im Gärtnerweg 55. Am 19./20. Oktober 1941 wurden sie laut Transportliste des Gestapobereiches Frankfurt am Main in das Ghetto Litzmannstadt (Lodz, Polen) deportiert. Im gleichen Transport befanden sich auch Kolleginnen Julie Glasers wie Ilse Frohmann. In der Hölle von Lodz verlieren sich ihre Lebensspuren; vielleicht traten die drei Schwestern gemeinsam ihren letzten Weg in ein Vernichtungslager an. Außer ihnen wurden 16 weitere Verwandte der Familie Glaser ermordet (Palme 2002, S. 186, Fn 100). Zum Zeitpunkt ihrer Deportation waren Julie Glaser 63, Emma Glaser 61 und Cilli Glaser 58 Jahre alt. Sie gehören zu den Opfern der Schoah, die keine direkten Nachkommen hinterließen und heute vergessen sind.

Judentum und Erinnerungsarbeit in Würzburg
Spätestens seit dem 12. Jahrhundert lebten Jüdinnen und Juden in Würzburg. Eine traditionsreiche jüdische Gemeinde entstand, der Persönlichkeiten wie Rabbiner Seligmann Bär Bamberger (Urgroßvater des Sozialphilosophen Erich Fromm), der Psychoanalytiker William G. Niederland, der Lyriker Yehuda Amichai oder die junge Dichterin Marianne Dora Rein entstammten. Nach der Schoah konnte sich in Julie Glasers Geburtsstadt wieder eine vielfältig aktive jüdische Synagogengemeinde entwickeln. Sie wurde von 21 überlebenden Rückkehrern aus Theresienstadt und 38 Verschleppten aus anderen europäischen Ländern („Displaced Persons“) ins Leben gerufen. Dank der jüdischen Migration aus Osteuropa in den 1990er Jahren gehören ihr inzwischen etwa 1.100 Mitglieder an (Stand 2008). 1970 wurde die neue Würzburger Synagoge eröffnet. Ein weiterer Meilenstein bedeutete am 23. Oktober 2006 (1. Cheschwan 5767) die Einweihung des modernen Gemeinde- und Kulturzentrums „Shalom Europa“. Die Homepage www.shalomeuropa.de der Israelitischen Gemeinde Würzburg und Unterfranken informiert umfassend über die Würzburger jüdische Geschichte; die Biographische Datenbank Jüdisches Unterfranken macht zahlreiche Namen, biografische Daten und auch Fotos zugänglich. Erinnerungsarbeit leisten auch die Gedenkinitiative „Stolpersteine“, die „Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Würzburg und Unterfranken e.V.“ sowie auf publizistischem Gebiet der Journalist Roland Flade. In einem zweibändigen biographischen Handbuch des Stadtarchivs Würzburg (vgl. Strätz 1989) wurden viele Informationen zu jüdischen Würzburgerinnen und Würzburgern zusammengetragen. So ließ sich auch über Julie Glaser und ihre Familiengeschichte einiges in Erfahrung bringen.

Birgit Seemann, 2010, aktualisiert 2018

Ungedruckte Quellen


Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden: Entschädigungsakte Abt. 518 Nr. 8914

Literatur und Links (Abfrage v. 23.10.2017)


Alicke, Klaus-Dieter 2008: Lexikon der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum. 3 Bde [Bd. 3 mit Würzburg] Gütersloh

Andernacht, Dietrich/ Sterling, Eleonore (Bearb.) 1963: Dokumente zur Geschichte der Frankfurter Juden 1933–1945. Hg. von d. Kommission zur Erforschung der Geschichte der Frankfurter Juden. Frankfurt/M.

Daxelmüller, Christoph/ Flade, Roland 2005: Ruth hat auf einer schwarzen Flöte gespielt. Geschichte, Alltag und Kultur der Juden in Würzburg. Hg. v. Klaus M. Höynck. Würzburg

Feldmann, Gustav 1901: Jüdische Krankenpflegerinnen. Kassel

Kingreen, Monica 1999: Gewaltsam verschleppt aus Frankfurt. Die Deportationen der Juden in den Jahren 1941-1945. In: dies. (Hg.): „Nach der Kristallnacht“. Jüdisches Leben und antijüdische Politik in Frankfurt am Main 1938 – 1945. Frankfurt/M., S. 357-402

Leimkugel, Frank 1999: Wege jüdischer Apotheker. Emanzipation, Emigration, Restitution. Die Geschichte deutscher und österreichisch-ungarischer Pharmazeuten. 2., erw. Aufl. Eschborn

Löw, Andrea 2006: Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten. Göttingen = Schriftenreihe zur Lodzer Getto-Chronik

Loewy, Hanno/ Schoenberner, Gerhard (Red.) 1990: Das Getto in Lodz. 1940 – 1944. [Ausstellungskatalog in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Yad Vashem.] Hg.: Jüdisches Museum der Stadt Frankfurt am Main. Wien

Palme, Peter 2002: Kate Diehn-Bitt. 1900-1978. Leben und Werk. Berlin

Seemann, Birgit 2018: Glaser, Julie (1878–1941). In: Kolling, Hubert (Hg.): Biographisches Lexikon zur Pflegegeschichte. Band 8. Nidda, S. 80-82

Steppe, Hilde 1997: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre …“. Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt/M.

Strätz, Reiner 1989: Biographisches Handbuch Würzburger Juden. 1900 – 1945. Mit einer wissenschaftlichen Einleitung von Herbert A. Strauss. Würzburg, 2 Teilbände

Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1920: Rechenschaftsbericht für die Jahre 1913 bis 1919. Frankfurt/M. (zitiert als Rechenschaftsbericht).

Wertheimer, Martha 1940: 40 Jahre Krankenschwester. In: Jüdisches Nachrichtenblatt. Ausg. Berlin, 1940, Nr. 66 (16.08.1940), S. 4, Sp. c, online abrufbar unter: http://www.digitalisiertedrucke.de/record/84252

Wolff, Horst-Peter (Hg.) 2001: Biographisches Lexikon zur Pflegegeschichte. Who was who in nursing history. Bd. 2. Unter Mitarb. v. Gabriele Dorffner [u.a.]. München

Links


Biographische Datenbank Jüdisches Unterfranken: Jüdisches Leben in Unterfranken – Biographische Datenbank e.V.: https://juedisches-unterfranken.de/

Bundesarchiv Koblenz: Online-Gedenkbuch: Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945: www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/directory.html

Clinique Adassa (Israelitisches Krankenhaus Straßburg ): https://www.clinique-rhena.fr/fr (Rhéna Clinique de Strasbourg)

Gedenkstätte Yad Vashem, Jerusalem: The Central Database of Shoah Victims´ Names: www.yadvashem.org

Ghetto Lodz / Litzmannstadt: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/zweiter-weltkrieg/holocaust/lodz

Israelitische Gemeinde Würzburg: www.shalomeuropa.de

Leo Glaser: www.juden-in-rostock.de

Museum Judengasse / Jüdisches Museum Frankfurt am Main: Datenbank Gedenkstätte Neuer Börneplatz: http://juedischesmuseum.de [Datenbank nur im Museum abrufbar, Stand 09.01.2012]

„Stolpersteine“ (Gedenkinitiative): www.stolpersteine.com; www.stolpersteine-frankfurt.de; www.stolpersteine-wuerzburg.de

Feuchtwangen (Landkreis Ansbach) / Jüdische Geschichte / Betsaal/Synagoge: www.alemannia-judaica.de/feuchtwangen_synagoge.htm

Rothenburg ob der Tauber (Landkreis Ansbach) – Jüdische Geschichte im 19./20. Jahrhundert / Synagoge: www.alemannia-judaica.de/rothenburg_synagoge_n.htm

Thüngen (Markt Thüngen, Main-Spessart-Kreis) – Jüdische Geschichte / Synagoge: www.alemannia-judaica.de/thuengen_synagoge.htm

Frankfurter jüdische Krankenschwestern und ihre Verbindungen nach Würzburg und Unterfranken

Fotografie: Schwesternhaus des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main / Speiseraum des Schwesternhauses in der Bornheimer Landwehr 85, Frankfurt am Main
Schwesternhaus des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main / Speiseraum des Schwesternhauses in der Bornheimer Landwehr 85, Frankfurt am Main
Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main, Rechenschaftsbericht für die Jahre 1913 bis 1919, Frankfurt am Main 1920, S. 48f

Die vorbildliche Pflegeausbildung im Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main zog junge jüdische Frauen aus ganz Deutschland an. Im Frankfurter jüdischen Schwesternhaus wurden unterschiedliche Dialekte gesprochen: So traf, etwa bei den gemeinsamen Mahlzeiten im Speiseraum, die Rheinländerin auf die Hanseatin, die Badenerin auf die Ostfriesin, die Ostpreußin auf die Bayerin.

Der Artikel widmet sich im ersten Teil Biographien von Krankenschwestern mit Bezügen zu Bayern, hier dem südlich an Hessen grenzenden Regierungsbezirk Unterfranken, der stark katholisch geprägt war. Dort lebten bis zu den Zerstörungen der Shoa zahlreiche alteingesessene jüdische Landgemeinden (vgl. Shalom Europa). Der zweite Teil enthält Hinweise auf die noch weiter zu erforschende jüdische Pflegegeschichte der unterfränkischen Metropole Würzburg.

Teil 1: Jüdische Pflegende zwischen Frankfurt am Main und Unterfranken

Ansicht: Franken - Würzburg, Ansicht / Würzburg (Herkunftsort Frankfurter jüdischer Krankenschwestern), Ansicht mit alter Mainbrücke, um 1890 bis 1900
Franken – Würzburg, Ansicht / Würzburg (Herkunftsort Frankfurter jüdischer Krankenschwestern), Ansicht mit alter Mainbrücke, um 1890 bis 1900
Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C. 20540 USA, Digital ID (digital file from original): ppmsca 00123

Die genaue Zahl der aus Würzburg und Unterfranken stammenden Mitglieder des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main lässt sich nicht mehr ermitteln. Namentlich recherchiert werden konnten außer Julie Glaser – der 1900 im Frankfurter jüdischen Schwesternverein ausgebildeten Oberin des Israelitischen Krankenhauses Straßburg und des Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde Frankfurt – unter anderem (geordnet nach dem Geburtsjahr):

Über ihre unterfränkisch-jüdische Familienherkunft mit dem Friedensnobelpreisträger und früheren US-Außenminister Henry Kissinger verwandt sind Beate Blaut (geb. 1909 als Berta Fromm in Nördlingen – emigriert nach Palästina/Israel) und ihre Cousine Luise Blättner (1920 Schwanfeld bei Schweinfurt – 1943 deportiert nach Auschwitz). Erwähnt sei, wenngleich kein Mitglied des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins, auch Sophie Sondhelm (1887 Kleinlangheim bei Kitzingen am Main, 1944 deportiert nach Auschwitz): Sie war die letzte Leiterin des von Bertha Pappenheim gegründeten Heims des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg (Kreis Offenbach am Main). Im Folgenden werden fünf Frankfurter jüdische Krankenschwestern mit Verbindungen nach Würzburg und Unterfranken vorgestellt, über die biographisch Näheres bekannt ist.

Selma Frank (Jahrgang 1880), eine Metzgerstochter aus Heidingsfeld
Obwohl sie aus einem gutsituierten Geschäftshaushalt stammte und berufstätige Frauen um die Jahrhundertwende noch längst nicht selbstverständlich waren, ging die junge Selma Frank von Würzburg nach Frankfurt am Main, um dort Krankenschwester zu lernen. 1899 schloss sie ihre Pflegeausbildung im Frankfurter jüdischen Schwesternverein erfolgreich ab. Eingesetzt wurde sie im „Königswarter Hospital„, dem Vorläufer des Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde in der Gagernstraße. Vermutlich war sie, wie es dem Konzept des Vorstands des Schwesternvereins entsprach, auch in der Privatpflege tätig, um möglichst vielseitige berufliche Erfahrungen zu sammeln (vgl. JüdSchwVerein Ffm 1900, Siebenter Jahresbericht, S. 5).
Selma (Sara) Frank entstammte der unterfränkisch-jüdischen Metzgersfamilie Frankenfelder, die Verwandtschafts- und vermutlich auch Geschäftsbeziehungen in die Messestadt Frankfurt unterhielt. Geboren wurde sie am 1. Januar 1880 in Heidingsfeld (heute Ortsteil von Würzburg). Das frühere Dorf kann auf eine beachtliche jüdische Geschichte zurückblicken, da sich dort das Oberrabbinat befand; infolge antisemitischer Vertreibungen aus größeren Städten war Heidingsfeld sogar für längere Zeit das jüdische Zentrum Unterfrankens (vgl. Alicke Bd. 2: 1805-1807; Alemannia Judaica Heidingsfeld). Die von der jüdischen Gemeinde erbaute „imposante Synagoge im Barockstil“ (Alicke Bd. 2: 1806) steckten 1938 die Täter des NS-Novemberpogroms in Brand. Ebenso wurde der jüdische Friedhof geschändet, wo auch viele jüdische Würzburgerinnen und Würzburger beerdigt lagen.

1905 heiratete Selma Frank den 1876 in Gestorf (Niedersachsen) geborenen Kaufmann Adolf Frank und gab den Pflegeberuf auf. Mit ihrem Ehemann zog sie zurück nach Würzburg, wo sich Adolf Frank, anfangs Geschäftsführer und Buchhalter, mit einem Warenagenturgeschäft für Getreide-, Mehl- und Futtermittel selbständig machte. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er vereidigter Handelsmakler und Sachverständiger der Industrie- und Handelskammer Würzburg. Das Ehepaar blieb kinderlos. Selma Franks fortdauernde Bindung an die Frankfurter jüdische Schwesternschaft zeigt sich darin, dass sie zu Beginn des Ersten Weltkriegs unverzüglich nach Frankfurt zurückkehrte und sich im Schwesternhaus freiwillig für die Verwundetenpflege meldete (vgl. JüdSchwVerein Ffm 1920: 34). Adolf Frank diente bis zu seiner Verwundung 1916 als Gefreiter, ebenso setzten Selma Franks Brüder Adolf, Alfred, Emil und Raphael Frankenfelder an der Front ihr Leben für Deutschland ein – patriotische Verdienste, die nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 nichts mehr galten.

Am 23. September 1942 wurde Selma Frank zusammen mit ihrem Ehemann und ihrer älteren Schwester Rosa Freudenberger (geb. 1874) – der Witwe des jüdischen Sozialdemokraten und Buchhändlers Felix Freudenberger, nach ihm ist in Würzburg der Felix-Freudenberger-Platz benannt – nach Theresienstadt deportiert. Dort erlag Adolf Frank am 11. April 1943 den menschenfeindlichen Lagerbedingungen. Selma Frank und Rosa Freudenberger wurden am 18. Mai 1944 in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Gleich nach der Ankunft wurden die beiden Schwestern – 64 und 70 Jahre alt – mit hoher Wahrscheinlichkeit ermordet. Zum Gedenken an die drei Opfer der Shoa wurden in Würzburg Stolpersteine verlegt (vgl. Würzburger Stolpersteine).

Sophie Landsberg (Jahrgang 1920) – zuletzt Schwester im Würzburger jüdischen Krankenhaus
Sophie Landsberg (auch: Sofie, Henni, Sonny) stammte aus Ostfriesland: Dort kam sie am 8. April 1920 in der Stadt Leer (Bundesland Niedersachsen) als Tochter des Viehhändlers und Arbeiters Siegfried Simon Landsberg (geb. 1883 in Lübeck) und seiner Frau Recha geb. Dreyfuss (geb. 1894 in Baden-Baden) zur Welt. Sie zog um 1939 nach Frankfurt und pflegte im Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung. Infolge der NS-Zwangsauflösung der orthodox-jüdischen Klinik musste sie am 7. Mai 1941 zusammen mit den Patienten und Patientinnen und ihren Kolleginnen und Kollegen in das letzte Frankfurter jüdische Krankenhaus Gagernstraße umziehen. Am 3. Juni 1941 verließ sie Frankfurt in Richtung Würzburg: Auf Antrag der Israelitischen Kranken- und Pfründnerhausstiftung sollte sie im Würzburger jüdischen Krankenhaus (Dürerstraße) als Kranken- und Operationsschwester die bis dahin dort tätigen katholischen Ordensschwestern ersetzen (vgl. Biographische Datenbank jüdisches Unterfranken); die Nonnen hatten ihren Dienst auf Druck des NS-Regimes aufgegeben, das sie, sofern sie nicht jüdischer Herkunft waren, als ‚Arierinnen‘ einstufte, die keine Juden pflegen durften (vgl. Konrad 2011). Bei den bald folgenden Deportationen (vgl. http://wuerzburgwiki.de/wiki/Judendeportation, siehe auch Ries/ Schwinger 2015) wurde Sophie Landsberg am 23. September 1942 – im gleichen Transport wie ihre Frankfurter Kollegin Selma Frank – von der Dürerstraße 20 nach Theresienstadt verschleppt.

Dokument: Landsberg, Sophie (Dep.liste 1942) / Sophie Landsberg, Deportationsliste Würzburg – Regensburg nach Theresienstadt (Abfahrt: 23.09.1942, Deportierte: 681)
Landsberg, Sophie (Dep.liste 1942) / Sophie Landsberg, Deportationsliste Würzburg – Regensburg nach Theresienstadt (Abfahrt: 23.09.1942, Deportierte: 681
Freier, Thomas 2015: Statistik und Deportation der jüdischen Bevölkerung aus dem Deutschen Reich, http://www.statistik-des-holocaust.de

In diesem Transport befanden sich außer Ärzten, Pflegenden, Angestellten, Patientinnen/Patienten und weiteren Bewohnerinnen und Bewohnern des Würzburger jüdischen Krankenhauses viele ältere Menschen: „Am 23.9.42 wurden mit der Verschleppung von noch einmal 681 Menschen die Deportationen älterer Juden aus Bayern vorläufig zum Abschluss gebracht. In diesem Transport wurden die verbliebenen 562 Juden aus Mainfranken nach Theresienstadt verschickt, davon allein 491 aus Würzburg. Dazu kam eine Person aus Bamberg. Aus dem bisher von den sogenannten Alterstransporten verschonten Regensburg wurden dem Würzburger Zug bei einem Aufenthalt in Hof 117 Menschen angeschlossen“ (zit. n. Freier 2015). Der Transport (II/26, 681) erreichte Theresienstadt am 24. September 1942. Am 5. Oktober 1943 wurde Sophie Landsberg in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort mit hoher Wahrscheinlichkeit ermordet, ebenso ihre aus Berlin deportierten Eltern und jüngeren Geschwister Friederike (geb. 1922) und Kurt Landsberg (geb. 1925).

Aus Liesel Schwab wurde Lee Marcus (Jahrgang 1920)
Liselotte „Liesel“ Schwab wurde am 7. August 1920 in Frankfurt am Main geboren. 1922 adoptierten entfernte Verwandte, das Kaufmannsehepaar Hilda geb. Glaser (geb. 1896 in Berlin) und Iwan Schwab (geb. 1889 in Neustadt a.d. Aisch) (vgl. Würzburger Stolpersteine) die kleine Liesel. Sie wuchs in Neustadt an der Aisch (Regierungsbezirk Mittelfranken, Bayern) und seit 1932 in Würzburg auf. Dort besuchte sie die Sophienschule, eine private höhere Lehranstalt für Mädchen, und schloss sich dem Jüdischen Jugendbund Würzburg an. Mit dem Ziel der Emigration und weil es in Würzburg keinen jüdischen Schwesternverein mehr gab, kehrte Liesel Schwab im Mai 1938 zur Pflegeausbildung in ihre Geburtsstadt Frankfurt zurück. Dort war sie bis zu ihrer Ausreise am 2. August 1939 nach London im jüdischen Schwesternhaus gemeldet. Ihre Adoptiveltern sah sie nie wieder: Hilda und Iwan Schwabs Flucht aus Nazideutschland scheiterte; beide wurden nach Auschwitz deportiert und am 1. September 1943 ermordet. Nach Kriegsende kehrte Liesel Schwab nicht mehr in das ‚Land der Täter‘ zurück. Sie verließ London, heiratete und baute sich im New Yorker Exil als Lee Marcus eine neue Existenz auf (vgl. Biographische Datenbank jüdisches Unterfranken).

Fanny Ansbacher (Jahrgang 1921): aus orthodox-jüdischer Familie
Wie Liesel Schwab hoffte auch die am 11. Mai 1921 in Würzburg geborene Fanny Ansbacher, dass eine Pflegeausbildung Wege in die Emigration ermöglichte. Sie stammte aus einer sozial engagierten orthodox-jüdischen Würzburger Familie: Ihr Vater Simon Ansbacher (geb. 1885 in Würzburg), von Beruf Weinhändler, gehörte zu den Stützen der Würzburger jüdischen Gemeinde, unter anderem als langjähriges Vorstandsmitglied der Chewra Kadischa (Israelitische Beerdigungsbruderschaft) und Verwaltungsmitglied der Stiftung des Israelitischen Kranken- und Pfründnerhauses. Ende der 1930er Jahre wurde er in den Vorstand der sich unter der NS-Verfolgung bereits auflösenden Israelitischen Kultusgemeinde Würzburg gewählt. Die Mutter Selma Shulamit geb. Obermeyer (geb. 1892 in Neulengbach, Niederösterreich) betätigte sich in der ehrenamtlichen Krankenpflege (Bikkur Cholim und sorgte für jüdische Studenten und Seminaristen. Fanny Ansbachers Großvater Jakob Obermeyer war ein namhafter Orientalist, der als Professor für semitische Sprachen und Literatur in Wien lehrte und zuletzt in Würzburg lebte (vgl. Alemannia Judaica Steinhart).

Mit ihren drei Geschwistern Jonas (Jona) (geb. 1920), Rebekka (geb. 1922) und Nathan (geb. 1925) wuchs Fanny Ansbacher in Würzburg auf. Nach dem siebenjährigen Besuch der jüdischen Volksschule schrieb sie sich – wie ihr um ein Jahr älterer Bruder Jonas – zunächst in der angesehenen Israelitischen Lehrerbildungsanstalt ein. Der rassistisch-antisemitische NS-Staat grenzte Jugendliche jüdischer Herkunft systematisch aus den Ausbildungs- und Berufsgängen aus und separierte sie von ihren nichtjüdischen Altersgenossen. Die Hachschara-Bewegung, der sich Fanny Ansbacher anschloss, bereitete in eigenen Ausbildungsstätten antisemitisch verfolgte junge Menschen auf ihre Alija, die ‚Rückkehr‘ in das ‚Gelobte Land‘ Israel, vor. Dazu gehörten das Erlernen der hebräischen Sprache sowie handwerkliche und landwirtschaftliche Trainings. 1937/38 begab sich Fanny Ansbacher zur Hachschara nach Hamburg und Halberstadt, wo sie wieder mit ihrem Bruder Jonas zusammentraf. Mit einem Touristenvisum gelang Jonas Ansbacher im September 1938 die schwierige Einreise in das britisch kontrollierte Mandatsgebiet Palästina. Seine Schwester, die kein Zertifikat für Palästina erhielt, musste er in Nazideutschland zurücklassen.
Fanny Ansbachers nächste Station war Frankfurt, wohin verwandtschaftliche Beziehungen bestanden: Ihr Onkel Josef war mit Recha, der Tochter und Schwester der beiden langjährigen Chefärzte des orthodox-jüdischen Frankfurter Rothschild’schen Hospitals, Geheimer Sanitätsrat Dr. Elieser Rosenbaum und Dr. Sally Rosenbaum, verheiratet; der spätere Rabbiner Jehuda Leo Ansbacher war ihr Cousin. Von Mai 1940 bis Februar 1941 gehörte Fanny Ansbacher als Lehrschwester zum Personal des Rothschild’schen Hospitals (in dieser Zeit geleitet von Dr. Franz Grossmann). Danach finden sich ihre Spuren in Berlin wieder, wo sie Zwangsarbeit bei den Siemens-Werken leistete und mit anderen jungen Jüdinnen in einem Gemeinschaftslager hauste. Von Berlin wurde sie am 3. März 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Dort konnte Fanny Ansbacher zunächst als Krankenpflegerin im Krankenrevier Birkenau überleben, erlag jedoch noch im gleichen Jahr den Folgen von Typhus, Hunger und medizinischer Unterversorgung. Bereits 1942 waren ihr Vater Simon Ansbacher über das Sammellager Drancy (Frankreich) und ihre Mutter Selma Ansbacher mit den jüngeren Geschwistern Rebekka und Nathan Ansbacher über das SS-Sammellager Malines/Mechelen (Belgien) nach Auschwitz deportiert worden. Jonas Ansbacher, der gerade noch rechtzeitig das rettende Palästina erreicht hatte, überlebte als einziger seiner Familie die Shoa (vgl. Biographische Datenbank jüdisches Unterfranken).

Fotografie: Neuberger, Erna / Erna Neuberger, undatiert (um 1940)
Neuberger, Erna / Erna Neuberger, undatiert (um 1940)
© Credit of Yad Vashem, Jerusalem

Erna Neuberger (Jahrgang 1921), Kinderkrankenschwester
Für kurze Zeit gehörte auch die Kinderkrankenschwester Erna (Esther) Neuberger zum Pflegeteam des Rothschild’schen Hospitals und möglicherweise auch des angrenzenden Rothschild’schen Kinderhospitals. Sie kam am 6. Juli 1921 als Tochter von Meta geb. Fröhlich (geb. 1891) und Adolf Neuberger (geb. 1876) in Arnstein zur Welt; das unweit von Würzburg und Schweinfurt im bayerisch-unterfränkischen Main-Spessart-Kreis gelegene Städtchen gehörte zum Distriktsrabbinat der unterfränkischen Industriestadt Schweinfurt (vgl. Alicke 2008, Bd. 1: 149-151 u. Bd. 3: 3756-3762) sowie ders. 2014; Alemannia Judaica Arnstein und Schweinfurt; Förderkreis „Alte Synagoge Arnstein“ e.V.).
Erna Neuberger besuchte die Arnsteiner Volksschule und danach bis 1935 die Handelsschule in Schweinfurt. Dort wohnte sie bei der Familie des mit ihren Eltern befreundeten Bezirksrabbiners Dr. Max Köhler (1899 Kassel – 1987 Jerusalem) und seiner Frau Anna (gest. 1937). Spätestens nach dem Erlass (1935) der „Nürnberger Rassegesetze“ plante Erna Neuberger die Emigration nach Palästina. Von 1936 bis 1938 absolvierte sie die Hachschara in Darmstadt und Hamburg (Lehrlingsschule für jüdische Schülerinnen und Schüler), blieb aber zunächst in Deutschland. Noch vor dem Novemberpogrom traf sie 1938 in Frankfurt ein, wohin inzwischen ihre Eltern gezogen waren. Nach ihrer Tätigkeit in den Rothschild’schen Spitälern arbeitete Erna Neuberger seit 1939 als Kinderschwester im Kinderhaus der Weiblichen Fürsorge e. V., wo sie auch wohnte (vgl. Mahnkopp 2018). Das Kinderhaus leitete die im Frankfurter jüdischen Schwesternverein ausgebildete Oberin Frieda Amram, bis sie 1942 verhaftet und in das Frauen-KZ Ravensbrück eingewiesen wurde. Zusammen mit Oberin Amrams betagter Mutter Julie Amram, deren zweiter Tochter Goldina und dem Schwiegersohn Seligmann Hirschberg, noch im Kinderhaus verbliebenen Kolleginnen, darunter Fanny Neugass, und ihren kleinen Schützlingen wurde Erna Neuberger am 15. September 1942 nach Theresienstadt verschleppt. Am 5. Oktober 1943 wurde sie in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort mit hoher Wahrscheinlichkeit ermordet; das Todesdatum wurde behördlich auf den 31. Dezember 1945 festgesetzt. Erna Neubergers Eltern und ihre beiden jüngeren Geschwister Helma Leiner (geb. 1924) und Fritz (Fred) Neuberger (geb. 1926) überlebten die Shoa; der Vater Adolf Neuberger verstarb 1947 im US-amerikanischen Exil.

Teil 2: Blick auf Würzburg und seine jüdische Pflegegeschichte
Was die einzelnen Städte, Regionen und Bundesländer anbetrifft, harrt die vom Nationalsozialismus vernichtete berufliche jüdische Krankenpflege – mit Ausnahme von Frankfurt am Main – noch immer der systematischen Aufarbeitung und Erinnerungsarbeit. Für Nordbayern liegt ein bereits 1996 veröffentlichter Aufsatz zur Geschichte jüdischer Pflegevereine im fränkischen Raum vor (vgl. Ledermann/ Wolff 1996). Nach den NS-Zerstörungen erweist sich die Quellenlage zu deutsch-jüdischen Schwesternvereinen und -stationen – so Hilde Steppes Befund in ihrem pflegehistorischen Standardwerk (vgl. Steppe 1997) – insgesamt als heterogen und lückenhaft (dies. 1997a: 102, Fn 112). Dieser Forschungsstand trifft auch auf Würzburgs jüdische Pflegegeschichte zu.

Institutionen der jüdischen Kranken- und Altenpflege in Würzburg
Bis zur Shoa befanden sich in Würzburg wichtige jüdische Institutionen der Pflege (vgl. Flade 1996: 149-156). Deren Einzugsbereich umfasste den Regierungsbezirk Unterfranken und teilweise ganz Bayern. Im April 1885 wurde in der Dürerstraße das Krankenhaus der Israelitischen Kranken- und Pfründnerhausstiftung eröffnet, wo noch im gleichen Jahr 33 und 1897 bereits 117 Kranke betreut wurden. Der Klinik wurde 1891 ein Pfründnerhaus mit 32 Plätzen für Seniorinnen und Senioren ab dem 60. Lebensjahr, so genannten Pfründnerinnen und Pfründnern, angeschlossen, die sich mittels eines Legats eine dauernde Unterkunft und Pflege sicherten. Das Israelitische Kranken- und Pfründnerhaus Würzburg wurde als streng koschere Einrichtung geführt. Allerdings pflegten dort keine jüdischen Krankenschwestern, sondern von 1912 bis zum NS-Verbot 1942 die katholischen Ritaschwestern (vgl. Konrad 2011). Mit Krankenhaus und Altersheim eng verbunden war das im Mai 1930 eingeweihte Israelitische Landesheim für Kranke und Sieche (zwischen Dürerstraße und Valentin-Becker-Straße), getragen von der Würzburger Israelitischen Kranken- und Pfründnerstiftung und vom Verband Bayerischer Israelitischer Gemeinden. Das Landesheim nahm jüdische Betagte und Pflegebedürftige aus ganz Bayern auf. Als die NS-Machtübernahme jüngere Verfolgte in die Flucht trieb und viele ältere Menschen zurückblieben, gründete die Stiftung im November 1934 ein weiteres Israelitisches Altersheim (Konradstraße) mit 50 Plätzen.

Der Verein israelitischer Krankenschwestern Würzburg
Die raren Informationen über den am 1. April 1914 gegründeten Verein israelitischer Krankenschwestern Würzburg recherchierte der Historiker Roland Flade (vgl. ders. 1985). Initiatorin war von Berlin aus die kleine jüdische Schwesternvereine fördernde jüdische Organisation Großloge Bne Briss (heute: B’nai B’rith, siehe Eintrag Frankfurt-Loge) für Deutschland zusammen mit der Frankenloge Bne Briss zu Würzburg. Zahlreiche Spenden aus der Würzburger jüdischen Gemeinde ermöglichten die Anmietung einer Wohnung in der Amalienstraße 3, wo eine Oberschwester und zwei weitere Schwestern einzogen. Die Wohnung war Pflegestation für die in der Regel unentgeltliche Versorgung jüdischer Patientinnen und Patienten; auch christliche Kranke wurden behandelt, etwa bei der mobilen Pflege (Hausbesuche) in Würzburg und den ländlichen Gemeinden Unterfrankens.

Große Verdienste um die Professionalisierung der Würzburger jüdischen Krankenpflege erwarb sich als langjähriger ehrenamtlicher Leiter der Pflegeausbildung Sanitätsrat Dr. med. Nathan Riesenfeld (1867–1930), sozial engagierter Arzt, Kommunalpolitiker und Mitglied der Frankenloge Bne Briss. Da das Israelitische Kranken- und Pfründnerhaus Würzburg über keine eigene Krankenpflegeschule verfügte, schickte der Verein seine Schülerinnen in das jüdische Krankenhaus Berlin; für Ausbildung, Kost und Logis kam die Großloge Bne Briss Deutschland auf. Wohl deshalb wurden die ‚Würzburgerinnen‘ nicht im viel näheren Frankfurter jüdischen Schwesternverein ausgebildet. 1930 zog der Würzburger Schwesternverein in das Israelitische Landesheim für Kranke und Sieche. Zu diesem Zeitpunkt verfügte er offenbar nur noch über eine einzige Krankenschwester, vermutlich die langjährige Oberschwester Erna Jacobsohn (geb. 31.01.1900 in Osterode am Harz, Niedersachsen).

Die von Oded Zingher betreute Biographische Datenbank jüdisches Unterfranken enthält weitere Namen jüdischer Krankenschwestern, von welchen sich allerdings bislang weder Verbindungen zum Verein israelitischer Krankenschwestern Würzburg noch zum Verein für jüdische Krankenpflegerinnen Frankfurt am Main nachweisen lassen:

  • Fanny Hammelburger (geb. 1907 in Haßfurt, 1943 deportiert nach Auschwitz),
  • Karoline Keller, geb. Oppenheimer (1904 Würzburg – 1973 USA),
  • Edith Maier (1922 Würzburg – 1944 deportiert nach Auschwitz),
  • Hertha Mühlfelder (1914 Berlin – 1943 deportiert nach Auschwitz),
  • Susanne Schwab (1922 Würzburg – 1941 deportiert nach Riga/Lettland, ‚verschollen‘),
  • Hertha (Hella) Weil (1902 Ihringen/Baden – 1940 Flucht nach Montevideo/Uruguay).

Fanny Hammelburger, Edith Maier, Hertha Mühlfelder, Susanne Schwab, Hertha Weil und vermutlich auch Karoline Keller gehörten zeitweise zum Personal des 1942 NS-liquidierten Würzburger jüdischen Krankenhauses.

Die gut vernetzten Recherchen zum Judentum Würzburgs und Unterfrankens (vgl. Literatur/ Internetquellen) bilden eine hervorragende Basis für pflegehistorische Studien zu den Institutionen der Würzburger Israelitischen Kranken- und Pfründnerhausstiftung und ihren Biographien: Ärzte, Pflegende, Angestellte, Bewohnerinnen und Bewohner, Patientinnen und Patienten, von denen ab September 1942 viele in die Vernichtung deportiert wurden. Eine von ihnen war die zuletzt im Würzburger jüdischen Krankenhaus tätige Frankfurter Schwester Sophie Landsberg.

Für wichtige Hinweise dankt die Autorin Pfarrer Volker Mahnkopp (Frankfurt a.M.), Dr. Ingrid Heeg-Engelhart (Staatsarchiv Würzburg), Ingrid Rack (Stadtarchiv Würzburg) und Dr. Rotraud Ries (Johanna-Stahl-Zentrum, Würzburg).

Birgit Seemann, 2015, updated 2018

Literatur


Alicke, Klaus-Dieter 2008: Lexikon der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum, 3 Bände

Alicke, Klaus-Dieter 2014: Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum, http://www.jüdische-gemeinden.de [letzter Aufruf am 01.07.2015]

Daxelmüller, Christoph: Jüdisches Alltagsleben im 19. und 20. Jahrhundert am Beispiel Unterfrankens. In: Treml, Manfred/ Kirmeier, Josef (Hg.) 1988: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Aufsätze. Hg. unter Mitarbeit v. Evamaria Brockhoff. München: 287-298

Flade, Roland 1985: Schwesternheim. In: ders.: Juden in Würzburg 1918–1933. Würzburg: Freunde Mainfränkischer Kunst und Geschichte e.V., Schweinfurt: Historischer Verein Schweinfurt e.V.: 192-193

Flade, Roland 1996: Die Würzburger Juden. Ihre Geschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Mit e. Beitrag v. Ursula Gehring-Münzel. 2., erw. Aufl. Würzburg

Freier, Thomas 2015: Statistik und Deportation der jüdischen Bevölkerung aus dem Deutschen Reich: Würzburg – Regensburg nach Theresienstadt. Abfahrtsdatum: 23.09.42, Deportierte: 681, Ankunft: 24.09.42 (II/26, 681), http://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger_bay_420923.html [letzter Aufruf am 01.07.2015]

Hirsch, Josef 1919: Die Krankenschwesternorganisation und ihre Wandlung. In: UOBB (1919) 11/12: 138-140

JüdSchwVerein Ffm 1898-1911: Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main (Eingetragener Verein). Jahresberichte 1898-1911, Frankfurt a.M.

JüdSchwVerein Ffm 1920: Rechenschaftsbericht für die Jahre 1913 bis 1919 des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main. Frankfurt a.M.

Konrad, Irene 2011: Ritaschwestern sind Paten für drei Stolpersteine. Stolpersteinverlegung am 28. Juni 2011 in Würzburg, http://www.josefs-stift.de [letzter Aufruf am 01.07.2015]

Landkreis Würzburg (Hg.) 2013: Spuren jüdischer Geschichte in Stadt und Landkreis Würzburg. Ein Wegweiser für junge Leute. Landkreis Würzburg in Zusammenarbeit mit dem Partnerlandkreis Mateh Yehuda (Israel) und dem Kooperationsprojekt Landjudentum in Unterfranken: http://www.landjudentum-unterfranken.de/publikationen

Ledermann, Marita/ Wolff, Horst-Peter 1996: Zur Geschichte jüdischer Pflegevereine im fränkischen Raum. In: Beiträge zur Pflegegeschichte in Deutschland (Teil I). Heft 5 der Schriften aus dem Institut für Pflegegeschichte. Qualzow: Eigenverlag: 48-62

Mahnkopp, Volker 2018: Dokumentation zu vom NS-Staat verfolgten Personen im Frankfurter Kinderhaus der Weiblichen Fürsorge e. V. Hans-Thoma-Straße 24, erw. Fassung 2018, http://www.platz-der-vergessenen-kinder.de [letzter Aufruf am 19.11.2018]

Ries, Rotraud/ Schwinger, Elmar (Hg.) 2015: Deportationen und Erinnerungsprozesse in Unterfranken und an den Zielorten der Transporte. Würzburg

Steppe, Hilde 1997: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre …“. Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt a.M.

Steppe, Hilde 1997a: Organisationsformen und Institutionalisierung. In: dies. 1997: 90-127

Strätz, Reiner 1989: Biographisches Handbuch Würzburger Juden. 1900–1945. Mit e. wiss. Einleitung v. Herbert A. Strauss. 2 Teilbände. Würzburg

UOBB: Bericht der Großloge für Deutschland. Organ des 8. Distrikts U.O.B.B. Online-Ausg. 2014 [Teil-Digitalisierung der Jahrgänge]: Universitätsbibliothek J.C.R. Frankfurt a.M.: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:30:1-138615

Internetquellen (letzter Aufruf am 01.07.2015)


Alemannia Judaica Arnstein: http://www.alemannia-judaica.de/arnstein_synagoge.htm

Alemannia Judaica Steinhart (Hainsfarth): http://www.alemannia-judaica.de/steinhart_synagoge.htm

Alemannia Judaica Schweinfurt: http://www.alemannia-judaica.de/schweinfurt_synagoge.htm (unter Mitarbeit v. Elisabeth Böhrer)

Alemannia Judaica Würzburg: http://www.alemannia-judaica.de/wuerzburg_synagoge_a.htm

Alemannia Judaica Würzburg-Heidingsfeld: http://www.alemannia-judaica.de/heidingsfeld_synagoge.htm

Bayerische Staatsbibliothek: http://www.bavarikon.de

Biographische Datenbank jüdisches Unterfranken: https://juedisches-unterfranken.de

CAHJP: The Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem: http://cahjp.huji.ac.il

Geni: private genealogische Website: http://www.geni.com

Ellis Island: The Statue of Liberty – Ellis Island: http://www.libertyellisfoundation.org/passenger

Förderkreis Alte Synagoge Arnstein: http://www.alte-synagoge-arnstein.de

Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Würzburg und Unterfranken e.V.: http://christlich-juedische-wuerzburg.de

Historisches Unterfranken: Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Lehrstuhl für Fränkische Landesgeschichte: Internetportal „Historisches Unterfranken“: http://www.historisches-unterfranken.uni-wuerzburg.de

Johanna-Stahl-Zentrum für für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken: http://www.johanna-stahl-zentrum.de

Platz der vergessenen Kinder. Das Kinderhaus der Weiblichen Fürsorge e.V.: http://www.platz-der-vergessenen-kinder.de

Shalom Europa: Jüdische Gemeinde Würzburg und Unterfranken: Neues Jüdisches Gemeinde- und Kulturzentrum „Shalom Europa“, http://www.shalomeuropa.de

Wir wollen uns erinnern!: http://www.wir-wollen-uns-erinnern.de

Würzburger Stolpersteine: http://www.stolpersteine-wuerzburg.de

Yad Vashem: Gedenkstätte Yad Vashem (mit Datenbank): http://www.yadvashem.org