Verbreitung der Diphtherie vor 1945 in Deutschland und in Frankfurt am Main
Die durch Tröpfcheninfektion übertragene Diphtherie zählte im 19. Jahrhundert zu den „großen Killern“ bei Kindern (Süß 2003: 215). Gegen die epidemisch auftretende Krankheit entwickelte Emil von Behring einen Impfstoff, der jedoch zunächst teuer und unzuverlässig war. In den 1920er Jahren kam die letzte große Krankheitswelle in Schüben und in regionalen Epidemiezentren auftretend von Skandinavien nach Deutschland. 1926 erkrankten ca. 30.000, 1938 ca. 150.000 und 1943 ca. 300.000 Menschen. Der Zweite Weltkrieg begünstigte die Ausbreitung, da die Abwehrkräfte der Menschen geschwächt waren und viele Menschen sich in kleinen Räumen – wie in Luftschutzräumen – drängten.
In Frankfurt am Main kam es 1930 mit 783 und 1940 mit 1.703 Diphtheriepatienten zu Erkrankungsspitzen, wobei davon 1930 laut Statistik 50 und 1940 mindestens 64 Menschen starben. Der Hanauer Arzt Friedrich Blendin beschrieb 1948 verschiedene Faktoren, welche die Diphtherie in Frankfurt beeinflussten. Er stellte für die Verteilung nach Geschlechtern keinen großen Unterschied fest. Jahreszeitlich gesehen konnte Blendin einen deutlichen Anstieg der Fälle im Spätherbst und Winter registrieren, was durch stärkeres Zusammensein auf Grund der Kälte oder der stärkeren Virulenz der Erreger begründet sein konnte. Für die statistische Verteilung auf Altersgruppen stellte Blendin fest, dass in den Jahren 1925 bis 1927 die Kleinkinder zwischen 0 und 5 Jahren etwa ein Drittel der Krankheitsfälle ausmachten und damit den größten Anteil der Erkrankten stellten. Danach war die größte Krankheitsgruppe die der 5- bis 10-jährigen.
Isolation zur Bekämpfung der Diphtherie
Es gab unterschiedliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Seuchen, von denen die Isolation die Wichtigste war. Die Straßburger Wissenschaftler Ernst Levy und Sidney Wolf wiesen 1899 darauf hin, dass bereits in der Hebräischen Bibel die mosaische Gesetzgebung eine Isolierung bei Infektionskrankheiten vorsah. Robert Koch bezeichnete die Isolierung Kranker und krankheitsverdächtiger Personen in der Familie bzw. im Krankenhaus als die „beste und schärfste Waffe im Kampf gegen die ansteckenden Krankheiten“ (Süß 2003: 217). Rechtlich war eine Einweisung zur Isolation, die einen Eingriff in die persönliche Freiheit bedeutete, im Reichsseuchengesetz vom 30.6.1900 abgesichert worden.
Der Notwendigkeit der Isolation trug man in Frankfurt bei Neubauten im jüdischen Krankenhauswesen Rechnung. 1914 war das Hospital der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main in der Königswarter Straße zu klein geworden, so dass ein großer Krankenhauskomplex in der Gagernstraße neu erbaut wurde. Für die Patientinnen und Patienten gab es im neuen Krankenhaus ein eigenes Infektionsgebäude. Es war halbkreisförmig angeordnet, besaß eine vorgelagerte Liegehalle im Erdgeschoss und „verandenartige Tagräume“ (Hanauer 1914: 65) im oberen Geschoss der Liegehalle. Als Eingang war, getrennt für Ärzte und Patienten, eine Schleusenanlage eingerichtet worden. Jede der vier Abteilungen des Infektionsgebäudes hatte ein Schwesternzimmer mit besonderem Bad und weitere Nebenräume wie Teeküche, Toilette, Kindertoilette und Ausguss. Die Türen hatten Klappen, durch die man die Patienten beobachten konnte, ohne selbst die Räume betreten zu müssen. Die Wände waren mit Ölfarbe gestrichen oder gekalkt, um sie besser reinigen zu können. Die Schmutzwäsche konnte man über ein Röhrensystem direkt in Desinfektionslösung gleiten lassen. Ein kleines Labor gab es ebenfalls (vgl. Hanauer 1914).
Auch im Jahr 1914 errichtete der Frankfurter Verein für jüdische Krankenpflegerinnen neben dem Krankenhaus, in der Bornheimer Landwehr, ein neues Schwesternheim. Hier hatte man, um den besonderen Anforderungen der Isolation an das Pflegepersonal gerecht zu werden, zwei abgetrennte Zimmer eingerichtet. Sie waren mit jeweils eigenem Gaskochherd, Bad, Toilette und Haustelefon ausgestattet. So wurde die Ansteckungsgefahr gegenüber den anderen Schwestern eingedämmt, und die betreuenden Schwestern der Isolationsabteilung blieben in ihrem Arbeitsrhythmus ungestört.
Pflegesituation
Der Tropenmediziner und spätere Chefarzt der Infektiologie an der Charité in Berlin F. O. Höring beschrieb 1952 die besonderen Schwierigkeiten, denen das Pflegepersonal in Isolationsstationen ausgesetzt war. Da die Patientinnen und Patienten mit Infektionskrankheiten meist sehr schwer krank waren, aber schnell genasen und trotzdem weiter isoliert leben mussten, fühlten sie sich eingeengt. Die einzige Kontaktperson war die Pflegeperson, die sowohl Nähe als auch Distanz vermittelte, da sie Wünsche erfüllen und den Kontakt zu den Verwandten herstellen konnte, aber auch auf die Einhaltung der Gebote achtete: Besuchsverbot und Desinfektionsmaßnahmen bei Ausscheidungen, Gebrauchsgegenständen und Kleidung. Die Vermeidung von Berührungen verstärkte die Distanz. „Die Schwester sendet so ständig Signale der Zuneigung und der Ablehnung.“ (Höring 1952: 10) Ein weiteres Problem sah Höring darin, dass die pflegenden Personen, wenn sie lange auf der Station arbeiteten, sich „oft als von rauher Schale erweisen“ (Höring 1952: 10). Gerade durch die lange Verweildauer auf der Station sammelten sie jedoch einen enormen Erfahrungsschatz und waren in der Lage, typische Symptome und Komplikationen bestimmter Krankheiten frühzeitig zu erkennen. Die besondere Gefährdung bei Diphtherie für die Pflegenden war, dass sie immer wieder angesteckt werden konnten ohne zu erkranken, wodurch sie ständig auf Bakterien untersucht werden mussten. Höring sagte zusammenfassend, „daß die Pflege von toxischen Diphtheriefällen wohl den höchsten Einsatz für die Schwester erfordert, dabei ständige, aufmerksame Beobachtung besonders des Kreislaufs [des Patienten] und auch eigene Entschlußkraft zum raschen therapeutischen Eingreifen.“ (Höring 1952: 11)
Edgar Sarton-Saretzki: Ein Patient berichtet aus dem Jahr 1933
Die oben beschriebene Pflegesituation erlebte auch Edgar Sarton-Saretzki, geboren am 10.5.1922 in Limburg/Lahn, der als 11-Jähriger an Diphtherie erkrankte und lange Zeit im Infektionsgebäude des Krankenhauses der Israeltischen Gemeinde in der Gagernstraße verbringen musste. Er erinnert sich intensiv an den einengenden Zwang der Station, den er als Kind, nachdem die Krankheit bereits wieder abgeklungen war, besonders stark empfand: „Als ich 11 oder 12 war, hatte ich Diphtherie und ich war in dem Isolationskrankenhaus, in der Isolationsstation. Bei Diphtherie musste man damals drei Abstriche haben, und ich hatte immer zwei Abstriche [, die negativ waren] und der dritte war immer wieder positiv. D. h. es musste wieder von vorne angefangen werden, obwohl ich vollkommen gesund war.“ Edgar Sarton-Saretzki fühlte sich völlig wieder hergestellt und war deshalb sehr schwer „zu kontrollieren“, wie er sagte. Er erinnert sich, wie er versuchte, sich die Zeit zu vertreiben: „Das war irgendwie an einer Mauer, auf die ich mal geklettert bin. – Wie ich das fertig gekriegt habe, weiß ich nicht mehr, denn es war alles abgeschirmt, und die Leute konnten auch nicht direkt ran. Als meine Eltern mich besucht haben, mussten sie z. B. hinter einem Stacheldraht stehen. – Ich bin also auf die Mauer geklettert, und hinter der Mauer – was war da? Da waren die Särge. Dort wurden die Leute, die gestorben sind, in die Särge verfrachtet. Und der Stationsarzt, ein gewisser Dr. Reiter, der hat mich erwischt. Er war wahnsinnig wütend, und ich musste noch eine Woche ins Bett, ich durfte nicht mehr aufstehen. Er war ganz, ganz böse darüber, dass ich das gesehen habe, das war doch ganz versteckt, hinten in der Ecke, und ich wurde schwer bestraft. Das war eben die Schwierigkeit mit der Diphtherie, dass man diese drei Abstriche machen musste.“ Doch ganz zu bremsen war Edgar Sarton-Saretzki, trotz Isolation und Strafen, nicht: „Ich weiß, dass ich dort wochenlang vollkommen isoliert war, total isoliert. Neben mir aber war ein Mädchen, die Marion David, mit der bin ich später ins Stadionbad zum Schwimmen gegangen, mit der habe ich mich unterhalten, das durfte ich auch nicht. Da war auch eine Barriere, aber man konnte sich abstützen und so rumgucken, aber man musste aufpassen, dass man nicht erwischt wurde.“
Auf dem nebenstehenden Foto erkennt Herr Sarton-Saretzki die Isolationsstation wieder und deutet auf einzelne Teile des Bildes: „Ja, ja, da war man drin. Da war eine Veranda abgetrennt, und dann war hier ein Gang, der war auch abgetrennt; meine Eltern kamen mich besuchen, die mussten schreien, damit sie sich verständigen konnten. Die Mauer, auf die ich stieg – das weiß ich nicht mehr, wo die war. Ich weiß auch nicht mehr genau, wie lange ich da war, aber es war eine ziemlich lange Zeit.“ Eine weitere Szene, die ihm im Gedächtnis blieb, ist die Situation, als er eine Spritze bekam. „Das war damals ja auch keine einfache Sache, Diphtherie. Ich bekam so eine Spritze [zeigt ca. 25 cm] – so eine Spritze! – das war ein großes Theater, denn Diphtherie war damals eine schwere Krankheit mit sehr hohem Fieber. Und ich erinnere mich heute, dass das ja Pferdeserum war, das war vom Pferd.“1)
Die Empörung über die ausweglose Situation merkt man ihm heute noch an, wenn er sagt: „also was für eine Psychologie, was die geglaubt haben, dass man vollkommen gelähmt sein musste, dass man überhaupt nichts machen durfte. Man durfte mit überhaupt niemandem sprechen. Das ist doch vollkommen unmöglich für ein Kind, aber das haben die praktiziert. Also die waren nur daran interessiert, dass man mit niemandem Kontakt hatte, die hatten Angst, dass sich die Diphtherie ausbreitet.“ Auf eine Rückfrage zum Alltagsleben, z. B. der Verteilung des Essens, sagt er: „Ich weiß nicht mehr wie ich das Essen bekam, mir wurde das Essen geliefert, wie, weiß ich nicht mehr, ob sie mir das hingeschoben haben oder so, aber es gab nur wenige Leute, die Kontakt haben durften. Ich glaube das waren nur Leute, die extra dafür bestellt wurden.“ Resümierend fügt Herr Sarton-Saretzki noch hinzu: „Die haben alle gleich behandelt, glaube ich, ob Kind oder Erwachsenen ist ganz egal.“
Edgar Bönisch, 2011
1) Auch heute noch werden die Immunglobuline, die für die Therapie von Diphtherie notwendig sind, aus Pferdeserum als Ausgangsmaterial gewonnen.