Jüdische Sozialarbeit in Deutschland hat eine lange Geschichte […]. Die jüdische Altenarbeit wiederum war immer ein Teil der Sozialarbeit. […] Nach dem von der Zentralen Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWSt) 1932 herausgegebenen ‚Führer durch die jüdische Wohlfahrtspflege‘ gab es zu dieser Zeit allein 58 jüdische Altenheime mit einer Kapazität von 2.489 Betten. Darüber hinaus existierten z.B. acht allgemeine Krankenhäuser mit 1.383, sechs Krankenhäuser in Verbindung mit Altenheimen mit 439 sowie 52 Sanatorien und Rekonvaleszensheime mit mehr als 3.000 Betten“ (vgl. Altenpflege 2001/11: Bloch/ Weitzel-Polzer, S. 38).
Während zur Krankenpflege in Deutschland inzwischen historische Gesamtdarstellungen (u.a. Hähner-Rombach 2008; Steppe 1997) vorliegen, ist die Sozialgeschichte der Altenpflege und Altenhilfe – abgesehen von Einzelstudien (wie Graber-Dünow 2013; Irmak 2002; Sostmann 2008; siehe auch IGM Bosch) – bislang noch nicht geschrieben (vgl. Blessing 2011). Dabei erscheint gerade die Rekonstruktion ihres jüdischen Anteils als besonders dringlich, da er in der Schoa (Holocaust) vernichtet wurde. Hier bedeutet die Spurensuche Erinnerungsarbeit: zu Persönlichkeiten wie den Betreuenden und den Betreuten, Stifterinnen und Verwaltern; zu Institutionen wie Altersheimen und Siechenhäusern, zu Baugeschichte und Innenarchitektur, Quellen und Medien, Diskursen und Ausbildungskonzepten.
Was aber ist eine jüdische Altenpflege und Altenhilfe? Diese Forschungsfrage führt zu den Selbstdefinitionen ihrer Akteure: Wie grenzte sich etwa die konservativ-jüdische Altenpflege von der liberal-jüdischen ab? Beide Richtungen bezogen sich auf die gleichen religiös-kulturellen Grundlagen: Bikkur Cholim (Krankenbesuch/Krankenpflege), Zedakah (soziale Gerechtigkeit mittels Wohlfahrt) und Gemilut Chasadim (Mildtätigkeit, Nächstenliebe). Diese zentralen Mitzwot (religiös-jüdische Pflichten) schlossen die Betreuung von kranken, gebrechlichen und pflegebedürftigen Nichtjuden und Nichtjüdinnen mit ein.
Andererseits beförderten christliche Judenfeindschaft und seit dem 19. Jahrhundert ein säkularisierter ‚politischer‘ Antisemitismus eine eigene jüdische Altenfürsorge. Es gab aber auch jüdisch-christliche Wohnprojekte wie das bis heute bestehende, von dem jüdischen Stifterpaar Henry und Emma Budge begründete Frankfurter Budge-Heim (vgl. Budge-Heim Ffm). Im Zuge der ‚Nürnberger Rassengesetze‘ trennten die Nationalsozialisten den von ihnen zur Vernichtung bestimmten ‚jüdischen‘ Teil der Altenpflege und Altenhilfe von dem ‚arischen‘ ab; die meisten jüdischen Seniorinnen und Senioren konnten Nazideutschland nicht mehr verlassen und wurden – selbst als Hochbetagte – in das ‚Altersghetto‘ und Durchgangslager Theresienstadt deportiert (vgl. Theresienstädter Initiative). Die jüdisch gestifteten Alters- und Pflegeheime wurden samt Inventar ‚arisiert‘.
Zu den wichtigsten Aufgaben einer historischen Forschung und Aufarbeitung gehört deshalb die Recherche der verschollenen Biographien der jüdischen Altenpflege und Altenhilfe: ihre Herkunft (Familien- und Regionalgeschichte), ihre Stellung zum Judentum, ihre Lebens- und Berufsstationen sowie gesellschaftlichen Aktivitäten, ihre Angehörigen und Nachkommen. Hier lohnen sich der Gang in das Stadt- oder Gemeindearchiv (vgl. Überblick über die deutsch-jüdischen Gemeinden bei Alicke 2008; Alemannia Judaica) und die Kontaktaufnahme zu lokalhistorischen Expertinnen und Experten vor Ort. Für den Frankfurter Raum hat das Projekt www.juedische-pflegegeschichte.de mit der Aufarbeitung begonnen (vgl. Überblick bei Seemann 2012, aktualisiert 2017).
„Vornehmste Pflicht jeder Gemeinschaft ist es, für seine Alten und Kranken zu sorgen, und so gehörte es auch nach 1945 zu den dringendsten Verpflichtungen der neu entstehenden Jüdischen Gemeinde, ein Altersheim zu schaffen“ (Anonym. 1957). Anders als die jüdische Krankenpflege hat die jüdische Altenpflege und Altenhilfe nach der Schoa durch die Rückkehr betagter Überlebender aus den Lagern oder dem Exil in Deutschland wieder Fuß gefasst; sie blickt inzwischen auf mehrere Jahrzehnte einer ebenfalls noch weiter zu erforschenden Nachkriegsgeschichte zurück (vgl. z.B. Altenpflege 2001/11; Anonym. 1957). Interkulturell, mehrsprachig und sensibilisiert für Menschen mit (Extrem-)Traumatisierung, ist sie ‚geschult‘ im Umgang mit den tiefgreifenden Zäsuren im (Über-)Leben ihrer Bewohnerinnen und Bewohner (vgl. Altenpflege 2001/11: Friedman/ Weitzel-Polzer; Altenzentrum JG Ffm). Inzwischen sind auch ‚Treffpunkte‘ für Schoa-Überlebende institutionalisierter Teil der jüdischen Altenhilfe in Deutschland (vgl. Rübel 2013; ZWST). Jetzt steht die nächste Generation – jene, die die Schoa als Kinder und Jugendliche überlebten (vgl. z.B. Child Survivors Deutschland) – vor den Anforderungen biographischer Trauma-Arbeit: „[…] nicht so wie bei denen, wo die Vergangenheit normal war im Sinne eines guten Starts, führen uns unsere Erinnerungen geradewegs zurück zum Alptraum, was das Leben damals war“ (Robert Krell, www.child-survivors-deutschland.de/das-geheimnis-und-die-wurde, Aufruf v. 13.05.2013). Geschichte und Gegenwart sind untrennbar miteinander verbunden.
Birgit Seemann, 2013