Die Errichtung des Ghettos
In Frankfurt am Main wurden jüdische Einwohner/innen bereits im Jahre 1074 urkundlich erwähnt (Mayer 1966, S. 9). Die Pogrome von 1241 und 1349 vernichteten die ersten Frankfurter jüdischen Gemeinden. Nach ihrer Wiederansiedlung lebten die Jüdinnen und Juden weiterhin ungesichert, rechtlich diskriminiert und ständig bedroht von einem auf Vertreibung abzielenden christlichen Antijudaismus. Es gab jedoch kein Verbot für Juden, in christliche Stadtviertel zu ziehen, ebenso wohnten christliche Frankfurter/innen auch im Judenviertel. Wie sich das jüdische Pflegewesen in dieser Zeit gestaltete, ist weitgehend unbekannt, doch gab es wohl keine strikte Trennung, so dass bei Bedarf gewiss Juden von Christen und Christen von Juden versorgt werden konnten. Schon im 14. Jahrhundert betreuten jüdische Ärzte auch christliche Patienten. Solche Formen der Koexistenz (vgl. aber Grebner 2009) endeten abrupt, als der Frankfurter Rat 1460 – über ein Jahrhundert nach dem letzten Pogrom – die Errichtung eines Judenghettos beschloss (vgl. zu den Gründen Backhaus u.a. 2006). Zwei Jahre später mussten die jüdischen Familien ihre Wohnungen verlassen und wurden dorthin umgesiedelt. Näheres erfahren wir aus der online zugänglichen Informationsdatenbank des Museums Judengasse in Frankfurt am Main: „Die Judengasse, das Frankfurter Judenghetto, lag in der heutigen östlichen Innenstadt. Sie begann an der Konstablerwache, lief entlang der Staufenmauer und führte über die heutige Kurt-Schumacher-Straße bis zu dem Gelände, auf dem jetzt das Gebäude der Stadtwerke steht. Die Judengasse war ganz von Mauern umgeben und so von der übrigen Stadt abgetrennt. Am Nord- und am Südende sowie in der Mitte der zur Innenstadt hin gelegenen Westseite, am so genannten Judenbrückchen, gab es Tore. Diese wurden jede Nacht sowie an Sonn- und Feiertagen abgeschlossen; die Juden konnten ihre enge Gasse also nur werktags verlassen.“ Die Frankfurter Judengasse, das „erste Ghetto in Deutschland und eines der ersten in Europa“ (Einleitung in Backhaus u.a. 2006, S. 10), schloss die jüdische Minderheit von der christlichen Mehrheitsbevölkerung räumlich ab. Zugleich boten die Ghettomauern keinen Schutz: Während des Fettmilch-Aufstands (1614) drangen antisemitische Angreifer in die Judengasse ein, vertrieben die Bewohner/innen und plünderten deren Häuser.
Die Spitäler
Erst die Zwangsmaßnahme der Ghettoisierung förderte ein eigenes jüdisches Spital- und Krankenhauswesen, das mehrere Jahrhunderte überdauern sollte. Das erste jüdische Spital, „Hekdesch“ (oder „Hakdesch“, neuhebräisch: ein den Armen und Kranken „geweihtes“ Haus), auch „Heckhaus“ genannt, zählte zu den ältesten Häusern des Frankfurter Judenghettos; es wurde 1462 auf dem Gelände der Konstablerwache errichtet. Als so genanntes Fremdenhospital beherbergte es Arme und Kranke, die von auswärts kamen und – anders als die Bewohner/innen der Judengasse – in Frankfurt kein Aufenthaltsrecht (Judenstättigkeit) besaßen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts versorgte ein Ehepaar, das mit seinem Kind selbst im Hekdesch wohnte, etwa 15 Patientinnen und Patienten. Nach einem Großbrand wurde die Einrichtung 1711 von der Judengasse auf das Gelände des Jüdischen Friedhofs (Battonnstraße) und des angrenzenden Völkerschen Bleichgartens verlegt, ebenso das Spital für einheimische Kranke (Haus 102 des Ghettos, genaues Eröffnungsdatum ungeklärt). Dort befand sich bereits seit 1535 die dritte Pflegeeinrichtung, das so genannte Blatternhaus (Blattern = Pocken) für ansteckende Krankheiten, auch „Hotser“ genannt. Das Spital für einheimische Juden und das Blatternhaus wurden vermutlich noch im gleichen Jahrhundert baulich vereint; das einstöckige Gebäude mit kleiner Synagoge und einer Wohnung für den „Krankenwärter“ befand sich auf dem Areal der später (1882) errichteten Börneplatz-Synagoge. Das einstige Fremdenhospital, das Hekdesch, erhielt 1718 eine neue Anlage mit 6 kleinen Häusern, die bis zu ihrer Zerstörung durch Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg erhalten blieben.
Die Pflege
Um die Kranken und Pflegebedürftigen in den Einrichtungen des Judenghettos kümmerten sich so genannte Krankenwärter; durch die geschlechtsspezifische Aufteilung der Pflege waren auch weibliche Krankenwärter tätig. Als niedere Angestellte der Jüdischen Gemeinde erhielten sie nur geringen Lohn und wohnten überwiegend in einfachen Häusern nahe der Spitäler. Die Verwaltung der Pflegeeinrichtungen oblag als unbesoldetes Ehrenamt den „Hospitalmeistern“, die innerhalb der jüdischen Gemeindeverwaltung einen hohen Rang inne hatten. Aus wohlhabenden Familien stammend, übten sie auf diesem Wege die jüdisch-religiöse Verpflichtung zum sozialen Ausgleich durch Wohltätigkeit („Zedaka“) aus. Unter anderem durch Bevölkerungswachstum stieg während des 16. Jahrhunderts im Frankfurter Judenghetto der Pflegebedarf. Seitdem war für die unmittelbare Pflege neben den Krankenwärterinnen und -wärtern zusätzlich ein „Hekdeschverwalter“ (auch: „Hekdeschmann“) zuständig. In der Funktion eines Oberpflegers leitete er das Spital, in dem er zusammen mit seiner Familie auch selbst wohnte. Seit dem 17. Jahrhundert hatte die jüdische Gemeinde durchgängig zwei Gemeindeärzte angestellt, denen sie folgende Auflagen machte: Für die Behandlung wohlhabender Kranker waren die Honorarsätze genau festgelegt, Arme wurden unentgeltlich behandelt. Jüdische Ärzte und Ärztinnen genossen seit dem Hochmittelalter ein so hohes Ansehen, dass über die Ghettoschranken hinweg auch Christen bei ihnen Heilung suchten. Von 1631 bis um 1640 war der namhafte Arzt und Gelehrte Dr. Josef Salomo del Medigo (auch: Joseph Solomon Delmedigo) (1591 – 1655) als Gemeindearzt im Frankfurter Judenghetto tätig; ihm folgte um 1640 sein Schüler und Schwiegersohn Zalmann Bingen (Lebensdaten unbekannt).
„Hinaus aus dem Ghetto…“
1796 brannte das Judenghetto – diesmal durch Beschuss französischer Truppen – ein weiteres Mal nieder. Die obdachlos gewordenen Bewohner/innen wurden außerhalb des Ghettos untergebracht. Obwohl die Frankfurter Stadtregierung den Wiederaufbau nicht mehr durchsetzen konnte, hob sie den Ghettozwang erst 1811 formal auf. Nach weiteren Auseinandersetzungen mit dem Frankfurter Rat konnten jüdische Frankfurter/innen – nach mehr als drei Jahrhunderten! – seit September 1824 wieder uneingeschränkt im gesamten Stadtgebiet wohnen. Wohlhabende Familien zogen seit Mitte des 19. Jahrhunderts vermehrt ins Frankfurter Westend, während die ärmeren auf dem Gelände des Ende der 1880er Jahre abgerissenen Judenghettos zurück blieben. Im Jahre 1885 wurde die Judengasse nach dem als Juda Löw Baruch noch im Ghetto geborenen politischen Autor und Journalisten Ludwig Börne (1786 – 1837) in Börnestraße umbenannt. Die lange Gefangenschaft war zu Ende, der Weg für die Emanzipation frei. Der rechtlichen Gleichstellung der jüdischen mit den christlichen Frankfurter Stadtbürgern im Jahre 1864 (1871 folgte die Egalisierung im gerade gegründeten Deutschen Kaiserreich) gab zugleich den Anstoß für die Gründung moderner jüdischer Krankenhäuser in Frankfurt am Main, die ihre Pforten für Kranke aller Konfessionen öffneten. Diese Einrichtungen traten die Nachfolge des unter Ghettobedingungen organisierten jüdischen Pflegewesens an.
Birgit Seemann, 2009, aktualis. 2017
Literatur
Arnsberg, Paul 1983: Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution. Darmstadt, 3 Bände
Backhaus, Fritz 2000: „Im Heckhuß die Lahmen, Blinden und Hungerleider…“. Die sozialen Institutionen in der Frankfurter Judengasse. In: Jersch-Wenzel, Stefi (Hg.) 2000: Juden und Armut in Mittel- und Osteuropa. Hg. in Verbindung mit François Guesnet [u.a.] im Auftrag des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur e.V. Köln [u.a.], S. 31-54
Backhaus, Fritz u.a. (Hg.) 2006: Die Frankfurter Judengasse. Jüdisches Leben in der frühen Neuzeit. Frankfurt/M.
Backhaus, Fritz/ Gross, Raphael/ Kößling, Sabine/ Wenzel, Mirjam (Hg.) 2016: Die Frankfurter Judengasse. Katalog zur Dauerausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt. Geschichte, Politik, Kultur. München