Ab 9. Dezember 2021 startet im Historischen Museum Frankfurt die Ausstellung „Frankfurt und der NS“ Ab Dezember zeigt das HMF ein bisher vorbildloses Ausstellungsprojekt: In drei Formaten widmet es sich dem Thema „Frankfurt und der NS“. 75 Jahre nach der Befreiung der Stadt durch US-Truppen ist der Nationalsozialismus (NS) und sein Nachwirken leider ein hochaktuelles Thema, wie rechtsradikale Anschläge, Parteien und Propaganda zeigen. Wie sich die vor 1933 als liberal und demokratisch geltende Stadt mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil im Reich so schnell und radikal dem NS andienen konnte, und wie schleppend die Aufarbeitung danach verlief – sind Leitfragen der drei Ausstellungen.
Amalie Stutzmann (auch Amalia und Amélia) war Krankenschwester im Frankfurter Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung und, wohl für kurze Zeit, im Krankenhaus der Jüdischen Gemeinde in der Gagernstraße 36. Wie ihre Enkelin Amaly bestätige konvertierte sie 1931 vom evangelischen Glauben zum jüdischen. Am 11.November 1941 wurde sie in das Ghetto Minsk deportiert und dort ermordet.
Ihren Sohn Markus hatte sie 1939, als 10-jährigen, in einem Kindertransport nach Palästina unterbringen könnnen. In Palästina nannte sich Markus Stutzmann später Abraham Bar Ezer. Seine Suche nach den Spuren seiner Mutter begann in den 1950er Jahren, als er einen Antrag auf Entschädigung stellte.
Viele Jahre später, im Mai 2010, konnte ich ihn anlässlich der Verlegung eines Stolpersteins für seine Mutter Amalie, im Sandweg 11 in Frankfurt am Main, kennenlernen. An der von ihm initiierten Verlegung nahmen auch viele seiner Familienmitglieder teil. Zwei Tage später, auf einer Veranstaltung der „Initiative 9. November“ (Initiative 9. November ) erzählte er von seiner Mutter. Moderiert wurde das Gespräch von der Historikerin Helga Krohn, der Autorin und Herausgeberin eines Berichts über den Kindertransport nach Palästina (vgl. Krohn, Helga 1995), zu dem auch Markus Stutzmann gehörte. Im Anschluss an die Veranstaltung konnte ich mit Abraham Bar Ezer und seiner Tochter Amalya Shachal sprechen, sie schenkten mir eine Broschüre mit den Erinnerungen von Markus Bar Ezer, die er seinen Kindern und Nachfahren gewidmet hat (vgl. Bar Ezer, Abraham, o.J.: Die Feuersäule). Der Name des Buches „Feuersäule“ erinnert an den Auszug der Israeliten aus Ägypten als Gott symbolisch als Feuersäule den Israeliten nachts den Weg wies, tagsüber war eine Wolkensäule das Symbol.
Amalie Stutzmanns Herkunft
Die Geburtsurkunde (Bar Ezer o.J.: Anhang Nr. 2) für Amalie Stutzmann belegt, dass sie am 23. Nobember 1890 in Keskastel um drei Uhr vormittags geboren wurde, Zeugin war am 26. Nobember auf dem Standesamt in Keskastel die Hebamme Margarethe Scheuer. Als Mutter Amalias nennt das Dokument Karolina Stutzmann, von Beruf Näherin, ledig und prostestanisch. Keskatel liegt heute im Department Bas-Rhin im Gemeindeverband Alsace Bossue, dem Krummen Elsass.
Ein Schreiben der Gemeinde Keskastel (Bar Ezer o.J.: Anhang 7) nennt die Geschwister von Amalie: Emile geb. 20. Juli 1882, Anne geb. 14. Mai 1885, Robert geb. 26. Juli 1887–22. September 1887, und Paul Robert geb. 29. März 1889. Weitere Recherchen nach der Familie seiner Mutter, die Abraham Bar Ezer initiierte, gestalteten sich schwierig. Den Namen gab es in der Region sehr häufig und da alle Kinder von Karolina Stutzmann außerehelich geboren waren, gibt es keine Hinweise auf den Vater.
Wie und warum Amalie Stutzmann in den Raum und die Stadt Frankfurt kam, ist unbekannt. Abrahm Bar Ezer schreibt, dass sie das Handwerk der Krankenschwester erlernte und in diesem Beruf in einem Altenheim in Zürich arbeitete (Bar Ezer o.J.: 16). Ihr Aufenthalt in der Schweiz stehe eventuell im Zusammenhang mit der Herkunft von Markus‘ Vater, der vermutlich Moshe Weisskopf hieß (Bar Ezer o.J.: 10 und Anhang 6).
Vermutungen über Markus‘ Vater
Markus erinnert sich in seiner Broschüre „Feuersäule“ an zwei Szenen in Frankfurt. Zum einen besuchte seine Mutter mit ihm 1939 einen alten Mann im Krankenhaus in Frankfurt am Main und stellte ihn als Jaakov Weißkopf vor, er sei Markus‘ Großvater. Der alte Herr verstarb kurz darauf. Zum anderen traf Markus im Haus Sandweg 11 im April 1939 seinen Vater, wie er vermutet. Es könnte sein, dass der Vater seiner Mutter einen Abschiedsbesuch abstattete, bevor er in die USA ausreiste. Erst später entdeckte Abraham Bar Ezer, im erhalten gebliebenen Adressbuch seiner Mutter, die New Yorker Adresse eines Moshe Weisskopf, die Recherchen nach ihm blieben ergebnislos. Nach Quellen in der genealogischen Datenbank „Ancestry“, dort in der Einwanderungsliste von Ellis Island, gibt es einen Moses Weisskopf, der im April 1939 aus Deutschland kommend in die USA eigewandert ist, ob dieser Moses Weisskopf eventuell mit dem Vater von Markus identisch ist, ist ungewiss.
Später, in Israel, erhielt Bar Ezer zwei weitere Hinweise auf seinen Vater und den Großvater, die auf die Schweiz und den Namen Weisskopf deuten. Weitere Forschungen fehlen hier (Bar Ezer o.J.: Anhang 6).
An andere Bilder von seinem Vater oder seinen Verwandten erinnert sich Markus Stutzmann nicht. Seine Mutter habe ihm auf seine Fragen immer ausweichend geantwortet und gesagt, dass sie ihren Mädchennamen trage (Bar Ezer o.J.: 3). Über sein Interesse an der Familiengeschichte schreibt Abraham Bar Ezer: „Meine Familiengeschichte war ein Mysterium für mich, und ich machte mir das Leben nicht schwerer, indem ich verlangte mehr zu wissen als mir zugänglich war. Die Antworten meiner Mutter haben mir gereicht. Das Fehlen eines engen Familienkreises hat mich nicht gestört oder beschäftigt, denn auch viele meiner Freunde im Waisenhaus hatten keine Familie und ebenfalls nur einen Elternteil.“ (Bar Ezer o.J.: 5).
Markus‘ Geburt in Darmstadt, die Geburtsklinik Altschueler
Markus Stutzmann wurde am 18. November 1928 in Darmstadt, Eschollbrücker Str. 12 geboren. Seine Mutter wohnte zu diesem Zeitpunkt in der Wittelsbacher Allee 7 in Frankfurt am Main (vgl. Bar Ezer o.J.: Anhang 1).
In der Eschollbrücker Straße 12 stand damals die private Entbindungsanstalt des Dr. Alfred Altschüler. Der Eintrag im Darmstädter Adressbuch lautet: „Altschüler, Alfred, Dr. med., Frauenarzt und Chirurg, Privatklinik und Entbindungsansstalt (Paulinenheim), Eschollbrücker Str. 12, Fernsprecher 155, Sprechstunden: Dieburgerstr. 5 pt.“ (Adressbuch Darmstadt 1927).
Warum Frau Stutzmann in Darmstadt ihren Sohn gebar kann nur vermutet werden: Am Anfang des 20. Jahrhunderts gab es Entbindungsanstalten der Universitätskliniken und einige, oft im Besitz von privaten Betreibern, als „Erwerbsquelle von Hebammen und Ärzten“ (Meyers Großes Konversations-Lexikon 1906). Über die Entstehung von Geburtskliniken berichtet Claudia Werner (Werner 2017) aus der Sicht einer Hamburgerin: „Wer etwas auf sich hielt, bekam sein Kind zu Hause. Nur die ärmeren Frauen und ledige alleinstehende Schwangere gingen zur Geburt in eine Klinik. Allerdings reichte die Zahl der Betten in den Hamburger Krankenhäusern bei Weitem nicht aus. Und Deutschland hielt Anfang des 20. Jahrhunderts einen traurigen Rekord: Zusammen mit Österreich-Ungarn und Russland hatte es mit 25 Prozent die höchste Säuglingssterblichkeit in Europa. In den Sommermonaten stieg sie in Großstädten wie Hamburg bis auf 50 Prozent.“ (Werner 2017).
Frau Stutzmann gehörte eventuell zu der Gruppe der Armen und alleinstehenden Schwangeren oder sie suchte nach einer Möglichkeit unter optimalen Bedingungen ihr Kind zur Welt zu bringen. Vielleicht wollte sie aber auch an ihrem Wohnort Frankfurt anonym bleiben oder es gab, sofern sie zu diesem Zeitpunkt schon im Rothschild‘schen Hospital arbeitete, dort noch kein Entbindungsmöglichkeit, erst nach dem Umbau im Jahr 1932 wurde ein Entbinungszimmer eingerichtet (Seemann 2018).
Abraham Bar Ezer vermutet, dass seine Mutter kurz vor seiner Geburt nach Darmstadt gezogen war und danach wieder nach Frankfurt zurück. Er selbst blieb dann bei einer Bauernfamilie, bis er ein wenig älter war (vgl. Bar Ezer o.J.: 16). An andere Stelle berichtet er, dass seine Mutter ihn vier Wochen nach der Geburt in Darmstadt zu einer Pflegefamilie in Bickenbach gegeben habe, wo er fünf Jahre geblieben sei (vgl. Initiative Stolperstein 2016: 165). Nur so habe seine Mutter berufstätig sein können und für beider Unterhalt sorgen können (vgl. ebd.).
Amalie und Markus Stutzmann in Frankfurt am Main
Wann Amalie Stutzmann nach Frankfurt kam wissen wir nicht genau. Ihre Adresse, Wittelsbacher Allee 7, wird das erste Mal in der Geburtsurkunde von Markus Stutzmann für den November 1928 erwähnt. Auch ob sie zu diesem Zeitpunkt berufstätig war ist unbekannt. Belegt ist, dass sie 1930 in der Rhön-Straße 48 (Frankfurter Adreßbuch 1931: Teil1 740, Teil 2 286) wohnte, ein Haus, welches, wie die Nachbarliegenschaften 50 und 52, vom Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung für Personalwohnungen genuzt wurde (Seemann 2016 [2014]). Was nahelegt, dass Frau Stutzmann 1930 bereits im Hospital der Rothschild‘schen Stiftung angestellt war. In den beiden darauffolgenden Jahren, 1931 und 1932, wohnte sie im Haus Rhönstraße 50, 2. Stock (Frankfurter Adressbuch 1932 und 1933). [1] Genaueres ist im Hausstandsbuch der Häuser in der Rhönstraße (ISG) zu finden. Danach wechselte Frau Stutzmann am 10.07.31 vom Röderbergweg 97 (Hospital) in die Rhönstraße, von dort am 21.12.1931 wieder in den Röderbergweg 97. Eventuell hatte der Wechsel mit Umbauarbeiten im Hospital zu tun (siehe Kapitel: Amalie Stutzmann und das Hospital der Georgine Sara von Rothschild‘schen Stiftung).
Am 9. August 1935 bezog sie die Wohnung im Sandweg 11 (ISG), wo sie bis 1939 wohnte (Adressbuch Frankfurt a. M. 1937). Vermutlich hatte Frau Stutzmann zuvor im Rotschild‘schen Hospital wohnen können. Ihre Kollegin Aranka Kreismann, Wirtschaftsleiterin im Hospital seit 1934, berichtete später, dass Amalie Stutzmann „Kleidung, Kost und Wohnen“ (HHStA) von der Rothschild‘schen Stiftung erhielt. Das wohl auch noch als sie eine „schöne eingerichtete Wohnung in Frankfurt a/Main Sandweg Nr. 11“ (ebd.) bewohnte.
Bella Flörsheim und Adele Nafschi, Kolleginnen im Rothschild‘schen Krankenhaus, bezeugen die Arbeit von Amalie Stutzmann im Krankenhaus für die Zeit von 1931 bis 1938 (ebd.).
Abraham Bar Ezer erinnert sich „vage“ an die erste Zeit. Wohl zwischen 1928 bis 1935 lebte er bei Landwirten in „irgendeinem“ Dorf, vermutlich in Bickenbach (Initiative Stolperstein Frankfurt am Main 2016: 165). In dieser Zeit besuchte ihn die Mutter hin und wieder. Eines Tages holte Amalie Stutzmann ihren Sohn nach Frankfurt und sie wohnten im Sandweg 11, die Adresse vor der heute der Stolperstein für Frau Stutzmann liegt. Das könnte etwa August 1935 gewesen sein, das Datum an dem Amalie Stutzmann aus dem Röderbergweg 97 ausgezogen ist (ISG), also kurz vor Markus‘ siebtem Geburtstag.
In Frankfurt ging Markus in den Kindergarten bei Kindergärtnerinnen, die er später in Palästina wiedertraf, Ayala Grossmann und Bela Hoffmann. Er besuchte die Jüdische Volksschule und später die Realschule, benannt nach dem Rabbiner Samson Raphael Hirsch. Die Besuche in der orthodoxen Synagoge in der Friedberger Anlage und ihre dortigen Banknachbarn, Familie Frankental, sind ihm gut im Gedächtnis (Bar Ezer: 4).
In Frankfurt führten Markus und seine Mutter ein vom orthodoxen Judentum geprägtes Leben. In der orthodoxen Synagoge lernte er jüdische Familien kennen, in der Schule hatte er Freunde mit denen er sich auch im Israelitischen Waisenhaus traf und mit denen er später auch nach Palästina auswanderte. Seine Mutter sorgte für gute Kleidung. „Wie ein Prinz“ fühlte er sich. Von allem erhielt er das „Beste“ und er bekam Geschenke „nach denen sich jedes Kind sehnte“ (Bar Ezer o.J.: 6).
Ermöglicht hat sie das alles durch die Arbeit im Krankenhaus, bsonders durch Nachtwachen. Durch Hauspflege bei privaten Patienten und Vergabe von Injektionen, verdiente sie ein Nebeneinkommen (HHStA).
Stolz äußert sich Markus über den Mut seiner Mutter. So berichtet er von einem Abendspaziergang über den Sandweg: Sie kamen an einer Papier-Holzfigur vorbei, die wohl von der antisemitischen Zeitung der „Stürmer“ aufgestellt worden war, und einen „grossen Juden mit einer krummen Nase darstellte, dem Symbol der Zeitung. Die Figur hielt ein Messer in der Hand und richtete es auf einen „deutschen Jungen“ den er auf seinen Beinen hielt. Frau Stutzmann ging zu der Statue und stieß sie um, die Statue zersprang in „Tausend kleine Stücke“, stolz und aufrecht ging sie weiter (Bar Ezer o.J.: 7).
Nach der „Kristallnacht“, deren Repräsalien die Stuztmanns durch das beherzte Eintreten des Hausmeisters, der mit der Aussage „Hier wohnen keine Juden“ (Initiative Stolperstein Frankfurt am Main 2016: 166) den „Nazimob“ fernhielt, begann Amalie Stutzmann nach Möglichkeiten zu suchen ihren Sohn nach Palästina zu schicken. Sie konnte ihn in einer Kinder Alijah (Kindereinwanderung) des Frankfurter Waisenhauses für 1939 unterbringen. Sie stattete ihn mit allem Vorgeschriebenen und mehr aus, etwa Bettlacken, Tischdecken, Handtücher, Kleiderbügel, Anzüge, Kleidung, Schuhe, Besteck und Silbergeschirr. Zur Abreise hat seine Mutter ihm ein Notizbuch mit Namen, Geburtsdaten und Adressen mitgegeben, darin ist auch Moshe Weisskopf in New York verzeichnet, vermutlich dem Vater von Markus.
Am 25. April 1939 brachte Amalie Stutzmann ihren Sohn zum Bahnhof. An eine Freundin schrieb sie „Ich schicke Dir alles, was ich besitze“ (Bar Ezer o.J.: 10).
Im Lauf des Jahres 1939 zog Frau Stutzmann in die Hanauer Landstraße 17 (Frankfurter Adressbuch 1940), in ein Haus der Suppenanstalt für israelitische Arme, deren Sitz in der Theobald Christ Straße 5 war (Frankfurter Adressbuch 1939, II. Teil: 134). Die Liegenschaft wechselte im Jahr 1940 in den „Besitz“ der Stadt Frankfurt (Frankfurter Adressbuch 1941). Im Adressbuch von 1942, wohl für das Jahr 1941, taucht Amalie Stutzmann nicht mehr auf. Sie war mit dem Transport am 11./12. November 1941 in das Ghetto Minsk transportiert worden, wo sie ermordet wurde.
Amalie Stutzmann und das Hospital der Georgine Sara von Rothschild‘schen Stiftung
Eine ausführliche Beschreibung des Hospitals der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung ist auf der Webseite des Projekts Juedische-Pflegegeschichte.de (Seemann 2014 und 2016) zu finden. Hier eine gekürzte Fassung fokussiert auf die Zeit in der Amalie Stutzmann dort arbeitete.
1870 hatte Mathilde von Rothschild das Hospital gegründet, das sie nach ihrer als 17jährigen verstorbenen Tochter Georgine Sara von Rothschild benannte. Der Gebäudekomplex bestand zu Amalie Stutzmanns Zeit aus dem eigentlichen Hospital (Röderbergweg 97), einem Ärztehaus (Röderbergweg 93) und einem Kinderhospital (ebenfalls Röderbergweg 93).
Die religiöse Ausrichtung des Hauses und seiner Bewohner war neo-orthodox, der Israelitischen Religionsgesellschaft folgend, der auch ein Teil der Rothschild‘schen Familie angehörte. Die Israelitische Religionsgesellschaft (IG) hatte sich 1850 als zweite Frankfurter Jüdische Gemeinde von der ersten liberaleren Gemeinde getrennt (Seemann 2014).
Nach den Statuten des Hauses war es gedacht für „unbemittelte jüdische Kranke beiderlei Geschlechts“, denen die Aufnahme in eine andere jüdische Einrichtung auf Grund fehlender Gelder nicht zustand (RothHospStatut 1878: 5), Personal und Patienten konnten jüdischen, aber auch christlichen Glaubens sein.
Ab ca. 1922 war Dr. Sally Rosenbaum Chefarzt des Hauses. Nach dem Tod der Stifterin Mathilde von Rothshild, 1924, übernahmen das Mäzenat ihre Tochter Adelheid de Rotschild und der Ehemann ihrerer verstorbenen Tochter Minka, Maximilian von Goldschmidt-Rothschild. Beide finanzierten 1931/32 einen grundlegenden Umbau und die Modernisierung des Hauses. Die Umbauten leitete Regierungsbaurat Dipl.-Ing. Fritz Nathan (1891–1960), der auch für Ernst May im Rahmen des Stadtplanungsprogramms „Neues Frankfurt“ arbeitete.
Das umgebaute Haus beherbergte 29 Krankenbetten dritter Klasse, 12 Krankenbetten zweiter Klasse und 3 Krankenbetten erster Klasse sowie die durch den Umbau unverändert gebliebene Isolier-Station mit 6 Betten, zusammen 50 Betten (Hofacker 1932: 34), bei freier Arztwahl für alle Klassen. Neu waren eine Röntgenabteilung und zwei Operationsabteilungen (septisch und aseptisch) im 2. Obergeschoss. Zum fließend kalten und warmen Wasser in allen Zimmern kamen je Stockwerk noch etliche sanitäre Anlagen hinzu. Außerdem gab es nun an jedem Bett einen Radiostecker und eine rituelle Signaleinrichtung, um an Samstagen und Feiertagen die Nutzung von elektrischem Strom zu vermeiden (ebd.: 35).
In seiner Ansprache zur Wiedereröffnung betonte der Chirurg des Hause Dr. Willy Hofmann die religiöse Ausrichtung des Hauses und wies darauf hin, dass Krankheit ein Mittel sei, seinen „sittlichen Lebenswandel“ zu überprüfen (vgl. Hofmann 1932: 3f.).
Die Belegung des Krankenhauses nahm nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten ständig zu. Jüdische Patienten wurden aus nichtjüdischen Pflegeanstalten überwiesen, Ärztinnen und Ärzte, die aus antisemitischen Gründen ihre Praxen schließen mussten, kamen in die jüdischen Krankenhäuser. Personal, dem die Auswanderung gelang, konnte nicht ersetzt werden. Besonders viele Patientinnen und Patienten wurden nach dem Novemberpogrom 1938 verpflegt (vgl. Andernacht/Sterling 1963: 31, 45). Seit August 1940 kamen psychisch Erkrankte hinzu, die aus nichtjüdischen Psychiatrien vertrieben wurden.
Zum 28. September 1940 veranlassten die NS-Behörden die Eingliederung der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung in die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (vgl. Schiebler 1994: 152). Die Schließung des Hospitals wurde im Mai 1941 veranlasst. Personal und Patienten kamen in das nunmehr letzte Frankfurter jüdische Krankenhaus in der Gagernstraße. Von dort wurden sie in die Todeslager deportiert. Die Stadt Frankfurt „übernahm“ gemäß dem „zweiten Judenvertrag“ vom 30. Januar 1942 (vgl. Karpf 2003a) die Liegenschaft des Hospitals, es wurde vom Bauamt als Hilfskrankenhaus ausgewiesen. Um 1943 wurde das Gebäude bei Luftangriffen zerstört. Heute erinnert am ehemaligen Standort nichts mehr an das Hospital.
Die Georgine Sara von Rothschild’sche Stiftung selbst konnte wiederbelebt werden; den ersten „Notvorstand“ (Schiebler 1994: 152) bildeten 1964 Rabbiner Josef J. Horowitz und Rechtsanwalt Dr. Salomon Goldsmith. Der Stiftungszweck der am 1. November 1976 neukonstituierten, bis heute bestehenden gemeinnützigen „Georgine Sara von Rothschild‘schen Stiftung zur Förderung von Krankenbetreuung für Israeliten“ beinhaltet z.B. die Förderung von Krankenbetreuung und medizinische Beihilfe (vgl. ebd.).
Da das Rothschild’sche Hospital im Mai 1941 geschlossen und sein Personal vom Krankenhaus Gagernstraße übernommen wurde, hat Amalie Stutzmann danach sehr wahrscheinlich in der Gagernstraße gepflegt, ein Zeuge, Leo Frankenthal, berichtete, dass sie „spaeter im Gagern Krankenhaus in Frankfurt taetig war.“ (HHStA). Bereits mit der 2. Frankfurter Deportationszug am 11./12. November 1941 wurde sie in das Ghetto Minsk verschleppt.
Markus und die Israelitische Waisenanstalt
Während der gemeinsamen Zeit von Markus und Amalie Stutzmann in Frankfurt am Main ging Markus vormittags in die Israelitische Volksschule und machte am Nachmittag seine Hausaufgaben im jüdischen Waisenhaus, wo er auch seine Freunde zum Spielen traf (Soden: 74).
Die 1876 gegründete Israelitische Waisenanstalt war seit 1903 im Röderbergweg 87 untergebracht. Die Waisenanstalt, eine Stiftung von Mathilde von Rothschild und anderen, versorgte Frankfurter Waisenkinder, die in einem Alter von sechs bis zwölf Jahren aufgenommen wurden und dort bis zu einer abgeschlossenen Ausbildung blieben (vgl. Krohn 2004: 140ff.). Das Ziel war es, den Kindern „eine den Grundsätzen des traditionellen Judentums entsprechende Erziehung zu geben und in der Pflege des Geistes wie des Körpers treue elterliche Fürsorge möglichst zu ersetzen.“ (Krohn 1995: 14).
Im Haus wurde streng nach orthodoxen Regeln gelebt, es wurde koscher gekocht und die Sabbatruhe eingehalten, die Jungen trugen Kopfbedeckungen und Religionsunterricht war selbstverständlich. Die Jungen erhielten zum 13. Geburtstag ihre Bar-Mizwa-Feier. Jüdische Feste wie Chanukka und Purim wurden gefeiert, in der hauseigenen Synagoge wurde gebetet (vgl. ebd.: 16f.). Die Historikerin Helga Krohn, die 1995 mit Personen sprach, die in den 1930er Jahren im Haus lebten, berichtet: „Die ehemaligen Waisenhauskinder, mit denen wir gesprochen haben, erinnern sich insgesamt an eine schöne, glückliche Zeit im Waisenhaus. Sie waren geschützt, von Wärme und Fürsorge umgeben; Ausflüge in den Taunus und Ferien im Palmengarten, Geburtstagsfeiern, Sport und Spiel gehörten zum Alltag.“ (ebd.: 23).
Abraham Bar Ezer erinnert sich an seine Zeit im Waisenhaus: „Die Atmosphäre in diesem Waisenhaus war besonders. Die Familie Marx hat dieses Haus geführt genau wie eine Familie. Kein Kind hat gespürt, daß sie nicht ihre Eltern sind. Sie hatten eine Wohnung im zweiten Stock, die immer offen stand – alle Türen. […] Und wenn sich ein Kind nicht gut fühlte, ist es raufgelaufen und hat gerufen: ‚Onkel Marx!‘ oder ‚Tante Rosa!‘ Es hat erzählt, was los ist, wurde auf den Schoß genommen; und alles war in Ordnung.“ (Soden 1995: 74).
Frankfurt, um die bedrückende Situation auf den Dörfern, wo Schulen und Heime bereits geschlossen waren, zu vermeiden. Von ca. 75 stieg die Anzahl der Kinder im Heim auf 150. Im Oktober 1938 sollten die polnischen Kinder des Hauses abgeschoben werden, was das Personal verhindern konnte, sie holten die Kinder, die bereits am Bahnhof waren, wieder ab. In der Pogromnacht im November wurden die Kinder „auf die Straße gesetzt“, in die Einrichtung drangen Polizei und SS-Leute ein und zerstörten sie teilweise, einige Personen des Personals wurden verhaftet (vgl. Krohn 2004: 141f.).
Isidor Marx beschreibt die Situation im Haus am Abend nach der „Kristallnacht“. Es kamen SS- und Gestapoleute, die sich „freundlich aber streng sachlich“ verhielten. Sie haben ihm klar gemacht, dass er gebraucht werde, um die Kinder, die nun vermehrt ins Heim kämen unterzubringen und, dass er, wenn er sich weigere unter Lebensgefahr stünde. Er erklärte sich bereit weiter für so viele Kinder zu sorgen: „Meine Herren, sagte ich, ich habe, mit Erlaubnis der Behörden in den Jahren seit 1934 schon viele Kinder ins Ausland verbracht, es kamen aber immer wieder viel mehr Kinder herein als ich zur Auswanderung bringen konnte. Ich habe aber sehr viele Freunde und Gönner im Ausland, wie Schweiz, Holland, Belgien, England, Frankreich und namentlich Palästina. Darf ich denen telegrafieren, telefonieren und sie um Aufnahme von Kindern bitten? Antwort: Ihre Telegramme und Telefone werden nicht zensiert werden. Die Telefon- und Telegraph-Rechnung des Waisenhauses für die nächste Nacht zeigte Hunderte von Mark an – mit Erfolg, daß während der Nacht und während der folgenden Tage viele Zusagen telefonisch, telegrafisch und schriftlich einliefen.“ (Krohn 1995: 25f.)
Einer, der daraufhin Unterstützung zusagen konnte war James Armand de Rotschild in England. Der Sohn der Frankfurterin Adelheid de Rotschild, die Mitstifterin des Waisenhauses war, konnte mit Hilfe der Palestine Jewish Colonisation Association (PICA) tätig werden. Die PICA war von James Armand de Rotschilds Vater Edmond de Rothschild gegründet worden, zur Entwicklung jüdischer Siedlungen und industrieller Projekte in Palästina (Krohn 1995: 26). Er sagte am 11. Dezember 1938, 35 PICA-Zertifikate, also Einwanderungsgenehmigungen, inklusive finanzieller Ausstattung, zu. Es war nicht einfach, Kinder, die wie die Waisenhauskinder orthodox lebten, im zionistischen Palästina unterzubringen, doch nachdem diese Schwierigkeiten gelöst waren, erfolgte die Einschiffung auf der „Galiläa“ am 19. April 1939. Auch Markus Stutzmann war bei den 35 Auswanderern, die im Jugenddorf Kfar Hanoar Hadati unterkamen. Dort gingen sie zur Schule und halfen in der Landwirtschaft. Ein Jahr später gelang es 16 Mädchen auszuwandern (vgl. Krohn 1995).
Das Ehepaar Marx konnte in den folgenden Jahren etwa 1.000 Kinder retten, Gruppe für Gruppe konnte ins Ausland geschafft werden (vgl. Karpf 2003b). Isidor Marx wurde seit 1939 von der Gestapo gesucht und blieb deshalb in Palästina, später konnte er nach England ausreisen. Seine Frau, übernahm die Leitung des Waisenhauses. Rosa Marx wurde nach 1942, gemeinsam mit anderen Frauen und den letzten verbliebenen Kindern nach Theresienstadt deportiert, sie hat den Holocaust nicht überlebt (S.F. 1994: 138f.).
Markus wird Abraham – die Suche nach den Spuren der Mutter beginnt
Stuzmann kam mit den anderen Kindern im März 1939 auf dem Schiff „Galiläa“ nach Palästina, wo das Jugenddorf Kfar Hanoar Hadati (Dorf der religiösen Jugend) die Kinder des Frankfurter Kindertransports aufnahm (Krohn 1995: 7).
Das 1936 gegründete Dorf in der Nähe von Haifa, war maßgeblich von Eugen Michaelis aus Hamburg initiiert worden. Er wurde 1938 der Dirktor der Gemeinschaft, welche die Absicht hatte als Kommune mit orthodox-religiöser Ausrichtung eine landwirtschaftliche Ausbildung zu bieten (Feldman 1962). Heute beherbergt das Dorf eine der bedeutendsten landwirtschafltichen Hochschulen Israels, welche immerwieder Kinder und Jugendliche, die durch die Jugend-Aliayh nach Israel kamen und kommen, ausbildet (Kfar HaNoar HaDati).
In Kfar Hanoar Hadat blieb er bis 1946. Von 1946 bis 1949 lebte er im Kibuz Darom (HHStA). Markus Stutzmann hieß inzwischen Abraham Bar Ezer. Zu der Namensänderung, die in Palästina üblich war, schreibt der Journalist Uri Avnery: „Die Namensänderung symbolisierte eine ideologische Grundhaltung.“ (Avnery 2013).
Die Akte „Amalie Stutzmann zur Entschädigung“ im Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden (HHStA) beginnt 1957. In dieser Zeit beginnt wohl auch die Suche von Abraham Bar Ezer nach den Spuren seiner Mutter. Wobei sein Wissen über seine Herkunft äußerst dürftig war, er selbst schreibt: „Ich bin ohne prägendes Erbe gekommen – ein Waise in jeder Hinsicht. Ohne Eltern, ohne Verwandte, ja sogar ohne irgeneinen blassen Schimmer über die Geschichte meiner Familie.“ (Bar Ezer o.J.: 3)
Die Auskünfte von Nachbarn in Israel, die Bar Ezer noch aus Frankfurt kannte, bestätigten das wenige Wissen das er bereits hatte. Die Informationen, die er im Lauf der Zeit erwarb, etwa durch die Geburtsurkunden von sich und seiner Mutter, durch Auskünfte der Ursprungsgemeinden im Elsass und auch Deportationslisten legte er in der Broschüre „Die Feuersäule“ nieder, die er im Selbstverlag für seine Kinder und deren Kinder herausgab. Heute lebt er im Kreis seiner großen Familie in Israel und ist sehr stolz auf seine mutige Mutter.
Amalie Stutzmanns Deportation nach Minsk
Amalie Stutzmann wechselte ihre Wohnung, vermutlich kurz nach der Abreise ihres Sohnes am 25. April 1939. Gemäß den Frankfurter Adressbüchern (1940 und 1941) lebte sie im Jahr 1939 sowohl im Sandweg 11 als auch in der Hanauer Landstr. 17, einem Haus, welches der Israelitischen Suppenküche gehörte. Auch 1940 ist sie dort noch verzeichnet. Ab Mai 1941 konnte sie nicht mehr im Rothschild’schen Hospital arbeiten, da dieses im Mai des Jahres zwangsweise geschlossen worden war. Laut des Zeugens Leo Frankenthal (HHStA), hat sie im Gagernkrankenhaus weitergearbeitet.
Mit Wirkung vom 23. Oktober 1941 war es Juden verboten den deutschen Machtbereich zu verlassen, ausgenommen im Rahmen der „Evakuierungsaktionen“ (Gottwald/Schulle 2005: 61). Amalie Stutzmann wurde dem 2. Frankfurter Judentransport nach Minsk zugeteilt. Dieser war zunächst für den 2. November 1941 geplant. Vermutlich erhoben Frankfurter Rüstungsbetriebe Einspruch gegen den Abzug jüdischer Zwangsarbeiter (vgl. Kingreen 1999: 362), so fand diese Deportation am 11./12. November 1941 statt. Der Zug mit der Nummer D53 transportierte 1.042 Personen (nach anderen Quellen 1.052 (Yadvashem)), meist Familien mit mehreren Kindern und einige wenige alte Personen. Warum Amalie Stutzmann zu diesem Personenkreis gehörte, wissen wir nicht.
Die Betroffenen waren erst drei Tage zuvor über die Abfahrt informiert worden, wohin sie gebracht werden sollten wurde ihnen nicht mitgeteilt (ebd.: 362-366). Eine Vermutung ist, dass ihnen erzählt worden war, dass sie nach Amerika und Palästina kommen sollten, eine Hoffnung an die sich einige klammerten (vgl. Chovalsky 1986: 228). Als Sammelplatz war die Großmarkthalle bestimmt worden. Bereits hier wurden sie hart behandelt. Kingreen zitiert den Interviewpartner Bernie Lane (früher: Werner Levi): „die ganze Nacht Untersuchungen, Schreie und Schikanen ohne Ende“ (Kingreen 1999: 363). Der Transport dauerte sechs Tage und führte über Berlin, Warschau, Bialystok, Wolkowysk, Baranowitschi nach Minsk in Weißrußland. Die Menschen hatten zu Essen, jedoch kein Wasser, viele Menschen starben. Vermutlich am 17. November erreichte der Zug das Ghetto in Minsk, einige Tage zuvor waren Transporte aus Hamburg und Düsseldorf angekommen (vgl. ebd. 363).
Das Minsker Ghetto war zunächst für weißrussische Juden eingerichtet worden. Es umfasste 40 Straßen, war etwa zwei Quadratkilometer groß und bestand aus kleinen Hütten und zweistöckigen Steinhäusern. Um Platz für die Juden aus dem „Reich“ zu schaffen ermordeteten Deutsche 6.624 der weißrussichen Juden im Ghetto. In den Hütten lagen „tote Leute […] tote Kinder mit zerschmetterten Köpfen, kleine Babys“ berichtet Bernie Lane (ebd.: 363).
Das Minsker Ghetto war unterteilt in einen südlichen und einen nördlichen Teil, getrennt durch die Republikanskaja-Straße und Drahtzäune. Im nördlichen Teil waren auch weiterhin weissrussische Juden, der südliche Teil umfasste auch das „Sonderghetto“, in welchem die „Reich and Protectorate Jews“ (Cholavsky 1986: 222) untergebracht waren.
Über die Ankfunft im Ghetto berichtet Bernie Lane weiter: Sie mussten nun zu Fuß vom Bahnhof durch das völlig zerstörte Minsk zum Ghetto, das auf der anderen Seite der Stadt lag, gehen, hin zum „Sonderghetto“. Bis Ende November 1941 waren 7.000 Juden dort einquartiert worden. Die späteren Transporte aus dem Westen, von Juni bis September 1942, wurden sofort nach Maly Trostinetz gebracht, dem Tötungslager (vgl. Cholavky 1986: 221), das sich ca. 11 km südöstlich von Minsk befand (Wieselberg 2011).
Nach Bernie Lane wurden die Frankfurterinnen und Frankfurter in kleine Holzhütten eingewiesen, pro Hütte 13-15 Personen, zwei bis drei Zimmer. Zunächst mussten sie die Toten wegschaffen. Man musste sich einrichten, meist mit Sachen der Toten aus den eigenen oder anderen Hütten. Man schlief auf dem Boden oder auf Holzbänken. Einige hatten einen Ofen in ihrem Raum.
Die deportierten Ärzte wurden nicht als Mediziner eingesetzt (Cholansky 1986). Die wenigen, die im Ghetto als Ärzte arbeiteten, mussten z.B. mit Küchenmessern operieren und es fehlte an Medizin, Vitaminen oder Seife (Cholavsky 1986: 239).
Bernie Lane berichtet weiter, dass man arbeiten musste, die Männer z.B. bei der Ziegelherstellung, die Frauen auf dem Feld. Es kam immer wieder zu willkürlichen Erschießungen, Arbeitsgruppen kamen dann nicht mehr von der Feldarbeit zurück. Erschießungen fanden wegen geringster Vergehen statt oder es gab „Aktionen“ wie im Mai 1943, als Gestapomänner in den Krankensaal des kleinen Hospitals kamen und alle Anwesenden erschossen (vgl. Kingreen 1999: 364f.).
Ab 1942 fuhren immer wieder graue große Wagen vor, Gaswagen. In solchen wurden Bernie Lanes Mutter und viele seiner Freunde umgebracht. Im Juli 1942 gab es eine „Aktion“ bei der 9.000 Menschen ermordet wurden, die Frankfurter, die im „Sonderghetto“ lebten blieben verschont (vgl. Kingreen 1999).
Verschärfend kam für die deutschen Juden in Minsk die Überalterung hinzu, wodurch nur eine geringe Zahl der Menschen als arbeitsfähig eingestuft waren. Sprachlich und psychisch waren sie von der Umgebung isoliert, was ein erfolgreiche Flucht beinahe unmöglich machte (vgl. Gerlach 1999: 756).
Über die Frankfurter Gruppe, zu der Amalie Stutzmann gehörte, stellt die Historikerin Monica Kingreen Vermutungen zu den Überlebenschancen an. Sie vermutet, dass in den ersten Monaten etwa 100 an Krankheit, Hunger und Verzweiflung getorben sind. Mindestens weitere 100 Personen an Krankheit in der folgenden Zeit. Etwa 400 Menschen wurden bei sogenannten Aktionen im Ghetto getötet oder in Gaswagen weggebracht oder kamen von Arbeitskommandos nicht zurück, 270 Peronen wurden bei der Eliminierung des Ghettos getötet. 30 Männer im April 1943 in andere Lager abgeschoben, ebenso im September 1943 etwa 80 Männer und etwa 30 Frauen. Lediglich 9 Männer erlebten nach Kingreens Vermutungen die Befreiung 1945. Auch nach Schätzungen der Autoren Alfred Gottwald und Diana Schulle überlebten von dem Frankfurter Transport nur 10 Personen (Gottwald/Schulle 2005: 93).
Das Ghetto Minsk wurde am 21. Oktober 1943 aufgelöst. Die bis zu diesem Zeitpunkt verbliebenen etwa 2.000 Häfltinge wurden in Todes- oder Arbeitslager transportiert (Epstein 2008a: 108).
Es gab im Ghetto Minsk auch ein Jüdisches Hospital (vgl. Epstein 2008a), welches als Zentrum des Widerstands beschrieben wird. Scheinbar betraf dies jedoch die weißrussischen Juden. Ob hier auch deutsche Juden beschäftigt waren bleibt zu untersuchen.
Die Route des Zuges in welchem Amalie Stutzmann deportiert wurde und die entsprechende Deportationsliste kann in Yadvashem eingesehen werden (Yadvashem).
Seit 2002 arbeitet in Minsk die Geschichtswerkstatt, die eine Website unterhält (Geschichtswerkstatt Minsk). Sie befindet sich in einem „historischen Gebäude auf dem Gelände des ehemaligen Minsker Ghettos“.
Edgar Bönisch, Stand November 2021
Literatur
Unveröffentlichte Quellen
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Alle erhielten ihre Ausbildung vor 1893. In diesem Artikel wird das Leben der Krankenschwesternschülerinnen von 1893, der Vereinsgründung, bis zum Jahr 1902, dem Umzugsjahr der Pflegerinnen in ein neu erbautes Schwesternheim neben dem Hospital der Israelitischen Gemeinde in der Königswarterstraße 20, betrachtet.
Um von einer Schülerinnengeneration zu sprechen, und das möchte ich hier, folge ich dem Soziologen Heinz Bude:
„Geburtskohorten bilden noch keine Generation, es kommt vielmehr auf die mögliche Bezugnahme auf ein gemeinsames Präge- und Wirkungserlebnis an, aus dem sich die Evidenz einer Gemeinsamkeit trotz des Unterschieds von Herkunft, Religion oder ethnischer Zugehörigkeit ergibt.“ (Bude 2000: 188)
Dieses „gemeinsame Präge- und Wirkungserlebnis“ der Krankenpflegeschülerinnen und späteren Krankenpflegerinnen, die hier vorgestellt werden, ist das gemeinsame Erleben einer bestimmten Zeitepoche, das Leben in einer gemeinsamen räumlichen Umgebung, die Zugehörigkeit zum Verein für jüdische Krankenpflegerinnen und die Ausübung des gleichen Berufs.
Die Epoche
Um das Leben in der damaligen Zeit zu beschreiben und sich damit dem Selbstverständnis der Krankenpflegerinnen und Schülerinnen zu nähern, beschreibe ich im Folgenden die Politik der Zeit, die Wirtschaft, den Antisemitismus, den Stand des medizinischen Wissens, den Beruf der Krankenschwester zu dieser Zeit, spezieller, den Beruf der jüdischen Krankenschwester.
Die Politik um 1900
Die Situation der Frankfurter Juden Für die jüdische Bevölkerung Frankfurts entfiel 1812 der Ghettozwang. 1853 konnte man von weitgehenden staatsbürgerlichen und politischen Rechten für die Juden sprechen, besonders beeinflusst durch eine Reform des Wahlrechts. 1864 kamen die Gewerbefreiheit und die völlige Gleichstellung der Juden hinzu.
In der Diskussion um den Erhalt traditioneller Werte im Judentum trennte sich die Frankfurter jüdische Gemeinde um die Mitte des 19. Jahrhunderts in eine orthodoxe Israelitische Religionsgesellschaft und die Israelitische Gemeinde Frankfurts mit einem konservativen und einem liberalen Flügel.
1885 wurden die meisten Häuser der Judengasse, dem ehemaligen Judenghetto, abgerissen und die Gasse in Börnestraße umbenannt.
Das Deutsche Reich
Ab 1871, nach dem erfolgreichen Krieg der Deutschen gegen Frankreich und der deutschen Reichsgründung änderte sich Vieles grundlegend. Die Industrialisierung nahm stark zu, die Unterschiede zwischen Arbeitern und Bürgertum wuchsen, die Armut stieg an. 1875 entstand aus dem Proletariat heraus die sozialistische Arbeiterpartei. Otto von Bismarck, der Reichskanzler von 1871 bis 1890, erließ Sozialgesetze, wenn auch vor allem, um aufkommenden Protest aus dem Proletariat zu beruhigen. So beschnitt einerseits das Sozialistengesetz von 1878 zunächst die Rechte der sozialdemokratischen und sozialistischen Vereine. Andererseits wurden soziale Zugeständnisse gemacht, durch so fundamentale Änderungen wie der Einführung der Krankenversicherung 1883, der Unfallversicherung 1889, der Invaliditäts- und Altersversicherung und der Rentenversicherung 1891 (vgl. kaiserreich-bismarcks-sozialgesetzgebung).
Im Dreikaiserjahr 1888 starb zunächst Wilhelm I., der bereits bei der Thronbesteigung sterbenskranke Sohn Friedrich II wurde nach dessen Tod von Wilhelm II beerbt. Wilhelm II. wollte „König der Bettler“ sein, er forderte das Verbot von Sonntagsarbeit, das Verbot von Nachtarbeit für Frauen und Kinder und das Verbot von Frauenarbeit während der letzten Schwangerschaftsmonate. Zumindest die Einschränkung von Arbeit für Kinder unter vierzehn Jahren bezeichnete Bismarck als „Humanitätsduselei“, er wurde 1890 als Kanzler entlassen (vgl. kaiserreich-bismarcks-sozialgesetzgebung).
Wilhelm II. wollte allerdings auch wieder mehr persönliche Macht, unabhängig von Reichskanzler und Regierung, womit er allerdings immer wieder mit den Bestimmungen der Verfassung in Konflikt kam, etwa bei dem Versuch Ausnahmegesetze gegen die Sozialdemokratie durchzusetzen. Auch außenpolitisch war er offensichtlich ungeschickt, in der Daily-Telegraph-Affäre von 1908/09 stiftete er Verwirrung, indem er die deutsche Außenpolitik in mehrfacher Hinsicht bloßstellte, die Briten fanden Wilhelm anmaßend, die Franzosen und Russen taktlos (vgl. daily-telegraph-affaire). Als Ergebnis war Reichskanzler von Bülows Position gefestigt und Wilhelm lenkte auf eine verfassungsgemäße Linie ein (vgl. obrigkeitsstaat-und-basisdemokratisierung).
Die Zeit ab ca. 1890 wird heute als erstes deutsches Wirtschaftswunder bezeichnet. Mit ihren Stärken in der Großchemie, Elektrotechnik und beim Maschinenbau stand das Deutsche Reich 1913 in der Weltindustrieproduktion an zweiter Stelle hinter den USA, im Welthandel ebenfalls auf dem zweiten Platz hinter Großbritannien. Für viele Menschen, besonders in der Industriearbeit besserten sich dadurch die Lebensverhältnisse und die Gründung von Gewerkschaften war eine Folge. Immer schwerer hatten es die Menschen, die ihr Geld in häuslicher Arbeit oder im traditionellen Handwerk verdienten
Durch Schuldzuweisungen an die Juden in der Wirtschaftskrise von 1873 und der darauffolgenden Pleitewelle bei Geschäften und Unternehmen, wurde der Antisemitismus geschürt. Wilhelm Marr gründete 1879 die „Antisemitenliga“ und Max Liebermann von Sonneberg und Bernhard Förster gründeten 1881 den antisemitischen Deutschen Volksverein (vgl. antisemitische-parteien). Den „Rassegedanken“ förderten z. B. 1890 Paul de Lagarde mit seiner Publikation „Deutsche Schriften“, er trat für die Einheit von „Rasse und Religion“ ein. 1899 sprach Houston Stewart Chamberlain, der Schwiegersohn von Richard Wagner, von der „germanischen“ bzw. der „arischen Rasse“. Die antisemitischen Parteien gewannen 1893, mit 2,9 % der Stimmen, 16 Mandate im deutschen Reichstag.
Die Schwesternschülerinnen der Ausbildungsjahrgänge 1893 bis 1902 kamen in ein Berufsfeld, das von enormen medizinischen Entdeckungen und Neuerungen im 19. Jahrhundert geprägt war.
Hinweis: Die Tabelle wird aktuell überarbeitet
Gemeinsam mit der Medizin entwickelten sich die Krankenhäuser und damit die Pflege. Die Pflegehistorikerin Eva-Maria Ulmer schreibt, dass das alte Hospital sich „von einer Aufbewahrungsstätte für mittellose Kranke, Alte und Gebrechliche zu einem medizinischen Zentrum, in dem nur noch Kranke sein sollten“ entwickelte (vgl. der-beginn-der-beruflich-ausgeuebten-pflege). Weiter führt sie an, dass durch diese Veränderung auch begüterte Gesellschaftsgruppen in die Krankenhäuser kamen, und die Ärzte entdeckten das Krankenhaus für sich als einen Ort der Forschung und Lehre (vgl. ebd.). Die Medizin definierte sich nun als Naturwissenschaft, die Pflegehistorikerin Hilde Steppe beschreibt: Nachdem man lange, im Mittelalter, Mensch, Welt, Leib und Natur als verschieden, jedoch nicht erforschbare Objekte gesehen habe und Krankheit als Strafe Gottes verstanden habe, habe man in der Renaissance begonnen den Körper zu untersuchen. Natur und Körper würden nun getrennt gesehen, wissenschaftlich-rationale Erklärungsmodelle seien nun von Gesundheit und Krankheit entwickelt worden: „Gesundheit wird in diesem Kontext bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu einem bürgerlichen Ideal, welches individuell zu verantworten, staatlicherseits zu unterstützen und durch wissenschaftlich qualifizierte Experten zu kontrollieren ist.“ (Steppe 1997: 43)
Die Entwicklung in Medizin, Pflege und Krankenhauswesen wurden gefördert, so Steppe, da, durch die industrielle Revolution die Gesundheit der arbeitsfähigen Bevölkerung eine besondere Bedeutung erhalten hatte (vgl. ebd.). Innerhalb des Gesundheitswesens manifestierten weiterhin die Männer ihre Vorherrschaft. Frauen waren zuständig für die Hilfsdienste, das Medizinstudium war ihnen lange verwehrt. Es sollten, so Ulmer, „nicht mehr nur religiös gebundene Schwestern oder Wartepersonal, proletarische, nicht ausgebildete Frauen und Männer, sondern gebildete Frauen, die die notwendige Betreuung während der Abwesenheit der Ärzte sicherstellen konnten“ den Pflegeberuf ergreifen.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kann man die Pflegeverbände grob in vier Gruppen einteilen. Die katholischen Ordenspflege, aus Frankreich kommend. Die evangelische Diakonissenpflege, die sich 1936 in Kaiserswerth unter Theodor Fliedner in einer Diakonissenanstalt etablierten. Die dritte große Gruppe war die Schwesternschaft des Roten Kreuzes und viertens die frei arbeitenden Schwestern. In Zahlen heißt das:
1876
1898
Gesamtzahl:
8.681
26.427
In katholischen Mütterhäusern
5.763
12.427
In evangelischen Mütterhäusern
1.760
7.576
Andere
525
3.613
Freie Schwestern
655
2.398
Quelle: Jutta Helmerichs (Helmerichs 1992)
Zur Ausprägung der Lerninhalte des Pflegepersonals berichtet Ulmer: So seien es nicht die Krankenschwestern, die die Inhalte ihrer Berufsausbildung formten. Es seien in erster Linie gut ausgebildete Frauen, die die Ärzte vertreten konnten, wenn diese nicht am Krankenbett stünden, gegangen. Auch nach der nochmaligen Steigerung der Patientenzahlen in Folge der Einführung des Krankenversicherungsgesetztes wurde die Forderung nach Krankenpflegeausbildung lauter, die unabhängig von den Orden bestimmt wurde und den Einbezug der Erkenntnisse der Medizin forderte. Auch aus der Frauenbewegung kamen Forderungen nach einer professionellen Ausbildung, einer angemessenen Bezahlung und einer Ausbildung, die spezielle Kenntnisse und Fertigkeiten vermitteln sollte. Das Krankenpflegegesetz von 1907 regelte dann die Ausbildung der Krankenpflegerinnen und sah einen staatlichen Abschluss vor. Davor wurden die variierenden Ausbildungsinhalte von den unterschiedlichen Mutterhäusern festgelegt (vgl. der-beginn-der-beruflich-ausgeuebten-pflege)
Um die Anforderungen an das Pflegepersonal zu erfüllen nahm die Professionalisierung des Krankenschwesternberufs, auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zu.
Die jüdische Krankenpflege
„Rosalie Jüttner aus Posen war 1881 vermutlich die erste Pflegerin, die an einem jüdischen Krankenhaus in Deutschland ausgebildet wurde“ (Seemann / Bönisch 2011, 51-74). Dr. Simon Kirchheim und sein Assistenzarzt Dr. Theophil Jaffé unterrichteten sie etwa ein Jahr lang am Hospital der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main. Im Abschlusszeugnis hieß es: „Dieselbe hat während dieser Zeit […] tief in allen Zweigen der Krankenpflege sowie in kleinen chirurgischen Verrichtungen und leichteren Verbänden sich zu unterrichten genügend Gelegenheit gehabt […] und selbständig die Krankenpflege einer Abteilung zum Schluß geleitet.“ Danach arbeitete Rosalie Jüttner in der Privatpflege, vermutlich in Posen, da ihre Ausbildung von der jüdischen Gemeinde in Posen angefordert worden war (vgl. Verein für jüdischen Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1902).
In den folgenden Jahren diskutierten die jüdischen Gemeinden deutschlandweit über die Notwendigkeit eine eigene berufliche Krankenpflege zu etablieren. Federführend war deren 1872 konstituierter Dachverband, der Deutsch-Israelitische Gemeindebund (DIGB). Der DIGB förderte die Diskussion durch die Anforderung von Gutachten: So schrieb Dr. E. Stern aus Berlin, dass er in der Stadt keinen Bedarf für eine eigene jüdische Pflege sähe, da die dortigen nichtjüdischen Institutionen ausreichten und weibliche jüdische Gemeindemitglieder sich ehrenamtlich um die Kranken kümmerten; anders sei jedoch die Lage in ländlichen Gebieten. Bedenken äußerte er bezüglich klosterähnlicher Einrichtungen nach dem christlichen Mutterhausmodell, da „der unbedingte Gehorsam gegen die Kirche und ihre sichtbaren großen und kleinen Führer […]“ (zit. n. Steppe 1997: 92). dem Judentum nicht entspräche. Eine Umfrage unter den jüdischen Gemeinden ergab ein geteiltes Stimmungsbild: Die Gegner einer beruflichen Krankenpflege sahen den Aufgabenbereich der Frau in Ehe und Familie und betonten die heilige und deshalb ehrenamtlich zu erfüllende Pflicht des Krankenbesuchs. Trotz der Kontroversen beschloss der DIGB 1882 die „Förderung des jüdischen Krankenpflegewesens“ und verabschiedete 1883 einen Organisationsplan zur finanziellen Unterstützung (z. B. Übernahme der Ausbildungskosten) künftiger jüdischer Krankenpflegerinnen. Die erste Liste interessierter Kandidatinnen umfasste neun Namen.
Ein wichtiges Argument für die berufsmäßige jüdische Pflege sah man darin: „Das Judentum [zu] repräsentieren und Anerkennung durch das deutsche Bürgertum [zu] erwerben“ (Steppe 1997: 306). Damit dieses Ziel erreicht werden konnte, sollten „Jüdische Krankenschwestern [ … ] die Besten sein, mit den neuesten medizinischen Wissensstand, mit persönlich untadeligem Verhalten, mit ständiger Bereitschaft zum Einsatz und ständiger Verkörperung positiver jüdischer Normen“ (ebd.).
Die gemeinsame räumliche Umgebung der Krankenpflegerinnen des Vereins
Die Lebensform „Mutterhaus“
Im Rahmen der Professionalisierung der jüdischen Krankenpflege wurde über die Unterbringung von Schwestern in Mutterhäusern diskutiert. Mit dieser Form einer Lebensgemeinschaft waren vor allem die evangelischen Diakonissenhäuser gemeint, die, nach der Idee Theodor Fliedners, seit 1836 mit der Gründung der Diakonissenanstalt in Kaiserswerth, entstanden. „Fliedner übernahm Teile des katholischen Modells, die Abgeschiedenheit und die karitativ-christliche Auffassung der Krankenpflege. Andererseits springt die Orientierung am bürgerlichen Modell der Familie ins Auge, der Theologe und die Oberin an der Spitze, darunter die „Kinder“ (Diakonissen), für die gesorgt wird, alle in einem Haus. Dieses als Mutterhaus beschriebene System ist eine typisch deutsche Entwicklung, in der persönliche Unfreiheit mit sozialer Absicherung verbunden war […]. Auch die jüdischen Krankenpflegevereine organisierten sich als Mutterhäuser“ (der-beginn-der beruflich-ausgeuebten-pflege), wenn auch weit mehr „weltlicher“ an der Rechtsform des Vereins orientiert (vgl. Steppe 1997: 251).
Das „Häuschen“
Neben dem alten Hospital der Israeltischen Gemeinde in der Königswarterstraße mietete 1893 der neu gegründete Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt e. V. „eine erste Unterkunft, das ,Häuschen‘“ (Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1920: 19). Die Adresse war Am Thiergarten. Die Straße Am Thiergarten führte damals um den Zoo herum, ein kleiner Teil berührte auch die Fläche des Grundstücks um das Hospital (vgl. Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1898: 4). Im Lauf der Zeit nannten die Bewohnerinnen es das „Häuschen“. Im Jahresbericht des Vereins für 1897 lassen sich die Lebensbedingungen im Vereinshaus nachlesen: Eine Lernschwester, die sich verpflichtete, nach Vollendung der Ausbildungszeit mindestens weitere drei Jahre dem Verein anzugehören, wird „unter die Vereinsschwestern aufgenommen, erhält völlig freie Station (Wohnung, Kost, Heizung, Beleuchtung, Dienstkleidung, Wäsche) im Vereinshause und in den ersten zwei Jahren 360 Mk. jährliches Gehalt, das von da ab alle zwei Jahre um 60 Mk. bis zum Höchstgehalt von 600 Mk. steigt. Dienstunfähig gewordene Pflegerinnen erhalten eine angemessene Pension“ (Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1897: 449). In dem zitierten Rechenschaftsbericht von 1897 wurde auch darauf hingewiesen, dass das angemietete Schwesternhaus nicht mehr ausreiche, und man rief zu Spenden für ein neues eigenes Haus auf.
1898 verließen die Schwestern die bisher vom israelitischen Gemeindehospital überlassene Wohnung „Am Thiergarten“ und bezogen vorübergehend ein provisorisches Heim in der „Unteren Atzemer 16“ (vgl. Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1899: 4).
Untere Atzemer 16
1898 zogen die Krankenschwestern in die Untere Atzemer 16, zwei Querstraßen entfernt vom Israelitischen Gemeindehospital. Heute ist vom Haus bekannt, dass zuvor von 1888 bis 1897 in dem Haus der Maler Gustav Ballin mit seiner Familie lebte (vgl. Frankfurter Adressbücher).
Schräg gegenüber stand das 1881/82 erbaute Bruderhaus der Barmherzigen Brüder, deren Krankenhaus an diesem Ort wohl noch bis weit in das 20. Jahrhundert genutzt wurde (vgl. https://www.frankfurt-lese.de/index.php?article_id=323).
Das Haus 16 befand sich dort, wo heute Betriebsflächen des Frankfurter Zoos untergebracht sind.
Das neue Gebäude in der Königswarterstraße 20
1899 wurde ein Grundstück neben dem Königswarter Hospital angekauft. Nach einem Ausschreibungsverfahren erhielt der Architekt Max Seckbach den Zuschlag für einen Neubau des Schwesternhauses (vgl. Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1900: 4) 1902 schließlich zogen die Schwestern in das neue Gebäude in der Königswarterstraße 20 um (Vgl. Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1899: 4). Über die Architektur, die Inneneinrichtung und vor allem das Leben in diesen ersten Schwesterhäusern wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt recht wenig. Viel mehr Informationen haben wir über das Schwesternhaus, welches 1914 in der Bornheimer Landwehr 85 neu eröffnet wurde.
Die Schwestern im Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main und ihre Ausbildungsstätte
Der Verein
Die Ärzte Simon Kirchheim und Alfred Günzburg und – vor allem der Bankier Meier Schwarzschild – planten 1893 die Gründung eines Vereins zur Förderung der jüdischen Krankenpflege. Ebenso begannen die zwischen 1889 und 1893 ausgebildeten Krankenschwestern Minna Hirsch, Frieda Brüll, Klara Gordon, Lisette Hess und Thekla Mandel sich zu organisieren, sie bildeten den „Verband jüdischer Krankenpflegerinnen“. Beide Initiativen zusammen gründeten am 23.10.1893 den „Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main“. Zur Oberin war bereits Minna Hirsch gewählt worden.
Die Pflegewissenschaftlerin Hilde Steppe bezieht sich in den folgenden Angaben auf die Satzung und Bestimmungen des Vereins von 1893 und, da diese nicht vollständig erhalten sind, von 1900 (vgl. Steppe 1997: 202f.). Erreichen wollte man mit dem Verein, dass jüdische Mädchen eine Ausbildung zur Krankeschwestern bekamen und, dass ausgebildete jüdische Krankenschwestern für die bezahlte Privatpflege und die kostenlose Armenpflege für Patienten aller Konfessionen zur Verfügung standen (Steppe 1997: 202, dort vgl.: Verein zur Ausbildung jüdischer Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main, Populärwissenschaftliche Monatsblätter 13/1893 Nr. 11, S. 248-250).
Jeder und jede konnte Mitglied werden und auch den Vereinsbeitrag selbst bestimmen (vgl. ebd.). Der Vorstand, unter Vorsitz von Dr. Simon Kirchheim, setzte sich aus neun Männern (mindestens zwei Ärzten) zusammen, alle sollten in Frankfurt ihren Wohnsitz haben. Dem Vorstand war es vorbehalten über die Zulassung von Bewerberinnen zu bestimmten, die Hausordnung festzulegen, wie auch Bestimmungen zum Dienstablauf, zur Pension und zu den Gehältern oder auch die Bestimmung der Oberin. Sämtliche Bezahlungen von Dienstleistungen gingen direkt an den Verein, es gab also keinen Arbeitsvertrag, sondern die Schwestern und Schülerinnen unterschrieben die Einwilligung in die Bestimmungen des Vorstands (vgl. ebd.).
Zu den Aufnahmebestimmungen zur Ausbildung gehörten (vgl. ebd.): Die Schwesternschülerinnen sollten Angehörige der jüdischen Konfession sein, zwischen 21 und 36 Jahren alt sein, einen tadellosen Ruf haben, gesund und arbeitsfähig sein, sie sollten mindestens Elementarschulkenntnisse haben und Erfahrung in Hausarbeit.
Die Ausbildung selbst (ein Jahr lang) fand in Frankfurt oder Köln statt (Stand 1893). Gehorsam gegenüber Vorgesetzten und Achtung der Hausordnung waren Bedingungen. Es gab eine Probezeit von drei Monaten, die Kündigungsfrist war für die Schülerinnen zwei Wochen. Während der Ausbildung erhielten die Schülerinnen freie Kost und Logis, plus 10 RM im Monat als Taschengeld.
Es gab eine Abschlussprüfung (hausintern) inklusive einer Gesundheitsprüfung, die zum Eintritt in die Schwesternschaft berechtigte. Nach drei verpflichtenden Jahren erhielten die Schwestern letztlich ihr Diplom und wurden dann Mitglied im Verein. Die Möglichkeit nach den religiösen Vorschriften zu leben, auch in der Privatpflege, wurde ihnen zugesichert (z.B. arbeitsfreier Sabbat). Sie brauchten nicht mehr als zwei Nachtwachen hintereinander zu leisten, gerade in der Privatpflege wurden ihnen für jeden Tag ein bis zwei Stunden Spaziergänge außer Haus zugesagt.
Weiter fasst Steppe zusammen (vgl. Steppe 1997: 204 ff.): Am Ende des ersten Vereinsjahres (1893) beherbergt der Verein 10 ausgebildete Krankenschwestern. Davon sechs, die vor der Vereinsgründung ausgebildet wurden. Von den 10 waren drei in Frankfurt und eine in Köln im Asyl für Kranke und Altersschwache. Eine Schwester war zu dieser Zeit krank, somit konnten fünf Schwestern den Dienst als Privatpflegerinnen anbieten, was von Patienten aller Konfessionen angenommen wurde. Darüber hinaus waren drei Schülerinnen in Frankfurt zur Ausbildung, Ausbilder war Dr. Deutsch und weitere drei waren in Köln in der Betreuung von Dr. Auerbach.
Eine Bilanz des ersten Jahres fiel sehr positiv aus. Der Verein hatte bereits 662 Mitglieder und die Spendenbereitschaft für den Verein und seine Pensionskasse war groß. Die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen war stark, z. B. bewarben sich im zweiten Jahr 23 Frauen, von denen allerdings nur vier genommen werden konnten. Anfragen kamen auch aus den Niederlanden und Dänemark. Bereits im ersten Jahr konnte eine kostenlose Armenschwester zur Verfügung gestellt werden. Angefordert durch praktische Ärzte, kümmerten sie sich neben der Krankenpflege auch um Lebensmittel Wäsche oder Geld. Dies entsprach der traditionellen jüdischen Wohltätigkeit.
Sowohl im ersten als auch im zweiten Jahr starben je eine junge Krankenschwester, die eine, Hedwig Kerb, an Hirnhautentzündung, die andere, Rosa Salinger, an einer schweren Infektion (vgl. Steppe 1997: 204, 205).
1898 kam eine Kooperation mit dem Israelitischen Krankenhaus in Hamburg hinzu. Die Frankfurter Vereinsschwester Klara Gordon wurde Oberin in Hamburg.
Das Hospital der Israelitischen Gemeinde
Die Wohnorte der Schwestern und Schwesternschülerinnen waren direkt an ihre Ausbildungs- und Arbeitsstätte angebunden, dem Hospital der Israelitischen Gemeinde in der Königswarterstraße 26, die zur Bauzeit noch Grüner Weg hieß (vgl. Beschreibung der am 27. Juni 1875 stattgefundenen Feierlichkeiten…).
Zu den, bis Mitte des 19. Jahrhunderts, insgesamt in Frankfurt am Main bestehenden Krankeneinrichtungen kamen bis 1888 weitere 11 Krankenhäuser hinzu (vgl. Steppe 1997: 182). Beispielsweise: ein Haus der evangelischen Diakonissen 1870, die Diakonissinnen der Methodisten führen seit 1876 das Bethanien-Krankenhaus, Barmherzige Brüder eröffneten 1882 ein Hospiz, Barmherzige Schwestern ebenfalls 1882 oder das St. Elisabethenkrankenhaus in Bockenheim. Bei der Gründung eines Hospitals der Israelitischen Gemeinde war besonders Sanitätsrat Dr. Heinrich Schwarzschild hervorzuheben, sein Wunsch war es, das veraltete Medizinwesen und Pflegewesen zu ergänzen bzw. abzulösen (vgl. Chronik Hospital der Israelitischen Gemeinde).
So kam es zur Errichtung des Hospitals der Israelitischen Gemeinde 1875, gefördert durch das Stifterehepaar Elisabeth und Isaac Königswarter, zu deren Ehren der Grüne Weg in Königswarterstraße umbenannt wurde.
Zu Beginn war das Hospital für 80 Betten geplant und sollte, gemäß den medizinischen Entwicklungen, angepasst werden können (vgl. Steppe 1997: 197). Entsprechend der 1886 neu gefassten Hospitalordnung war das Krankenhaus vorgesehen für Frankfurter Gemeindemitglieder und deren Dienstboten, wie auch für anderen in Frankfurt wohnende Israeliten und auf Reisen befindlichen Personen und für Personen, die durch die städtischen Behörden eingewiesen wurden (vgl. ebd.).
Das Personal bestand zunächst aus angelernten Wärterinnen und Wärtern. Sowohl Verwaltung (Abraham Seckbach) als auch der ärztliche Leiter (Dr. Simon Kirchheim) befürworteten Reformen, so dass 1881 Rosalie Jüttner aus Posen die vermutlich erste in einem jüdischen Krankenhaus ausgebildete Krankenschwester war. Dr. Kirchheim und sein Assistent Dr. Theophil Jaffé waren die Ausbilder.
Die um das Thema der Notwendigkeit einer eigenständigen jüdischen Krankenpflege entstandene Debatte wurde bereits im Kapitel „Die jüdische Krankenpflege“ weiter oben angesprochen.
Im Königswarter Hospital erhielten auch die Krankenschwestern, die später den Verein jüdischer Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main gründeten ihre Ausbildung. Minna Hirsch, Lisette Hess, Thekla Isaacsohn, Frieda Brüll/verheiratete Wollmann und Klara Gordon.
Ausgebildet wurden die Schwesternschülerinnen durch die Ärzte des Hospitals. Ab 1877 war Simon Kirchheim Hospitalsarzt, Max Hirschberg Operateur. Assistenzärzte waren ab 1870 Dr. Teophil Jaffé, ab 1886 Dr. Alfred Günzburg, ab1891 Dr. Adolf Deutsch, von 1895 ab Dr. M. Sachs. Als die Aufgaben 1897 getrennt wurden, war Dr. Deutsch Armenarzt, und Assistenzarzt war Dr. L. Berlizheimer, ab 1900 Dr. Jakob Meyer.
Im Jahr 1901 wurde das erste Mal eine Erweiterung oder ein Neubau des Hospitals erörtert. Nachdem der Polizeipräsident das Fehlen von Tageräumen im alten Hospital in der Königswarterstraße angemahnt hatte und mit Schließung drohte, war der Gemeindevorstand im Zugzwang und gründete eine Kommission zur Prüfung des Ausbaus des alten Hospitals oder der Möglichkeit eines Hospitalneubaus. Die Kommission bestand neben Mitgliedern des Vorstands des Gemeindeausschusses und des städtischen Pflegeamts aus den Hospitalärzten Dr. Kirchheim und Dr. Hirschberg. 1904 folgte die Empfehlung für einen Neubau, der zehn Jahre später, 1914, eingeweiht wurde (vgl. Hanauer 1914: 55).
Die Schwesternschülerinnen der Jahre 1893 bis 1902
Privatpflege, ab 1907 in Basel, Oberin Basel, ab 1908 wieder in Frankfurt, auch Säuglingsfürsorge, 1914-18 Lazarettpflege. Letzter bekannter Aufenthalt: Gurs
Privatpflege, Israelitisches Krankenhaus Hamburg und in Heilbronn, während des ersten Weltkriegs besonders Rehabilitation der Verwundeten durch „Handfertigungskurse“,1917 pensioniert
Jüdisches Krankenhaus Köln, um 1913 Hamburg und Basel in der Privat- und Armenpflege. Dann in Frankfurt in der Säuglingsmilchküche. 1920 Pensionierung. 1940 zwangsweise vom Schwesternheim ins Gagernkrankenhaus umgezogen. 1942 Suizid in Frankfurt am Main.
Ausgeschieden 1903, 1904, im ersten Weltkrieg Pflege im Lazarett 27
20
Maier, Sophie
Vor 1897, Köln
1865-1940
Bergkirchen, Kreis Minden
Frankfurt am Main
Privatpflege, Stationen in den Frankfurter Vereinsaussenstellen: „Königswarter Hospital“, Hamburg, Heilbronn, Neuenahr. Oberin in Neuenahr. Oberin und Leiterin des Israelitischen Altenheims zu Aachen. Seit 1937 im Schwesternhaus verstorben, dort 1940 gestorben.
Tätig in der Privatpflege und im Krankenhaus, Auswanderung in die USA 1902.
23
Neumark, Käthe
1897
1871-1939
Emden
Zandvoort, Niederlande
Ab 1902 nach Schulabschluss, Medizinstudium, 1910 Promotion in München. Ab 1912 Kinderärztin. 1914-15 Lazarettdienst im Vereinslazarett 27. Dann Sanitätsoffizierin in Halle. Ab 1919 Frankfurts erste Schulärztin. Ab 1933 Kinderheim in Zandvoort. Anne und Margot Frank waren hier 1934 Gäste.
Privatpflege, Armenpflegerin, „Königswarter Hospital“, 1909-1914 war sie Hausschwester im Genesungsheim der Kann-Stiftung in Oberstedten. 1914-18 Vereinslazarettzug P.I. 1942 Deportation nach Theresienstadt. Gestorben in Theresienstadt 1942.
Ca. 1904 Austritt aus dem Verein. Mehrfach ausgezeichnet als Feldschwester im ersten Weltkrieg. 1933-39 Oberin des Berliner jüdischen Krankenhauses und der Schwesternschaft. Vermutlich Ende 1939 Suizid.
Privatpflege und Krankenhaus in Frankfurt und Hamburg. Ab 1907 im Gumpertz’schen Siechenhaus. Oberin und Verwalterin des Hauses. 1914-18 Oberin des Lazaretts 27. Austritt aus dem Verein und Hochzeit mit Hermann Seckbach dem Verwalter des Alten- und Pflegeheims, eine Tochter. 1942-45 Häftling in Theresienstadt. Rettungstransport in die Schweiz, Wiedersehen mit Mann und Tochter in Manchester. Sie starb 1949 in Manchester.
Privatpflege und Krankenhaus in Frankfurt a.M. 1911-14 Oberin in Straßburg. 1914-18 Oberin Festungslazarett XXI B in Straßburg. 1918 wieder in Frankfurt. Ab 1925 Nachfolge von Minna Hirsch als Oberin im Frankfurter Krankenhaus. 1941 Deportation nach Litzmannstadt.
Sie kam aus Trier zur Ausbildung. Dann Privatpflege, Hamburg und in Heilbronn in den Krankenhäusern. 1917 wurde sie Oberin im Krankenhaus der Israelitischen Krankenkasse (Frauenkrankenkasse).
33
Adelsheimer, Sarah
1901
1877-1965
Jebenhausen
Tel Aviv
1902-1914 Pflege im Königswarter Hospital. Auch Armen- und Privatpflege. 1914-18 Kriegskrankenpflege in Bulgarien. 1925 Oberin des Schwesternvereins. 1933 Emigration nach Palästina.
In der Bilanz der ersten zehn Jahre verzeichnete man 43 Schülerinnen, die der Verein zur Ausbildung aufgenommen hatte (vgl. Eröffnungsfeier 1902). Da nicht alle Schülerinnen die Ausbildung beendeten und nicht alle der Ausgebildeten im Verein geblieben waren, gab es zu diesem Zeitpunkt, Ende der ersten 10 Jahre, 24 aktive Schwestern. 13 dieser Aktiven waren in der Privatpflege tätig, eine als Armenschwester. Im Frankfurter Hospital arbeiteten fünf und in Hamburg drei der aktiven Schwestern. Thekla Mandel war Oberin des Gumpertz’schen Siechenhauses, eine weitere Schwester war zu dieser Zeit beurlaubt (vgl. Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1902. Zur Anerkennung für ununterbrochene Tätigkeit im Verein hatten sechs der Schwestern die „goldene Brosche“ erhalten. Die professionelle jüdische Krankenpflege in Frankfurt hatte sich fest etabliert. Der Bedarf nach weiterem ausgebildetem Personal blieb weiter hoch (vgl. Steppe 1997:207).[/vc_column_text][/vc_column][/vc_row][vc_row][vc_column][vc_column_text]Zunächst verweise ich hier kurz auf vier Biografien zu denen es bereits ausführliche Artikel auf der Internetseite www.juedische-pflegegeschichte.de gibt.
Ausbildung 1897, Studium und Promotion Medizin 1910, Kinderärztin, Lazarettdienst, Sanitätsoffizierin, Schulärztin in Frankfurt a.M. ab 1919, Kinderheim in Zandvoort ab 1933.
Ausbildung 1900, Oberin und Verwalterin des Gumpertz`schen Siechenhauses ab 1907, Oberin des Lazaretts im Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde 1914-18, Heirat mit Hermann Seckbach, Verwalter des Gumpertz`schen Siechenhauses, Interniert in Theresienstadt, Exil in Manchester mit Mann und Tochter.
Ausbildung 1901, 1902-1914 Pflege im Königswarter Hospital einschließlich Armen- und auch Privatpflege, 1914-18 Kriegskrankenpflege in Bulgarien, teils im Lazarettzugab „P 1“, 1925 Oberin des Schwesternvereins, 1933 im Exil in Palästina.
Im zweiten Teil der Biografien führe ich vier weitere Lebenswege auf, die typische Werdegänge von Schwestern zeigen, die in den Jahren 1893 bis 1902 ausgebildet wurden.
Betty Schlesingers Kurzbiografie zeigt einen erfolgreichen Berufsweg, der beispielhaft für ausgebildete Krankenpflegerinnen ihrer Generation ist.
Sie wurde am 8. Oktober 1866 in Pforzheim geboren. 1893 wurde sie zur Ausbildung im Frankfurter Verein aufgenommen. Zum Dienstjubiläum 1903 erhielt sie die „Goldene Brosche“ des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins (vgl. Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1920: 21). Viele Jahre arbeitete sie in der Privatpflege bis sie 1907 vom Verein in die Schweiz geschickt wurde, um Oberin des im Dezember 1906 eröffneten Israelitischen Spitals zu Basel zu werden. Hieraus sieht man die fachliche Kompetenz Betty Schlesingers, wie auch die internationale Bedeutung der Frankfurter jüdischen Krankenpflegevereins.
1908 kehrte Betty Schlesinger nach Frankfurt zurück und wirkte bis 1911 u.a. im Frankfurter Verband für Säuglingsfürsorge. 1912 schied sie aus dem Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main aus, kehrte jedoch 1914 zurück, um sich an der Pflege von Verwundeten zu beteiligen.
Zuletzt lebte Betty Schlesinger in ihrer Geburtsstadt Pforzheim. Von dort aus wurde die 74-jährige Pensionärin am 22.10.1940 in das südfranzösische Lager Gurs deportiert, wo sich ihre Spuren verlieren.
Sophie Meyers Werdegang zeigt die Möglichkeit die Ausbildung in Köln zu starten.
Geboren wurde Sophie Meyer (manchmal auch Maier, später auch „Schwester Bertha“) am 27. Februar 1865 in Bergkirchen (gehört heute zu Bad Oeynhausen). Zur Ausbildung als Krankenpflegerin kam sie 1897 ins Kölner Jüdische Krankenhaus (Israelisches Asyl für Kranke und Altersschwache) (vgl. Steppe 1997: 226 und ISG: Blatt 51). Nach ihrer Ausbildung arbeitete sie in der Privatpflege, im Frankfurter Hospital der Israelitischen Gemeinde („Königswarter Hospital“), im Israelitischen Krankenhaus Hamburg sowie in Heilbronn und (Bad) Neuenahr. Alle Orte, in denen sie sich aufhielt und arbeitete, hatten Vereinbarungen mit dem Frankfurter jüdischen Schwesternvereins geschlossen.
Auch Sophie Meyer erhielt 1907 zu ihrem zehnjährigen Dienstjubiläum die „Goldenen Brosche“ des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins. Seit 1910 leitete sie das Israelitische Krankenheim in Bad Neuenahr (vgl. alemannia judaica). Ab 1913 leitete sie im Auftrag des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins das Israelitische Altenheim in Aachen.
Sophie Meyer zog 1937 von der Frankfurter Jügelstraße 46 in die Bornheimer Landwehr 85 (dem Schwesternhaus des Vereins), wo sie 1940 starb (vgl. Steppe 1997: 226).
Ida Holz‘ Arbeitsleben war während des ersten Weltkriegs geprägt von ihrer Tätigkeit im Lazarettzug P 1. Viele Jahre wirkte sie im Jüdischen Genesungsheim der Eduard und Adelheid Kann-Stiftung in Oberstedten (Oberursel/Taunus).
Geboren wurde Ida Holz am 11. Juli 1875 in Karlsruhe. Ihre Ausbildung erhielt sie 1897 in Frankfurt, wonach sie als Krankenpflegerin in der Privatpflege, als Armenpflegerin sowie als Krankenpflegerin im Hospital der Israelitischen Gemeinde Frankfurt tätig war. 1909 bis 1914 war sie Hausschwester des Jüdischen Genesungsheims in Oberstedten. Während des Ersten Weltkrieges pflegte Ida Holz Verwundete im Vereinslazarettzug P 1.
Nach ihrer Pensionierung nutzte sie ihr Wohnrecht im jüdischen Schwesternhaus in der Bornheimer Landwehr 85. Als die Nazis das Gebäude räumten, musste Ida Holz zusammen mit ihren Kolleginnen in das Krankenhaus in der Gagernstraße 36 umziehen – die letzte Wohnadresse vor der Deportation. Ida Holz wurde am 19. August 1942 mit dem Transport XII/1 von Frankfurt in das Konzentrations- und Durchgangslager Theresienstadt deportiert. Von den 1013 Deportierten dieses Transports überlebten nach bisherigem Kenntnisstand nur 17 Menschen. Ida Holz starb am 5. Dezember 1942 im KZ Theresienstadt, offiziell an einer Lungenentzündung (vgl. Todesfallanzeige) Schwester Ida wurde 67 Jahre alt.
Rosa Goldstein wurde am 21. Januar 1874 in Göppingen (Baden-Württemberg) geboren. Ihre Ausbildung in Frankfurt am Main erhielt sie 1894, gefolgt von Arbeit in der Privat- und Armenpflege (vgl. Steppe 1997: 226).
Um 1902 setzte der Frankfurter jüdische Schwesternverein Rosa Goldstein als Leiterin der Kostkinderkommission des von Bertha Pappenheim und Henriette Fürth gegründeten Israelitischen Frauenvereins Weiblichen Fürsorge e.V. ein: „Hier werden Kinder ab einem Alter von etwa zwei Jahren, die entweder Waisen sind oder in ihren Familien zu verwahrlosen drohen, in Pflegefamilien in und um Frankfurt vermittelt und regelmäßig besucht.“ (Steppe 1997: 258)
Um 1903 verließ Rosa Goldstein den Schwersternverein und kehrt nach Göppingen zurück, um Leopold „Moritz“ Fleischer (1869-1938) zu heiraten. Um 1905 zieht das Ehepaar nach Cannstadt (heute Bad Cannstadt). In Cannstadt war Leopold Fleischer als Prokurist bei der Mechanischen Gurten- und Bandweberei Gutmann und Marx angestellt. Rosa Fleischer gebar die Kinder Edgar Siegfried (1906-1937), Sofie Gabriele (1909-?) und Elisbeth Beate (1918-1941).
Edgar Bönisch, Stand November 2021
Quellen
Archivmaterial
ISG – Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main: Hausstandsbuch HB 655, Bornheimer Landwehr 85.
Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1897: Jahresbericht. Stiftung Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum. Sign. 1, 75 C Ge1 Nr. 972.
Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1898: 5. Jahresbericht. Stiftung Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum. Sign. 1, 75 C Ge1 Nr. 973.
Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1899: 6. Jahresbericht. Stiftung Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum. Sign. 1, 75 C Ge1 Nr. 973.
Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1900: 7. Jahresbericht mit Anhang. Die Eröffnungsfeier, Stiftung Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum. Sign. 1, 75 C Ge1 Nr. 973.
Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1902: 9. Jahresbericht mit Anhang. Die Eröffnungsfeier, Stiftung Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum. Sign. 1, 75 C Ge1 Nr. 973.
Literatur
Beschreibung der am 27. Juni 1875 stattgefundenen Feierlichkeiten zur Einweihung des Hospitals… : erbaut von der Familie Königswarter ; gedruckt am ersten Jahrestage der Einweihung 27. Juni 1876, Frankfurt a.M. 1876.
Bude, Heinz 2000: Qualitative Generationsforschung, in: Uwe Flick, Ernst von Kardoff, Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Hamburg 2000, 187-194.
Eröffnungsfeier 1902: Anhang zum IX. Jahresbericht des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main, Frankfurt am Main.
Hanauer, Wilhelm 1914: Festschrift zur Einweihung des neuen Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde zu Frankfurt am Main.
Helmerichs, Jutta 1992: Krankenpflege im Wandel (1890 bis 1933). Dissertation Universität Göttingen.
Levinsohn Wolf 1996: Stationen einer jüdischen Krankenschwester. Deutschland – Ägypten – Israel, Frankfurt am Main.
Seemann, Birgit / Bönisch, Edgar 2011: „…sei er arm oder reich, Jude, Christ oder Araber.“ In: Kozon, Vlastimil; Seidl Elisabeth; Walter, Ilsemarie (Hrsg.): Geschichte der Pflege – Der Blick über die Grenze. Wien, 51-74.
Seemann, Birgit / Bönisch, Edgar 2019: Das Gumpertz’sche Siechenhaus – ein „Jewish Place“ in Frankfurt am Main. Geschichte und Geschichten einer jüdischen Wohlfahrtseinrichtung. Frankfurt am Main.
Steppe, Hilde 1997: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre…“.
Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1920: Rechenschaftsbericht für die Jahre 1913 bis 1919, Frankfurt am Main.
Internetquellen
Die genutzten Internetquellen sind an den betreffenden Stellen des Textes in den Fußnoten angegeben oder als Link hinterlegt, sie wurden im Lauf des Julis und Augusts 2020 abgerufen und überprüft. Viele der Fußnoten und Internetquellen beziehen sich auf Einträge und Artikel der Datenbank: www.juedische-pflegegeschichte.de, dort sind weiterführende Angaben zu Literatur und Archivmaterial verzeichnet.
Wie im Artikel „Die Schwesternschülerinnen im „Verein für jüdische Krankenschwestern zu Frankfurt am Main 1893 bis 1902“ beschrieben, möchte ich auch hier eine Schülerinnengeneration, diesmal die in den Jahren 1903 bis 1913 ausgebildeten, vorstellen. Sie eint ein „gemeinsames Präge- und Wirkungserlebnis“ (Bude 2000: 188), sie ergriffen in derselben Zeit den gleichen Beruf und lebten und arbeiteten in einer gemeinsamen Umgebung als Angehörige des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen.
Die zeitliche Festlegung für diese Gruppe auf die Ausbildungsjahre 1903 bis 1913 begründet sich einerseits durch den Umzug der Schwesternschaft in das neue Schwesternhaus in der Königswarter Str. 20 neben dem Hospital der Israelitischen Gemeinde. Und andererseits durch den Umzug in das nächstgrößere Schwesternhaus in der Bornheimer Landwehr 85, neben dem ebenfalls neu erbauten Gemeindehospital in der Gagernstr. 36. im Jahr 1914.
Mit den Ausführungen zum Zeitabschnitt von 1893 bis 1902 und von 1903 bis 1913 folge ich einer Einteilung, die bereits die Pflegewissenschaftlerin Hilde Steppe für ihre Arbeit traf (Steppe 1997: 204). Um das Leben der auszubildenden Schwesternschülerinnen zu beschreiben, beginne ich mit der Darstellung der zu dieser Zeit herrschenden politischen Verhältnisse.
Das Deutsche Reich, Politik
Die Verfassung des 1871 gegründeten Deutschen Reichs basierte auf vier Organen, dem Kaiser, dem Reichkanzler, dem Bundesrat und dem Reichstag. Nach dem monarchischen Prinzip hatten Fürsten und Stände die Staatsmacht inne, sie saßen als Vertreter der Mitgliedsstaaten im Bundesrat (22 Einzelstaaten und drei freie Städte). Bei Ihnen lag die Souveränität, nicht beim Volk. Geführt wurde der Bundesrat vom Reichkanzler, der wiederum vom Kaiser direkt ernannt wurde.
Der Reichskanzler koordinierte mit dem Einverständnis und gestützt auf das Vertrauen des Kaisers die Richtlinien der Politik und vertrat sie gegenüber dem Reichstag (vgl. Ziemann, Benjamin 2016a: 4-15). Ohne den Reichstag (397 Abgeordnete), gemeinsam mit dem Bundesrat, konnte kein Gesetz und kein Haushalt (inkl. des Militärhaushalts) beschlossen werden (vgl. Deutscher Bundestag). Der Reichstag wurde demokratisch gewählt, wobei das Wahlrecht lediglich Männer über 25 Jahren ausüben durften (vgl. ebd.).
Reichskanzler waren von (vgl. Liste Deutscher Reichskanzler):
1871 bis 1890 Fürst Otto von Bismarck (1815-1898)
1890 bis 1894 Graf Leo von Caprivi (1831-1899)
1894 bis 1900 Fürst Chlodwig zu Hohnlohe-Schillingsfürst (1819-1900)
1900 bis 1909 Fürst Bernhard von Bülow (1849-1929)
1909 bis 1917 Theobald von Bethmann Hollweg (1856–1921)
1917 Georg Michaelis (1857–1936).
Die Außenpolitik des Reichskanzlers Otto von Bismarck (1815-1898) strebte auf den Ausgleich der Kräfte und suchte Bündnisse in Europa (vgl. Ziemann 2016b: 46). Ab 1890 verfolgte Leo von Caprivi eine Blockbildung unterschiedlicher Länder. Mitte der 1890er Jahre verfolgten Kaiser Wilhelm II und der jeweilige Reichskanzler eine „Weltmachtpolitik“ mit Hilfe der Marine. Noch als Staatssekretär prägte Bernhard von Bülow, der Reichskanzler ab 1900, den Begriff, dass auch Deutschland seinen „Platz an der Sonne“ beanspruchen könne und müsse. So wurde die Zeit um 1900 eine Zeit der „weltweite[n] kommunikativen Vernetzung in allen Bereich der Gesellschaft“ (ebd.: 45), was zu einem „wichtigen Element des kollektiven Erfahrungsraumes der Deutschen“ (ebd.) wurde. Wirtschaftlich schlug sich diese Globalisierung in der weltweiten Vernetzung im Ex- und Import und dessen ständigem Wachstum nieder. Auch der weltweite Arbeitsmarkt wuchs, in den deutschen Kolonien ließ man „Kulis“ in den Phosphatminen schuften und leiden; Arbeitsmigranten aus Norditalien, Österreich-Ungarn und russisch-Polen kamen ins Deutsche Reich, offiziell nur für die Sommermonate, inoffiziell wurde die Regel oft umgangen (ebd.: 46). Kolonialpolitisch führte die Weltmachtpolitik zum Völkermord der Deutschen an den Herero und Nama in den Jahren von 1904 bis 1908.
Innenpolitische wurde „Sammlungspolitik“ betrieben, die Parteien und Machtträger sollten sich zu Gunsten der „Weltpolitik“ (Stärkung von Marine und Kolonialismus) sammeln und sich gegen die erstarkende Sozialdemokratie wenden. Es hatten sich seit Ende des 19. Jahrhunderts Gewerkschaften gebildet, Vereine und Verbände meldeten sich zu Wort, die Bedeutung der öffentlichen Meinung nahm mit Hilfe der auflagenhohen Pressemedien zu. Vor allem die Sozialdemokratie wuchs, jedoch auch das völkisch-nationale Lager, welches verschiedene Gruppierungen verband, allerdings nicht Juden und Migranten (vgl. Ziemann 2016a: 51). Generell zeigt sich die Politisierung in den Wahlergebnissen zum Reichstag. Für die SPD wirkte sich die Entwicklung in den Wahlen zum Reichstag folgendermaßen aus. 1890 lag sie bei ca. 20% der Stimmen, 1903 bei ca. 30% und 1912 ca. bei 35% (vgl. Osterhammel 2012: 57). Das Wahlrecht war jedoch eingeschränkt auf Männer ab 25 Jahren und war in den Einzelstaaten unterschiedlich, z.B. das Dreiklassenwahlrecht im preußischen Landtag (vgl. Ziemann 2016a: 53-54). Das Frauenwahlrecht in Deutschland galt erst ab November 1918 (vgl. Altenmüller 2021).
Das Deutschen Reich, Wirtschaft
Das Deutschen Reich, Antisemitismus
Zu den Themen Wirtschaftslage sowie Antisemitismus im Deutschen Reich verweise ich auf den Artikel über die jüdischen Schülerinnen der Krankenpflege der Jahre 1893 bis 1902. Dort wird das deutsche Wirtschaftswunder vor dem ersten Weltkrieg beschrieben und auch die langsam stärker werdenden antisemitischen Äußerungen. In dieser Atmosphäre lebten die Schwesternschülerinnen der hier besprochenen Ausbildungsjahrgänge 1903 bis 1913. Ich führe einige Stichworte auf: erste Automobile und deren fabrikmäßige Produktion, Nutzung von Erdöl, erste Flugzeuge und ölbetriebene Schiffe. Andererseits herrschte Wohnungsnot, im Gegensatz zur Belle Époque, die für das gehobene Bürgertum galt und sich besonders in den überall entstehenden Luxusvillen zeigte. Um 1900 gab es in der Oberschicht die neue Gruppe der Manager oder leitenden Angestellten. Ohne Besitzer zu sein hatten sie ein hohes Einkommen. Die Situation im Deutschen Reich zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschreibt zusammenfassend Joachim Käppner: „Ja, es gab Gutes darin [in der Kaiserzeit]: den Parlamentarismus, die Frauenbewegung, die Selbstbehauptung der Arbeiterschaft, den Aufschwung von Kultur, Literatur, Wissenschaft, die neue Urbanität… Aber das meiste davon entstand trotz des erdrückenden Gesellschaftssystems und nicht seinetwegen, gewiss ist es nicht dessen Verdienst.“ (Käppner 2021)
Jüdisches Leben in Frankfurt
Nach der bürgerlichen Gleichstellung der Juden im Jahr 1864 wohnten diese nach und nach auch außerhalb des Ghettos in anderen Frankfurter Stadtteilen. 1895 waren ca. 8,5 % der Frankfurter Bevölkerung jüdischen Glaubens, d.h. ca. 19.500 von 230.000. Im Jahr 1920 machten die Juden ca. 6,3% der EinwohnerInnen aus, das waren 26.220 von 414.500 (vgl. Krohn 2000: 22).
Auf den Internetseiten der Frankfurt Jüdischen Gemeinde in Frankfurt heißt es über die Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts: „Neben zahlreichen kleinen Gebetshäusern gab es die Hauptsynagoge in der Judengasse, die Synagoge am Börneplatz sowie die Synagoge an der Friedberger Anlage, die 1907 für die Austrittsorthodoxie gebaut wurde und die 1910 erbaute liberale Westend-Synagoge. Der freigeistige Charakter der Stadt spiegelte sich auch in der Frankfurter Jüdischen Gemeinde wider. Zahlreiche Gemeindemitglieder nahmen wichtige Funktionen in der städtischen Kultur und Politik ein. Viele Institutionen, wie die Johann Wolfgang Goethe-Universität oder die Frankfurter Allgemeine Zeitung, gehen auf jüdische Stiftungen beziehungsweise Gründungen zurück. Bekannte Rabbiner aller religiöser Richtungen haben in Frankfurt gewirkt. Darunter Samson Raphael Hirsch, Markus Horovitz, Nehemia Anton Nobel, Ceasar Seligmann und Georg Salzberger.“ (Jüdische Gemeinde Frankfurt/M)
Der Beruf der Krankenpflegerin zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Die bisherigen Beschreibungen der Außen- und Innenpolitik des Deutschen Reichs geben das Umfeld wieder, in welchem die Pflegeschülerinnen ihren Beruf erlernten. Da sie im Umfeld der medizinischen Entwicklung arbeiteten, im Folgenden ein Blick darauf.
Medizinische Entwicklung
Emil von Behring, Paul Ehrlich und Erich Wernicke gelang eine Immunisierung gegen Diphterie (Cornynebacerim diphtheriae). Der erste Diphterieimpfstoff wurde in den 1920er Jahren entwickelt.
Hinweis: Die Tabelle wird aktuell aus technischen Gründen überarbeitet
Entwicklungsstand des Berufs der Krankenpflegerinnen
Im Jahr 1898 wurden 26.427 Krankenpflegerinnen gezählt (vgl. Helmerichs 1992). Davon in katholischen Mütterhäusern: 12.427, in evangelischen Mütterhäusern: 7.576 und weitere 3.613. Freie Schwestern gab es 2.398. Die Tätigkeit der Krankenpflegerinnen entwickelte sich immer weiter zum Beruf, einem Beruf für Frauen aller Klassen (vgl. Mühlberger 1966/67). Im Rahmen der sozialen Absicherung bildeten sich unterschiedliche Schwesternverbände und es gab Ansätze zur Gründung einer Gewerkschaft. Alle arbeiteten daran eine gute und geregelte Ausbildung zu formulieren umzusetzen und ihre Mitglieder wirtschaftlich abzusichern.
Beispielhaft für die Arbeitsbedingungen seien die freien Schwestern genannt. Sie arbeiteten zwischen 14 und 18 Stunden am Tag, mussten ohne Urlaub oder freie Tage auskommen, mit der Folge einer hohen Sterblichkeit, häufigen Krankheiten und hohen Selbstmordzahlen (vgl. Betzien 2018: 54). Die Bedingungen der Ordensschwestern werden am Beispiel der jüdischen Krankenschwestern weiter unten beschrieben. 1903 gründete Agnes Karll (1868-1927) die Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschland (B.O.K.D.). Zu dieser Zeit, 1903, gehörten noch rund die Hälfte aller Krankenpflegerinnen zu katholischen Orden, Kongregationen oder zu evangelischen Diakonissenmutterhäusern (vgl. Nolte 2020: 120-132). Ziele des B.O.K.D. waren die Ausbildung inklusive einer staatlichen Prüfung und Anerkennung sowie „die Hebung des Ansehens und die wirtschaftliche und moralische Sicherung der freiberuflichen Krankenschwestern“ (Mühlberger 1966/67: 25). 1912 richtete Agnes Karll Fortbildungslehrgänge an der privaten Hochschule für Frauen in Leipzig ein. Obwohl sie über keinen akademischen Titel verfügte hielt sie unter anderem freitags und sonnabends jeweils von 19:30 Uhr bis 21 Uhr Vorlesungen zur Geschichte der Krankenpflege. Grundlagen für sie waren Lehrmaterialien wie „A History of Nursing“ der US-amerikanischen Pflegehistorikerinnen Mary Adelaide Nutting und Lavinia Dock, dessen erste drei Bände sie ins Deutsche übersetzte (vgl. Hochschule für Frauen zu Leipzig).
1907 erließ Preußen landesrechtliche Vorschriften über die staatliche Prüfung von Krankenpflegepersonen nach einjähriger Ausbildung. Auch Männer konnten nun ausgebildet werden (vgl. Vom gottgefälligen Dienen zur Profession). Das war ein wichtiger Schritt hin zu einem Beruf mit Bezahlung einer Ausbildung mit Vermittlung spezieller Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen (vgl. Ulmer 2009). In Anlehnung an die Vorschriften von Preußen folgten die einzelnen Länder zu verschiedenen Zeitpunkten: Württemberg, Hessen und Lippe 1908, Sachsen und Bremen 1909, Mecklenburg-Schwerin 1915, Baden 1919, Hamburg 1921, Thüringen 1922, Bayern 1924 (vgl. Krankenpfleger).
Die Frankfurter Vereinsschwestern, ihr Lebensraum, ihr Arbeitsraum
Mit den Vereinsgründungen für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt und in Berlin im Jahr 1893 und später in anderen Orten, sowie Gründungen durch weitere Initiativen wie dem Deutsch-Israelitischen Gemeindebund und der Logenvereinigung Unabhängiger Orden Bne Briss, hatte die jüdische Krankenpflege mehr und mehr Bedeutung und Anerkennung gewonnen (vgl. Bönisch 2015). Der innerjüdische Konflikt darüber, ob es überhaupt eine jüdische Krankenpflege geben sollte oder könnte hatte sich gelegt (vgl. Seemann/Bönisch unveröffentlicht). Auf den Delegierten-Versammlungen der Vereinigung zur Ausbildung jüdischer Krankenpflegerinnen in Deutschland, 1904 in Frankfurt am Main und 1905 in Berlin, kam zum Ausdruck mit wie vielen Vorurteilen gegenüber Jüdinnen im Beruf der Krankenpflegerin geherrscht hatte und wie sich dies geändert hat. Dr. Simon Kirchheim, Chefarzt der Inneren Station des Frankfurter Gemeindehospital, Vereinsvorsitztender des Frankfurter Krankenpflegerinnenvereins und 2. Vorsitzender der Versammlung, die im neuen Schwesternheim in der Königswarterstr. 20 stattfand, betonte, dass er selbst, angesichts des nicht ausgebildeten Personals im Israelitischen Gemeindehospital im Jahr 1889 seinen Glaubensgenossinnen nicht zugetraut hatte sich für den Beruf als Krankenpflegerinnen zu qualifizieren (vgl. Delegierten-Versammlung 1904). Doch heute, 1904, betont er, dass das Experiment mit den seit 1893 ausgebildeten Schwestern sehr glücklich und erfolgreich war und sehr positiv weiter verlaufen würde. Auch Louis Sachs ein Förderer des Berliner Vereins der Krankenpflegerinnen und Leiter des Berliner Jüdischen Hospitals gab zu, dass er noch 1894 große Bedenken geäußert hatte, ob die Frauen physisch stark genug wären, den Beruf auszuüben, ob Jüdinnen den nötigen Gehorsam zeigen könnten und ob jüdische Patienten jüdische Krankenpflegerinnen akzeptieren würden (vgl. Delegierten-Versammlung 1905). Doch auch er gab 1905 eine sehr positive Bewertung des Ausbildungsstandes ab.
Der Verein
Vorsitzender des Vereins jüdischer Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main war bis in die 1930er Jahre Dr. Simon Kirchheim. Die Entwicklung des Vereins zu Beginn des 20. Jahrhunderts fasst Hilde Steppe zusammen (vgl. Steppe 1997: 208): Das Mitspracherecht der Frauen im Verein besserte sich durch die Gründung eines Schwesternrates. Der Abschluss der Schwesternausbildung erfuhr durch eine staatliche Krankenpflegerinnenprüfung, wie oben bereits erwähnt, auch in der Ausbildung der jüdischen Krankenpflegerinnen, eine weitere Aufwertung. Dazu berichtete der Vorstand des Vereins für 1908, dass der Deutsche Verband Jüdischer Krankenpflegerinnenvereine voraussetzte, dass alle Schwestern der zugehörigen Vereine die staatliche Approbation besitzen mussten. Auf Nachfrage des Vereins in Wiesbaden bei der Königlichen Regierung wurde allen gegenwärtigen Mitgliedsschwestern in Frankfurt diese Approbation erteilt, worauf man sehr stolz war und eine Anerkennung der geleisteten Arbeit des Vereins sah. Künftige, auch die drei Schülerinnen, die zum Zeitpunkt des Berichts kurz vor der Prüfung standen, müssten dann die staatliche Prüfung ablegen (vgl. Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1908: 4). Weiter, so Steppe, wurde die Ausbildungszeit auf anderthalb Jahre erweitert, auf Fortbildungsmöglichkeiten für die ausgebildeten Schwestern wurde stärker geachtet. Durch Kooperationen und Entsendung von Vereinsschwestern kamen Einsatzorte wie Hannover und Basel hinzu. Zusätzliche Arbeitsbereiche wie die Säuglingsmilchküche im Schwesternhaus entstanden. Zum Ende der hier besprochenen Periode (1913) waren im Verein 37 Schwestern und 14 Lehrschwestern aktiv (vgl. Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1920: 60) und 1914 konnte der Verein mit seinen Schwesternschülerinnen und Schwestern in das neue Schwesternhaus in der Bornheimer Landwehr 85 umziehen (vgl. Steppe 1997: 208).
Einen der wenigen Einblicke in das Leben der Vereinsschwestern, abseits ihrer Arbeit, erhält man durch die Bemerkung des Vereinsvorstandes im Jahresbericht für 1902 über Vergünstigungen durch Dritte: „Die Königliche Eisenbahn-Direktion ermäßigte die Fahrpreise bei Erholungs- und Urlaubsreisen unserer Schwestern; auch das Städtische Bahn- und Elecricitäts-Amt, sowie die Schwimmbad-Commission erfreute uns mit Freikarten. Ebenso genossen unsere Schwestern dankenswerthe Vergünstigungen von Seiten des Palmengartens, des Zoologischen Gartens und des Kaufmännischen Vereins.“ (Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1902: 7)
Das Schwesternhaus
Oberin der Vereinsschwestern war von 1893 bis 1914 Minna Hirsch. Bereits 1899 waren die Schwestern im Haus Untere Atzemer 16 eingezogen, hatte der Verein ein Grundstück neben dem Königswarter Hospital gekauft. Nach einem Ausschreibungsverfahren erhielt der Architekt Max Seckbach den Zuschlag für einen Neubau des Schwesternhauses (vgl. Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1900: 4). Die Aktiengesellschaft für Hoch- und Tiefbauten wurde mit dem Bau beauftragt. 1902 schließlich zogen die Schwestern in das neue Gebäude in der Königswarterstraße 20 ein (vgl. Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1899: 4). Der Vereinsvorstand Dr. Simon Kirchheim sagte anlässlich der Eröffnungsfeier: „seit Jahren hatten wir eingesehen, daß unser bisheriges Schwesternheim, – ein kleines ermiethetes Häuschen – nach allen Richtungen ungenügend war und den geringsten billigen Forderungen der Schwestern keineswegs entsprechen konnte […]. Bisher waren nicht einmal genügend Schlafräume für die stets wachsende Zahl unsrer Schwestern vorhanden und ein gemüthliches Zusammenleben der Schwestern war durch die Enge des Hauses unmöglich gemacht.“ (Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1902, Anhang: 9). Weiter gab Dr. Kirchheim in der Eröffnungsrede eine Beschreibung des neuen Hauses: „Im Parterrestock des Hauses finden Sie außer den Zimmern der Oberin das Speise- und das Aufenthaltszimmer der Schwestern, sowie ein geräumiges Sitzungszimmer. Während im Souterrain die Küchen- und Haushaltungsräume, sowie die Heizungsanlage enthalten sind, vertheilen sich in den übrigen Stockwerken die Schlafräume der Schwestern und Schülerinnen. Auf eine besonders wichtige Einrichtung erlaube ich mir noch Ihre Aufmerksamkeit zu lenken. Für Schwestern die aus der Pflege von ansteckenden Kranken nach Hause kommen, ist nicht nur ein getrennter Eingang, sondern auch besondere Badezimmer und Räume zum Ausruhen geschaffen worden, so daß eine Uebertragung von ansteckenden Krankheiten auf andere Schwestern innerhalb des Hauses wohl gänzlich unmöglich ist. Auch für alle übrigen sanitären Einrichtungen ist in weitem Umfange Sorge getragen […] und wenn auch unsere Schwestern nur einen Theil der vorhandenen Zimmer in Anspruch nehmen, so werden im kommenden Jahre neue Schwestern hinzukommen. Zweifellos werden wir mit der Zeit in das Kleid, das uns heute noch zu weit ist, hineinwachsen…“ (ebd.: 10-11).
Das Hospital
Chefarzt waren 1877 bis 1908 Dr. Simon Kircheim und ab 1909 bis 1914 Dr. Alfred Otto Günzburg. Oberin der Pflege im Hospital war Minna Hirsch von 1893 bis 1914.
1875 errichtete die jüdische Gemeinde in Frankfurt am Main ein erstes Gemeindekrankenhaus. Es lag im Grünen Weg, der später nach dem Stifter des Hospitals in Königswarter Straße umbenannt wurde. Auch das Hospital selbst wurde oft als Königswarter Hospital bezeichnet. Es beherbergte 80 Pflegeplätze (vgl. Hanauer 1914: 45). Für weitere Informationen zum Königswarter Hospital verweise ich auf den Artikel Schwesternschülerinnen in den Jahren 1893 bis 1902.
Hier noch eine Vorausschau auf den Neubau des Hospitals in der Gagernstr. 36, welches im Jahr 1914 eröffnet wurde. Bereits etliche Jahre zuvor lebten die Schwestern des Vereins und die Schülerinnen mit der Diskussion und Vorbereitung auf das neue Krankenhaus und das neue Schwesternhaus. Im Jahr 1901 wurde das erste Mal eine Erweiterung oder ein Neubau des Hospitals erörtert. Nachdem der Polizeipräsident das Fehlen von Tageräumen im alten Hospital in der Königswarterstraße angemahnt hatte und mit Schließung drohte, war der Gemeindevorstand im Zugzwang und gründete eine Kommission zur Prüfung des Ausbaus des alten Hospitals oder der Möglichkeit eines Hospitalneubaus. Die Kommission bestand neben Mitgliedern des Vorstands des Gemeindeausschusses und des städtischen Pflegeamts aus den Hospitalärzten Dr. Kirchheim und Dr. Hirschberg. 1904 folgte die Empfehlung für einen Neubau, der zehn Jahre später, 1914, eingeweiht wurde (ebd.). So lernten die Schülerinnen der Krankenpflege ihr Handwerk im Königswarter Hospital bereits seit 1901 in einem als ungenügend empfunden Hauses und mit dem Bewusstsein des geplanten Neubaus des Krankenhauses und des Schwesternhauses, die 1914 eingeweiht wurden.
Die Schwesternschülerinnen des Vereins der Jahre 1903 bis 1913
Tabellarische Aufzeichnung Daten aus: Hilde Steppe: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre…“, Frankfurt am Main1997: 225-232. Beachten Sie bitte weitere Quellen und Ergänzungen in den angegebenen Verlinkungen zur Datenbank www.juedische-pflegegeschichte.de.
Lfd. Nr.
Name
Ausbildungsjahr
Geburt
Tod
Geburtsort
Sterbeort
Stichworte
37
Ruth?
1903
tätig in der Privatpflege, pensioniert 1910
38
Ella?
1903
Tätig in der Privatpflege, ausgeschieden wegen Heirat 1909
Privatpflege, Krankenhaus Frankfurt und Hamburg, um 1914-18 Oberschwester der Inneren Abteilung im Krankenhaus Gagernstr., seit 1919 Säuglingsfürsorge Frankfurt, 1924-32 Oberin des jüdischen Krankenhauses in Köln, 1942 Flucht nach Amsterdam und Deportation nach Auschwitz
Privatpflege in Hamburg und Heilbronn, im ersten Weltkrieg im Feld, ab 1913 Oberin des Kinderhaus der Weiblichen Fürsorge. Deportiert nach Ravensbrück und Auschwitz
43
Kochmann, Henriette
1905
Privatpflege, in Heilbronn und „in der Etappe“ im ersten Weltkrieg
Privatpflege Hamburg, Krankenschwester am Israelitischen Spital Straßburg, Lazarett „Krankenhaus Ost“ im ersten Weltkrieg und in der Etappe, 1919 in Davos, 1921 zurück aus Oberstedten OP- Schwester in Frankfurt. Emigration nach New York 1941, weiter als Krankenschwester tätig, 1977 starb sie in New York
tätig in der Privatpflege, in Straßburg, im ersten Weltkrieg im Lazarett in Frankfurt „Krankenhaus Ost“, danach als Operationsschwester im Krankenhaus, lebt 1934 bis 1938 in Frankfurt außerhalb des Schwesternhauses, kehrt 1938 dorthin zurück, begeht Selbstmord, um der Deportation zu entgehen.
49
Hodenberg, Martha
1906
ausgeschieden 1912 oder 1913
50
De Jong, Rebekka
1906
ausgeschieden 1908. Eine Verwandte von Rebecca De Jong könnte Isi De Jong sein, die seit 1946 in den Räumen des Krankenhauses in der Gagernstr. arbeitete.
ausgeschieden wg. Heirat 1911, Heirat und Sohn, Rückkehr im ersten Weltkrieg, Kriegskrankenpflege in Frankfurt, Geburt der Tochter, Umzug nach Dessau. Deportation nach Kowno
54
Unger, Doris
1908
Schwester von Else Unger, Privatpflege, 1910-13 Frankfurter Verband für Säuglingsfürsorge, 1914-1918 Oberschwester der Chirurgischen Abteilung im Krankenhaus Gagernstr., ab 1919 wieder in der Säuglingsfürsorge in Frankfurt
55
Unger, Else
1908
1880
Schildberg, Posen
Schwester von Doris Unger, Privatpflege, Lazarettpflege, Lazarettzug P.I, 1914-1918 Oberschwester der Poliklinik im Krankenhaus Gagernstr., 1933 bis 39 Berlin. 1940 wieder in Berlin
56
Landau, Betty (Bettina)
1908
ausgeschieden 1912 oder 13
57
Heilbrunn, Henriette (Henni)
1908
1919 Ausbildung in Marburg zur Hebamme
58
Plaat, Josephine
1908
ausgeschieden 1912 oder 13
59
Schragenheim, Sara (Sitta)
1908
ausgeschieden 1912, 1914 Rückkehr zur Kriegskrankenpflege
um 1910 Pflege im Hospital der Israelitischen Gemeinde und Privatpflege. Ca. 1911 und 1914, Pflege im Israelitischen Krankenhaus Straßburg, 1914-18 Lazarett Straßburg, 1919 Oberschwester Privatabteilung im Frankfurter jüdischen Krankenhaus
1910-14 „Königswarter Hospital“. Lazarettdienst. Lazarettzüge, besonders Bulgarien. Bis 1925 am Krankenhaus Gagernstr., danach Heirat, ca. 1942-1944 Leiterin einer Krankenstation in Theresienstadt. 1944 Auschwitz.
66
Spier, Lina
1910
im ersten Weltkrieg in der deutschen Sanitätsstation für Bulgarien
1914-18 OP-Schwester im Frankfurter Lazarett 27, später jüdische Gemeindeschwester. 1936 Rückkehr aus Mannheim in das jüdische Schwesternheim Frankfurt. 1940-41 Rothschild‘sches Hospital. Sie war die letzte Oberin des Gagernkrankenhauses. Deportation 1942 nach Theresienstadt, 1944 nach Auschwitz
Lehrling und Verkäuferin in Düsseldorf, ab 1910 im „Königswarter Hospital“. Im ersten Weltkrieg in Bulgarien, eine von vier Vereinsschwestern im Alexanderspital in Sofia. Danach in Pforzheim. 1922-34 Leiterin jüdisches Kinderheim Beit Ahawah in Berlin. 1934-1940 Aufbau eines Kinder- und Jugenddorfes in Palästina. Rettung vieler Kinder aus Deutschland. Sie starb in Palästina.
1913-1918 Krankenhaus und Lazarettdienst in Straßburg. Privatpflege in Frankfurt. 1919 bis 1939 Bornheimer Landwehr 85, Schwesternhaus. 1939 Flucht nach Santiago de Chile
seit 1923 in Bad Nauheim. 1925 bis 1930 Leiterin des Israeltischen Frauenheims in Bad Nauheim. Aus Bad Nauheim verzog sie 1937, unterschiedliche Aussagen zu ihrem Schicksal
Frieda Amram kam 1905 als Schwesternschülerin zum Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main. Anschließend arbeitete sie in der Privatpflege in Frankfurt, dann in Hamburg und Heilbronn. Im ersten Weltkrieg diente sie in der Etappe, ab 1913 war sie Oberin des Kinderhaus der Weiblichen Fürsorge. Sie wurde in Auschwitz ermordet. Ausführliche Informationen: „Deine Dir gute Obeli“ und Chronologie zu Schwester Frieda Amram.
Bertha Schönfeld erhielt ihre Ausbildung im Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main im Jahre 1906. Sie war in der Privatpflege tätig, kam dann in das israelitische Spital nach Straßburg und arbeitete während des ersten Weltkriegs im Frankfurter Lazarett des Vereins. Nach dem Krieg war sie Operationsschwester im Krankenhaus in der Gagernstraße. Sie konnte sich in den Jahren 1934 bis 1938 eine Wohnung außerhalb des Schwesternhauses leisten. 1938 kehrte sie ins Schwesternhaus zurück. 1941 nahm sie sich 1941 das Leben. Ausführliche Informationen: Frankfurter Grabsteine als letzte Zeugen – die Krankenschwestern Bertha Schönfeld und Thekla Dinkelspühler und in der Chronologie zu Bertha Schönfelds Leben.
Beate Berger war Verkäuferin in Düsseldorf und lernte im einem Manufakturwarengeschäft bevor sie 1910 ihre Arbeit im „Königswarter Hospital“ in Frankfurt am Main begann. Eine Schwesternausbildung erhielt sie 1912 im Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main. Im ersten Weltkrieg leistete sie ihren Dienst im Lazarett des Vereins und nahm von 1916-1918 an der „Deutschen Sanitätskolonne für Bulgarien“, als eine von vier Vereinsschwestern, teil. Seit 1918 war sie Oberschwester in Frankfurt und auch in Pforzheim. 1922-34 hatte sie die Leitung des jüdisches Kinderheims Beit Ahawah in Berlin inne. Ab 1934 half sie ein Kinder- und Jugenddorf in Palästina aufzubauen und konnte viele der Kinder aus Deutschland retten. Sie starb 1940 in Palästina. Ausführliche Informationen: „Ausdauer, Energie und Opferbereitschaft“ und unter Chronik.
Rosa Spiro (auch Rosalie Spiero) wurde am 12.03.1885 in Prostkren, Kreis Lyck (heute Prostki, Polen) geboren. Ihre Ausbildung zur Krankenschwester erhielt sie 1906 im Verein für Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main, anschließend arbeitete sie in der Privatpflege in Frankfurt und in Hamburg (vgl. Steppe 1997: 228). Seit 1911 pflegte sie im Israelitischen Krankenhaus in Straßburg, in der Clinique Adassa. Über die Zeit in Straßburg informiert ausführlich der Artikel Frankfurter jüdische Krankenpflege in Straßburg (Elsass)
Zur Modernisierung des Klinikbetriebs in Straßburg entsandte der Verein am 1. Juli 1911 drei Schwestern, Operationsschwester Bertha Schönfeld, Narkoseschwester und Oberschwester Rosa Spiro und als Oberin Julie Glaser. Rosa Spiro wurde Oberschwester, also Bertha Schönfelds Vorgesetzte. Im selben Jahr folgten die Frankfurter Krankenschwestern Blondine Brück und Rahel (Recha) Wieseneck. Weitere ‚Frankfurterinnen‘ im Israelitischen Krankenhaus Straßburg waren die zwischen 1911 und 1914 ausgebildeten Jenny Cahn, Gertrud Glaser, Ricka Levy und Bella Peritz (vgl. Verein für jüdischen Krankenpflegerinnen 1920: 40-49).
Über den Beginn des 1. Weltkriegs und seine Auswirkungen im Krankenhaus in Straßburg zeugt ein Bericht einer nicht namentlich genannten Schwester: „Uns Schwestern traf die Nachricht vom Krieg überraschend und niederschmetternd. Schwester Oberin war noch auf Urlaub. In Straßburg herrschte die größte Erregung. Niemand dort zweifelte, daß die Stadt in den nächsten Tagen von den Franzosen besetzt oder mindestens eingeschlossen und belagert würde. Das bis auf das letzte Bett besetzte Krankenhaus entleerte sich in wenigen Stunden. Die meist aus der Umgebung stammenden Kranken wurden, selbst in schwersten Zuständen, von den kopflosen Angehörigen nach Hause abgeholt. Uns Schwestern fragte der Krankenhausarzt, Herr Dr. Bloch, ob wir nicht nach Frankfurt abreisen wollten, oder was wir sonst beabsichtigten. Aber wir erklärten ihm einstimmig, daß wir den Posten, auf dem man uns gestellt, nicht verlassen würden. Bald darauf kam noch die Depesche aus Frankfurt, die uns die gleichlautende Anordnung des Mutterhauses brachte. Dann waren wir von Frankfurt abgeschlossen. Von unserem Verein wie von unseren Angehörigen hörten wir lange nichts mehr.“ (Ebd.: 38-39).
Rosa Spiro war zu diesem Zeitpunkt wohl schon zurück in Frankfurt wo der Verein und die Schwestern beschlossen hatten möglichst viele Schwestern für den Dienst im Feld freizustellen. Rosa Spiro gehörte zu einer ersten Gruppe von sechs Schwestern, die im Oktober 1914 mit dem Kriegslazaretttrupp 126 an die Westfront abrückten. Es waren die Schwestern Rosa Spiro, Frieda Amram, MiriamSachs, Clara Bender, Ella ? und Hilde Rewalt. Die Schwestern Frieda und Hilde wurde 1915 durch Emmy und Susanne ersetzt. Sie pflegten an den östlichen Kriegsschauplätzen und wieder in Belgien und Frankreich: „Im Western pflegten unsere Schwestern nacheinander in Kriegslazaretten zu Deynze, Roulers, Emelghem, Iseghem. Im August 1916 kam der Trupp nach dem Osten. Ostrolenka, Bialystock, Grodno, Lida in Rußland, Plewna, das gerade eroberte Bukarest waren die Stationen. Dann ging es wieder nach Belgien (Chimay, Montmigny), nach Frankreich (Monthermé, Pesches, Rochefort, Jemelle). So haben sie den meisten blutigen Schauplätzen dieses unerhört schweren und langen Kampfes tätig nahe gestanden…“ (ebd.: 41).
1919 wurde Rosa Spiro Oberschwester an der Israelitischen Lungenheilanstalt in Davos, in der Schweiz. Genauer im Haus „Ethania“. Überliefert ist ein Lawinenunglück welches sich dort ereignete, Schwester Rosa wird ebenfalls erwähnt (Das Lawinenunglück in Davos): „Beim ersten Sturz wurde schon unser Küchenmädchen im Saal begraben. Herr Dr. Oeri, die Schwester und Herr Jurowitsch hatten sie gerade ausgegraben, sie und sich selbst in die Südzimmer des Hauses gerettet, als schon die zweite Lawine kam. Es wurde ganz dunkel. Frl. K. saß bei mir auf dem Bette und sagte: ‚Wir wollen doch zusammen sterben!‘ – Als dann alles vorbei war, mussten sich die Hilfsmannschaften erst einen Weg bahnen. Die Nordzimmer sind eingestürzt und die Treppen auch. Dr. Oeri ist vom dritten Stocke den Terrassen entlang auf die Straße hinuntergeklettert und musste unten vor dem Hause erst die Verschütteten ausgraben. Dann sind alle, die gehen konnten, durch die geschaffene Bahn gerutscht und sind zum Teil in einem Hotel und im ‚Neuen Sanatorium‘ in Davos-Dorf untergebracht. Wir waren drei Personen, die man tragen, vielmehr ziehen musste. Nun wir sind auch hinausgekommen. ‚Wie‘ ist ja ganz egal, die Hauptsache ist, dass wir in Sicherheit sind. Wir waren dann bis 10 Uhr abends in einem Hotel, wo man uns sehr freundlich aufgenommen hatte. Um 10 Uhr wurden wir mit Schwester Rosa, die am ganzen Körper blaue Flecken hat, und bis zuletzt aufopferungsvoll auf dem Platze arbeitete, nach dem neuen Sanatorium gebracht. Wir waren so glücklich, als wir endlich in ein Bett kamen. Die anderen Patienten waren schon seit 7 Uhr in diesem Sanatorium. Am anderen Morgen kamen auch alle Insassen der ‚Etania‘ [sic] in mein Zimmer, und Ihr könnt Euch kaum denken, wie glücklich wir alle waren, uns gesund wiederzusehen…“ (ebd.).
Von 1920 bis 21 pflegte Rosa Spiro im Genesungsheim der Eduard und Adelheid Kann-Stiftung in Oberursel in der Nähe von Frankfurt. Anschließend war sie im Jüdischen Krankhaus der Frankfurter jüdischen Gemeinde in der Gagernstr.36 in der chirurgischen Abteilung tätig. Kolleginnen waren hier unter anderen Thea Wolf und auch Bertha Schönfeld (s.o.).
Am 24.03.1941 konnte Rosa Spiro aus Deutschland entkommen und emigrierte nach New York wo sie weiter als Krankenschwester arbeitete. Laut Schiffsliste aus Ellis Island kam sie am 1. Januar 1941 auf der Nyassa dort an. Im März 1977 starb sie in New York (vgl. U.S. Social Security Death Index).
Margarete Seligmann (vgl. Heuss-Czisch/Lauxmann) wurde am 31. Mai 1886 in Wandsbek (heute Stadtteil von Hamburg) geboren. 1910 erhielt sie ihre Ausbildung zur Krankenschwester im Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main und pflegte bis 1914 im „Königswarter Hospital“. Während des ersten Weltkriegs diente sie im Lazarettdienst, in Lazarettzügen und besonders in Bulgarien wohin sie ab 1916 im Rahmen der Deutschen Sanitätsmission für Bulgarien beordert worden war. Mit ihren Kolleginnen Sara Adelsheimer, Beate Berger und Lina Spier war sie im Krankenhaus in Jamboli und darauf im Alexander-Spital zu Sofia, einem Großkrankenhaus mit 1000 Betten und einer internationalen Patientenschaft. „Bei ihrer Stationierung im damaligen Bulgarien zog sie sich Malaria zu. Dafür erhielt sie eine Rente. Auf ihre Orden und Ehrenabzeichen aus dieser Zeit war sie sehr stolz.“ (Ebd.)
Eine besondere Leistung des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main war die Beteiligung am Frankfurter Lazarettzug P.I. (vgl. Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1920: 54-56). Für den vom Frankfurter Roten Kreuz betriebenen Lazarettzug P.I wurden sechs neue Wagen im Auftrag des Vereins eingerichtet. Unterstützung gab es durch die Frankfurt-Loge, die Frankfurter Frauen-Vereinigung, die Weibliche Fürsorge und viele einzelne Spender. Neben dem Stammpersonal des Roten Kreuzes schlossen sich ab dem 1. März 1915 vom Verein „Dr. Deutsch als leitender Arzt sowie Schwester Ida [Holz] und Schwester Grete [Seligmann] dem alten Personal des Zuges an.“ (Ebd.: 57). Der Zug war vier Jahre und einen Monat lang in Betrieb. Tätigte 147 Transporte mit 177.000 km Fahrleistung und beförderte nahezu 30.000 Personen.“ (Ebd.: 54) Er war jedoch auch Angriffen ausgesetzt, Fliegerangriffe gab es z.B. 1916 und 1918 bei Cambrai und in Péronne. Der Bericht erwähnt sechs Tote (davon ein Pfleger), weitere Verletzte und Verluste von mehreren Wagen (ebd.: 56).
Im Jahresbericht des Vereins von 1920 für 1913-1919 fasst der Autor zusammen: „49 Schwestern erhielten im ganzen 78 Auszeichnungen, die meisten die Rote-Kreuz-Medaille III. Kl., einige auch II. Kl., und die Frankfurter Schwestern-Medaille. Im ganzen waren im Laufe der Jahre sämtliche Schwestern für den Heeresdienst verwendet worden, die weitaus meisten die ganz Kriegszeit hindurch. Als kleinste Zahl waren 56 Schwestern gleichzeitig in der Soldatenpflege tätig.“ (Ebd.: 56) Der Autor begegnet auch Nachfragen, warum denn nicht mehr der Schwestern ihrer Aufgabe im zivilen Bereich nachgekommen waren, indem er betonte, dass dort geholfen werden sollte, wo die Hilfe am nötigsten war „Und der unwiderstehliche innere Trieb, der uns als Deutsch hinzwang zum kämpfenden Vaterlande und seinen blutenden Besten…“ (edb.).
Grete Seligmann arbeitete anschließend bis 1925 im Jüdischen Krankenhaus in der Gagernstraße bis zu ihrer Heirat mit Alexander Adelsheimer (1880-1933), dem Bruder der Kollegin Sara Adelsheimer, der späteren Oberin des Frankfurter Schwesternvereins (vgl. Steppe 1997: 229). Ihr Ehemann war Religionsoberlehrer beim Oberrat der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs in Stuttgart. Er starb am 27. Dezember 1933 in Stuttgart. Alexander Adelsheimer brachte zwei Töchter mit in die Ehe. In der NS-Zeit flüchteten beide, möglicherweise zusammen mit ihrer Tante Sara Adelsheimer, nach Palästina.
Anfang der 1940er Jahre wurde Margarete Adelsheimer nach Eschenau „evakuiert“. Am 22. August 1942 folgte ihre Deportation nach Theresienstadt (vgl. Gedenkbuch BA Koblenz). Am 19.10.1944 wurde sie in das Vernichtungslager Auschwitz transportiert und dort ermordet (vgl. ebd.). Margarete Adelsheimers nach Tel Aviv geflüchtete Töchter erfuhren später von einer Überlebenden, dass „ihre Mutter auch In Theresienstadt als Krankenschwester tätig war und eine Krankenstation leitete“ (vgl. Heuss-Czisch/Lauxmann).
Glaser, Gertrud (1884-?)
Gertrud Glaser wurde am 07.02.1884 in Hindenburg (Oberschlesien) geboren (heute Zabrze, Polen) (vgl. Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, Hausstandsbuch, Bornheimer Landwehr 85: 22). 1912 erhielt sie ihre Ausbildung zur Krankenschwester im Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main. Um 1913 pflegte sie im Straßburger Israelitischen Krankenhaus. Während des ersten Weltkriegs blieb sie in Lazaretten in Straßburg. Nach dem Krieg arbeitete sie in der Privatpflege. Sie wohnte im Schwesternhaus in der Bornheimer Landstraße 85 bis zum August 1939, in dem Monat, in dem sie nach Santiago de Chile ausreisen konnte (vgl. Steppe 1997: 230).
Edgar Bönisch, April 2021
Quellen
Archivmaterial
Yad Vashem, Jerusalem (Gedenkblätter)
Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Entschädigungsakten, Personen
Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, HB 655, Bornheimer Landwehr 85
Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, HB 686 und 687, Gagernstraße 36
Gedenkbuch BA Koblenz
Stadtarchiv Bad Nauheim
Literatur, Bilder und Internetquellen
Altenmüller, Irene 2021: Wie Frauen sich ihr Wahlrecht erkämpft haben. https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Frauenwahlrecht-in-Deutschland-Die-Geburtsstunde,frauenwahlrecht110.html (29.03.2021)
Betzien, Petra 2018: Krankenschwestern im System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Selbstverständnis, Berufsethos und Dienst an den Patienten im Häftlingsrevier und SS-Lazarett. Frankfurt am Main
Bönisch, Edgar 2015: Die Ausbildung von Krankenpflegerinnen durch die Logenvereinigung Unabhängiger Orden Bnei Briss (UOBB). https://www.juedische-pflegegeschichte.de/die-ausbildung-von-krankenpflegerinnen-durch-die-logenvereinigung-unabhaengiger-orden-bnei-briss-uobb/# (19.03.2021)
Bude, Heinz 2000: Qualitative Generationsforschung, in: Uwe Flick, Ernst von Kardoff, Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Hamburg: 187-194
Das Lawinenunglück in Davos. In: Der Israelit vom 15. Januar 1920, zitiert nach https://www.alemannia-judaica.de/davos_juedgeschichte.htm (15.02.2020)
Delegierten-Versammlung 1904: Delegierten-Versammlung der Vereinigung zur Ausbildung jüdischer Krankenpflegerinnen in Deutschland im September 1904 zu Frankfurt a. M. im Schwesternheim Königswarterstraße 20. Frankfurt a. M. o. J. [1904]
Delegierten-Versammlung 1905: Delegierten-Versammlung der Vereinigung zur Ausbildung jüdischer Krankenpflegerinnen in Deutschland zu Berlin 1905 […]. Berlin o. J. [1905]
Deutscher Bundestag: Kaiserreich (1871 – 1918). https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/parlamentarismus/kaiserreich (25.03.2021)
Hanauer, Wilhelm 1914: Festschrift zur Einweihung des neuen Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde zu Frankfurt am Main. Frankfurt am Main
Helmerichs, Jutta 1992: Krankenpflege im Wandel (1890 bis 1933). Dissertation Universität Göttingen
Heuss-Czisch, Barbara/Lauxmann, Jennifer: Margarete Adelsheimer. In: Gegen das Vergessen. Stolpersteine in Stuttgart. https://www.stolpersteine-stuttgart.de/index.php?docid=530 (30.03.2021)
Hochschule für Frauen zu Leipzig. https://de.wikipedia.org/wiki/Hochschule_f%C3%BCr_Frauen_zu_Leipzig (17.03.2021)
Jüdische Gemeinde Frankfurt/M: Die Geschichte der Jüdischen Gemeinde Frankfurt. https://www.jg-ffm.de/de/gemeinde/geschichte (29.03.2021)
Käppner, Joachim 2021: Des Kaisers alte Kleider. Das Wilhelminisch Reich war nicht besser als sein Ruf. Im Gegenteil. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 63, 17. März 2021, München
Krohn, Helga 2000: Ein „Gruss aus Frankfurts schönstem Stadtteil“ – Blick in die Frankfurter Stadtentwicklung. In: Krohn, Helga: Ostend. Blick in ein jüdisches Viertel (Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung), Frankfurt am Main
Liste Deutscher Reichskanzler. https://www.science-at-home.de/wiki/index.php/Liste_deutscher_Reichskanzler (25.03.2021)
Mühlberger, Martina 1966/67: Geschichte der Krankenpflege. http://www.carolusbrevis.de/martina/KPflege/Krankenpflege.pdf (17.03.2021)
Nolte, Karen 2020: Sorge für Leib und Seele. Krankpflege im 19. und 20. Jahrhundert. In: Bundeszentrale für politische Bildung: Pflege. Praxis – Geschichte – Politik. APuZ (Aus Politik und Zeitgeschichte) Schriftenreihe Band 10497, Bonn
Osterhammel, Jürgen 2012: Das 19. Jahrhundert. 1880 bis 1914. In: Informationen zur Politischen Bildung (Heft 315). https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/informationen-zur-politischen-bildung/142156/das-19-jahrhundert (01.09.2020)
Seemann, Birgit/Bönisch, Edgar unveröffentlicht: Conflicts during the Institutionalisation of German-Jewish Nursing (1880-1910)
Steppe, Hilde 1997: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre …“. Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt/M.
Titzenthaler, Waldemar Franz Hermann 1910: Paul Ehrlich Arbeitszimmer. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Paul_Ehrlich_Arbeitszimmer.jpg (29.03.2021)
Ulmer, Eva-Maria 2009: Der Beginn der beruflich ausgeübten Pflege im 19. Jahrhundert. https://www.juedische-pflegegeschichte.de/der-beginn-der-beruflich-ausgeuebten-pflege-im-19-jahrhundert/ (17.03.2021)
U.S. Social Security Death Index. https://www.ancestry.com/search/collections/3693/
Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1899: 6. Jahresbericht des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main
Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1900: 7. Jahresbericht des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main
Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1902: 9. Jahresbericht des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main: Anhang
Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1908: 15. Jahresbericht des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main
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Vom gottgefälligen Dienen zur Profession: Gesundheits- und Krankenpflege https://www.diakonie.de/soziale-berufe (17.03.2021)
Ziemann, Benjamin 2016a: Das Kaiserreich als Nationalstaat. In: Bundeszentrale für politische Bildung, Informationen zur politischen Bildung, Nr. 329, 1/2016
Ziemann, Benjamin 2016b: Deutschland in der Welt. In: Bundeszentrale für politische Bildung, Informationen zur politischen Bildung, Nr. 329, 1/2016
Das Team des Projekts www.juedische-pflegegeschichte.de ist eingeladen am 24. und 25. September 2019, anlässlich des Kolloquiums „Medizin und Judentum“, den Vortrag „Jüdische Pflegegeschichte – Rückblick und aktuelle Forschungsthemen“ zu halten. Wir freuen uns.
(Dr. med. Mabuse Nr. 230, November / Dezember 2017)
In diesem Jahr wäre Hilde Steppe, eine der Pionierinnen der Entwicklung deutscher Pflegewissenschaft, 70 Jahre alt geworden, wenn sie nicht schon 1999 verstorben wäre. Dies veranlasste den Verein zur Förderung der historischen Pflegeforschung e. V. in Frankfurt am Main sowie die Sektion Historische Pflegeforschung der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft e. V. dazu, einen akademischen Gedenktag auszurichten. Die Frankfurt University of Applied Sciences (früher Fachhochschule Frankfurt), an der Hilde Steppe kurz vor ihrem Tod eine Professur besetzte, stellte die Räume zur Verfügung. Etwa 40 Teilnehmende waren aus ganz Deutschland, aus der Schweiz und sogar aus Schottland angereist. Überwiegend handelte es sich um Interessierte, die Hilde Steppe noch persönlich gekannt haben.