Jüdische Pflege- geschichte

Jewish Nursing History

Biographien und Institutionen in Frankfurt am Main

Abb. 7: Die Milchküche. Aus: Schlossmann 1906: Tafel VI

Entwicklung einer professionellen Kinder- und Säuglingspflege im Deutschen Reich und in Frankfurt am Main

Im erfolgreichen Kampf gegen die Säuglings- und Kindersterblichkeit wirkten viele Maßnahmen und Einrichtungen zusammen: Die Errichtung von Kinderkliniken und Kinderkrankenhäusern, die Entwicklung der Lehre und Forschung an den Hochschulen, die Ausbildung von Kinderärzten und Kinderkrankenschwestern, der Unterricht von Hebammen, Frauen und Mädchen in der Säuglingspflege, die Einrichtung der Säuglingsfürsorgestellen (Mütterberatungen), Säuglings-, Kinder- und Durchgangsheimen, Kindertagesstätten (Krippen für Säuglinge und Krabbelkinder), Kindergärten für Kleinkinder, Horte für Schulkinder und Tagesheime, soziale Fürsorge für die Schwangeren, für die Mütter im Wochenbett und während der Stillzeit durch die Sozialversicherung (Wochengeld, Stillgeld), Einrichtungen der Berufsvormundschaft, gesetzliche Regelung des Pflegekinderwesens (Reichsgesetz für Jungendwohlfahrt vom 9. Juli 1922) und des Kinderschutzes vom 30. März 1903, staatliche Aufsicht über die Seuchenabwehr, Impfungen, Tuberkulosefürsorge und Milchhygiene.

Albrecht Peiper (Peiper 1965: 298)

Einführung

Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/in heißt heute der Beruf, um dessen Geschichte es hier geht. Die Bundesagentur für Arbeit definiert:

Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/innen betreuen und versorgen kranke und pflegebedürftige Säuglinge, Kinder und Jugendliche. Sie führen ärztlich veranlasste Maßnahmen aus, assistieren bei Untersuchungen und Behandlungen, dokumentieren Patientendaten und wirken bei der Qualitätssicherung mit.

Bundesagentur für Arbeit

Die Ausbildung wird an Pflegeschulen vermittelt, dauert 3 Jahre und wird mit einer staatlichen Prüfung abgeschlossen. Die ersten beiden Jahre entsprechen der Ausbildung zum Pflegefachmann/-frau und spezialisiert sich im letzten Jahr auf die Pflege von Kindern. Eine Ausbildung im Rahmen eines Hochschulstudiums ist möglich (vgl. Bundesagentur für Arbeit).
Im Lauf der Herausbildung der verschiedenen Berufsbilder in der Säuglings- und Kinderpflege sind die Übergänge oft fließend. Entsprechend benutze ich im Text den von Birgit Seemann vorgeschlagenen Oberbegriff der Kinder- und Säuglingspflege (vgl. Seemann 2021). In der Literatur werden dabei meist Kinder bis zum Ende des ersten Lebensjahres als Säuglinge bezeichnet (vgl. Säuglingsdefinition). Zunächst folgen Informationen zum gesellschaftspolitischen Kontext.

Gesellschaftspolitische Situation im 19. Jahrhundert

Nach der napoleonischen Zeit mit seinen revolutionären Bestrebungen, aber auch verheerenden Vernichtungskriegen und den Freiheitskriegen zwischen 1813 und 1815 entstand nach dem Wiener Kongress 1815 der Deutsche Bund mit Preußen, Österreich, 35 Fürstentümern und 4 Städten (Deutschland m 19. Jahrhundert). Nach dem Scheitern der Bestrebungen nach einem deutschen Nationalstaat sowohl in der Revolution von 1848 und der Nationalversammlung in der Paulskirche 1848/1849 und nach den Einigungskriegen (1864-1871) manifestierte sich das Deutsch Kaiserreich 1871 (Deutschland m 19. Jahrhundert).
Die Industrialisierung setzte in England Ende des 18. Jahrhunderts ein. Maßgeblicher Faktor war die Erfindung der Dampfmaschine (James Watt 1769) und die Nutzung einer wirtschaftlichen, weltweiten Vernetzung als Kolonialmacht. In deutschen Gebieten, geprägt durch Landwirtschaft, setzte die Industrialisierung erst durch die Einführung des Deutschen Zollvereins im Jahr 1834 ein, wodurch die Durchlässigkeit durch die kleinen deutschen Staaten wuchs. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlangte das Deutsche Reich eine starke wirtschaftliche Position (vgl. Kinderzeitmaschine).
Pauperismus, in etwa mit Massenarmut zu übersetzen, setzte seit etwa 1825, von England kommend, ein. Pauperismus bedeutet Armut aufgrund des Zusammentreffens von agrarischer Überbevölkerung und konjunkturellen Störungen (vgl. Hardtwig 1985).

Wie viele andere Teile des europäischen Kontinents, so war auch Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einem heute schwer nachvollziehbaren Maße ein Land der Massenarmut.“

Osterhammel 2012

Nach einem extremen Verfall der Preise für Agrarprodukte mussten Menschen, die von der Landwirtschaft lebten, ihren Lebensunterhalt im Handel, dem Handwerk und in der Industrie bestreiten, fanden dort meist nur schlecht bezahlte Stellen und lebten unter dem Existenzminimum. Eine Folge war eine massenweise Auswanderung aus dem Gebiet des späteren Deutschen Reichs, für 1850 waren dies 83.220 Personen. Ebenso nahm seit 1815 auch die Binnenwanderung in die Städte zu, Leipzig als Beispiel hatte 1830 38.000 Einwohner und im Jahr 1852 bereits 67.000.
Über die Situation der Frauen, als Mütter, im beginnenden 19. Jahrhundert schreibt Johann Peter Frank:

Durch die Leibeigenschaft sind die Männer gezwungen, den Herren Dienst zu leisten und daher die Besorgung der Äcker und Wiesen – in jenen Gegenden nur allzu schwer und häufig – den Frauen bis in die letzten Monate der Schwangerschaft zu überlassen. Während man die schwangeren Haustiere schont, muß das schwangere menschliche Weib entweder unbarmherzig Hungers sterben oder den fruchtbaren Leib unter das Sklavenjoch beugen. […] Vielfältige Gefahren stehen der Wöchnerin bevor, wenn man nicht besser für sie sorgt. Der Geburt folgen oft: Retention der Nachgeburt, kühner Versuch der Hebamme, sie gewaltsam herauszuholen, Atonie des Fruchtträgers, Blutstürze, Ohnmachten und Kindbettfieber […].

(Frank 1790)

Christa Berg beschreibt die Situation der Mütter für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts:

Die Mütter aus der Arbeiterklasse kapitulierten häufig vor der Doppelbelastung in Haushalt und Erwerbsleben. Durch die Zuerwerbsarbeit standen die Frauen oft unter physischen und psychischen Belastungen, die sich in Müdigkeit und Überreizung auswirkten. Für soziale Kontakte war nur selten Zeit. Eine Zielsetzung in der Erziehung der Kinder, wie wir sie heute kennen und fordern, gab es nicht. Die Kinder blieben oft sich selbst überlassen oder wurden in die Obhut ihrer Geschwister, Verwandten oder Nachbarn gegeben. Eine Hof- und Straßensozialisation mit selbstgewählten Freunden ohne Aufsicht von Erwachsenen war Ersatz für das, was Eltern an Erziehung nicht leisten konnten. Den Müttern blieb auch in der Regel keine Zeit für eine Auswahl von preisgünstigen Nahrungsmitteln, weshalb sich Menschen der Arbeiterklasse häufig mehr oder weniger zufällig ernährten. Die daraus resultierende oft mangelhafte Ernährung führte zu gesundheitlichen Schäden. Besonders betroffen waren schwangere Frauen und kleine Kinder. Die am meisten vorkommenden Erkrankungen waren Tuberkulose, Magen-Darm-Erkrankungen und die Englische Krankheit (Rachitis). Die Hausarbeit wurde mehr schlecht als recht verrichtet. Für planendes und somit sparsames Wirtschaften wie z. B. Vorräte anlegen fehlten Zeit und Bildung. Wo die Belastung zu groß war, griff man zum Alkohol.“ (Berg 1991) Und weiter: „Im gehobenen Bürgertum und in Adelsfamilien war die Frau von den Sorgen der Existenzsicherung und unmittelbarem Arbeitseinsatz im Haushalt entlastet. […] Durch karitative Tätigkeiten und gesellschaftliche Verpflichtungen war aber auch hier die Mutter für die Bedürfnisse ihrer Kinder nicht präsent. Für die Pflege, Betreuung und Erziehung der Kinder wurde Personal engagiert: Ammen, Kindermädchen, Erzieherinnen. Das Familienleben beschränkte sich auf das Wochenende, auf Feierabende und allenfalls auf die Mahlzeiten.

Berg 1991

Die Entwicklung der Säuglingspflege


Die medizinische Entwicklung

Die Entwicklung der Medizin schritt im 19. Jahrhundert schnell voran, detailliertere Angaben hierzu im Artikel: Schwesternschülerinnen im Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main (Bönisch 2021). Stellvertretend sei hier auf die Arbeiten des Bakteriologen Robert Koch (1843-1910) und des Mikrobiologen Louis Pasteur (1822-1895) verwiesen (vgl. Wegmann 2012: 15) Für die Entwicklung hin zur professionellen Krankenpflege in Verbindung mit der Entwicklung von allgemeinen Krankenhäusern verweise ich auf einen Artikel der Datenbank www.juedische-pflegegeschichte.de zur beruflich ausgeübten Pflege im 19. Jahrhundert (Ulmer 2009).

Zeitraum 1801-1870 Preußen/ ab 1870 Deutsches Reich und Weimarer Republik.
Todesfälle in Prozent im ersten Lebensjahr der lebend Geborenen:
1811-182016,9
1821-183017,4
1831-184018,3
1841-185018,6
1851-186019,7
1861-187021,1
1871-188023,4
1881-189022,5
1891-190021,7
1901-190519,9
1906-191017,4
1911-191516,0
1916-192014,5
1921-192512,2
1926-19289,6
19308,5
19356,8
19406,4
20193-4
Tabelle 1: Von 100 Lebendgeborenen starben im 1. Lebensjahr, nach: Peiper 1965: 406, Peiper bezieht sich auf: Prinzing 1931. Ergänzungen nach Charbonneau 2019. Vgl. auch Thomann-Honscha 1988: 23

Die allermeisten Kinder wurden bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu Hause geboren. In den Kliniken starben ca. 30 % der entbindenden Frauen an Kindbett (Infektion der Geburtswunde) und so waren es Mütter der städtischen Unterschicht und ledige Frauen, die diese Möglichkeit der Entbindung nutzten (vgl. Wegmann 2012: 17). Ignatz P. Semmelweis (1812-1865) konnte in Wien am „Allgemeinen Krankenhaus“ nachweisen, dass die hohe Sterblichkeit der Mütter im Kindbettfieber nichts mit der Sterblichkeit der Kinder im ersten Lebensjahr zu tun hatte. Durch die Anweisung an das Krankenhauspersonal, die Hände zu desinfizieren, bewirkte, dass die Sterblichkeitsrate bei den Frauen um die Hälfte sank (vgl. Wegmann 2012: 17).
Die Hauptursachen der Säuglingssterblichkeit waren einerseits die Ernährung. Eine Untersuchung in Berlin aus dem Jahr 1906 zeigte, dass „Flaschenkinder“ 7-mal häufiger starben als „Brustkinder“. Über die „künstliche“ Ernährung mit Kuh-, Esels- oder Ziegenmilch wusste man zu dieser Zeit wenig, oft kam es zu Magen-Darmproblemen durch Infektionen bedingt durch unsaubere Milch oder Stoffwechselkrankheiten (z. B. durch zu hohen Eiweißgehalt der Milch) (vgl. Wegmann 2012: 18). Andererseits spielte das Unwissen über die korrekte „Wartung und Pflege“ der Säuglinge sowohl in Arbeiterkreisen als auch in Kreisen Adliger und Bürger eine große Rolle. Für die Arbeiterfamilien kamen die Lebensbedingungen dazu, die Wohnsituation, mangelndes Licht und fehlende Luft (vgl. Wegmann 2012: 18 und Straßburg o. J. sowie Blessing 2013: 25).
Probleme der Säuglings- und Kinderpflege waren zusammenfassend: die Ernährung der Kinder, die Hygiene im Umgang mit den Kindern, die nicht ausreichende Pflege von gesunden und kranken Kindern, wie auch die soziale Fürsorge für Kinder und Eltern.
Albrecht Peiper weist in seiner Chronik der Kinderheilkunde auf das komplexe Zusammenwirken unterschiedlichster Institutionen und Anstrengungen von Einzelpersonen und Gruppen hin, durch die es möglich war, in der Säuglings- und Kinderpflege etwas zu verändern. Ich wiederhole das Artikelmotto:

Im erfolgreichen Kampf gegen die Säuglings- und Kindersterblichkeit wirkten viele Maßnahmen und Einrichtungen zusammen: Die Errichtung von Kinderkliniken und Kinderkrankenhäusern, die Entwicklung der Lehre und Forschung an den Hochschulen, die Ausbildung von Kinderärzten und Kinderkrankenschwestern, der Unterricht von Hebammen, Frauen und Mädchen in der Säuglingspflege, die Einrichtung der Säuglingsfürsorgestellen (Mütterberatungen), Säuglings-, Kinder- und Durchgangsheimen, Kindertagesstätten (Krippen für Säuglinge und Krabbelkinder), Kindergärten für Kleinkinder, Horte für Schulkinder und Tagesheim, soziale Fürsorge für die Schwangeren, für die Mütter im Wochenbett und während der Stillzeit durch die Sozialversicherung (Wochengeld, Stillgelt), Einrichtungen der Berufsvormundschaft, gesetzliche Regelung des Pflegekinderwesens (Reichsgesetz für Jungendwohlfahrt vom 9. Juli 1922) und des Kinderschutzes vom 30. März 1903, staatliche Aufsicht über die Seuchenabwehr, Impfungen, Tuberkulosefürsorge und Milchhygiene.“

(Peiper 1965: 298)

Besonders hervorheben möchte ich die Rolle der Kinderärzte in der Entwicklung einer Säuglings- und Kinderpflege, die Einrichtung von Säuglings- und Kinderkrankenhäusern und die Entstehung von sozialer Pädiatrie.

Die „Kinderärzte“

Meist waren es Internisten, die durch Beobachtung der Kinder deren besondere Bedürfnisse erkannten. Zusammen mit praktischen Ärzten, die sich um Kinder und deren Krankheiten sorgten, erreichten sie gemeinsam eine zunehmende Spezialisierung der Säuglings- und Kinderpflege. Als Beispiel sei Arthur Schlossmann (1865-1942) genannt, der in Freiburg, Leipzig, Breslau und München studierte und nach einer Assistenz am Kaiser und Kaiserin Friedrich-Kinderkrankenhaus in Berlin sich 1893 in Dresden als „Kinderarzt“ niederließ. In den Räumen seiner Praxis führte er eine Poliklinik für Kinder und Säuglinge und wurde zum Mitbegründer und Leiter der Dresdner Kinderklinik einschließlich Säuglingsheim. Seit 1899 stand dort auch eine Schule für Säuglingspflegerinnen zur Verfügung.
1822 war die Deutsche Gesellschaft für Naturforscher und Ärzte gegründet worden, „eines der maßgeblichen wissenschaftlichen Foren im 19. Jahrhundert“ (Fehlemann 2004: 208). 1868 formierte sich innerhalb der Gesellschaft die „Section für Pädiatrik“ (vgl. Fehlemann 2004: 208 und Seidler 1997). Aus der Section wiederum entstand 1883 die „Gesellschaft für Kinderheilkunde“ (vgl. Fehlemann 2004: 208 und Seidler 1997), ein Forum für Themen der Säuglings- und Kinderpflege wie Impfpflicht, Hygiene, Ernährung und Pflege sowie Säuglingssterblichkeit. Leo Langstein und Max Pescatore, Ärzte dieses Kreises, publizierten 1906 das Lehrbuch Pflege und Ernährung des Säuglings. Ein Leitfaden für Pflegerinnen und Mütter.

Der Kinderarzt und Historiker Albrecht Peiper betont:

Die krankhaften Prozesse im Kindesalter sind ihrem Wesen nach dieselben wie beim Erwachsenen, allein der Boden, auf dem sie vor sich gehen, ist erheblich anders, weil sie sich nicht an einem in ruhigem labilem Zustande befindlichen, sondern in raschem Wechsel und Wachstum begriffenen Organismus abspielen, weil der ganze Stoffumsatz und die physiologische Tätigkeit und Bedeutung einzelner Organe für das Ganze wesentlich anders ist als später. Die erheblichen anatomischen Unterschiede zwischen Kind und Erwachsenem beziehen sich auch auf den feineren Aufbau der Gewebe und Organe. […]. Die dem Kinde eigentümliche allgemeine Krankheitsanlage tritt umso mehr hervor, je jünger es ist.

(Peiper 1965: 283f.)

Allgemein lässt sich sagen, dass viele der angehenden Kinderärzte sich zur Forschung einige Zeit im Ausland aufhielten, etwa in Wien, Paris, Zürich oder Prag. Viele hatten Kontakt zur Würzburger Universität, wo sich schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Kooperation mit der Stiftung Juliusspital eine Kinderklinik gegründet hatte. Trotz Bemühungen durch Professor Franz von Rinecker gelang es jedoch nicht, einen eigenen Lehrstuhl zu installieren (vgl. Tomasevic 2002). Als wichtige Wegbereiter der Kinderheilkunde nennt die Historikerin Hedwig Wegmann: Adolf Baginsky (1843-1918), Theodor Escherich (1857-1911), Carl A. J. C. Gerhardt (1833-1902), Eduard Henoch (1820-1910), Otto J. H. Soltmann (1844-1912) und August Steffen (1825-1910) (vgl. Wegmann 2012: 20).

Die ersten Lehrstuhlinhaber für Kinderheilkunde an Universitäten waren:

1894, BerlinOtto Heubner
1896, LeipzigOtto Soltmann
1906, BreslauAdalbert Czerny
1907, DüsseldorfArthur Schlossmann
1912, MünchenMeinhard v. Pfaundler
Tabelle 2: Erste universitäre Ausbildungsstätten für Kinderheilkunde (Wegmann 2012: 34)

Otto Heubner (1843-1926)
Otto Heubner (1843-1926) 1898, erster Lehrstuhlinhaber für Kinderheilkunde (ab 1894). © Public Domain. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Otto_Heubner_2.jpg (11.04.2022)

Kinderkrankenhäuser

Das erste reine Kinderkrankenhaus wurde 1802 in Paris gegründet, das Hôpital des enfants malades (vgl. Peiper: 17).

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurden Kinder gemeinsam mit kranken Erwachsenen untergebracht. Oft lagen 8-9 Kinder im selben Bett oder mit Erwachsenen im Bett. Ansteckende Krankheiten wurden nicht isoliert. In der Mitte des 19. Jahrhunderts reifte die Erkenntnis, dass Kinder als Kinder und nicht als kleine Erwachsene zu behandeln sein, sowohl im sozialen Umfeld, als auch in Bezug auf ihre Krankheiten (vgl. Wegmann 2012 und Seidler 1983: 13 ff.). Das heutige Clementine Kinderhospital, das seine Wurzeln 1845 in Frankfurt am Main hat, berichtet auf seiner Internetseite zu seiner Geschichte: „Die Stiftungen von Dr. Johann Theobald Christ (1777–1841) und von Louise Freifrau von Rothschild (1820–1894). Beide Gründerpersönlichkeiten hatten früh die Notwendigkeit eigenständiger Kinderkrankenhäuser erkannt: Kinder sollten nicht wie kleine Erwachsene behandelt werden, sondern altersgerecht entsprechend ihren spezifischen seelischen und körperlichen Bedürfnissen.“ (Clementine Kinderhospital).

1829Kinderklinik der Berliner Charité
1836Wilhelm-Agusta-Hospital, Breslau
1840Kinderabteilung im Juliusspital, Würzburg, 1847 Separatanstalt für Kinder, 1850 Uni-Kinderklinik
1841Kinderspital zu Sankt Georg im Amalienstift, Hamburg
1842Heilanstalt für arme, kranke Kinder, Stuttgart
1843Elisabeth-Kinderhospital, Berlin
1844Luisen-Kinderheilanstalt, Berlin
1845Kinderkrankenhaus, Frankfurt am Main. Dr. Chritst’sches Kinderhospital für arme Kinder
1846Dr. von Haunersches Kinderspital, München, Kinderspital, Kassel, Kinderspital, Ludwigsburg
1856Kinderheil- und Diakonissenanstalt zu Stettin, Stettin
1860Kinderheilanstalt, Luisenheilanstalt, Heidelberg
1898Säuglingskrankenhaus Dresden
Tabelle 3: Frühe Einrichtungen für Säuglings- und Kinderpflege (Tabelle nach Wegmann 2012: 21, mit Ergänzung aus: Clementine Kinderhospital/Geschichte, Peiper 1965: 271 und Blessing 2013)

Soziale Pädiatrie

Die Etablierung eines akademischen Faches „Kinderheilkunde“ gestaltete sich langwierig. Ein Grund dafür mag sein, dass die Entwicklung des Faches nicht aus der Hochschulmedizin kam. Nicht die Betrachtung und Untersuchung bestimmter Krankheiten führte zu einer Spezialisierung wie z. B. der Hals-, Nasen- und Ohrenkunde oder anderer bestimmter Organe. „Die Kinderheilkunde [fokussierte] das Individuum, nämlich das Kind in seiner Gesamtheit, mit allen organischen, infektiösen und psychischen Erkrankungen“ (Fehlemann 2004: 210).

Um die Gesamtheit eines Kindes zu erfassen, bildete sich die soziale Pädiatrie heraus. Ab Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts machten sich vor allem jüdische oder jüdischstämmige Kinderärzte für den Auf- und Ausbau sozialpädiatrischer Einrichtungen verdient. Genannt seien Arthur Schlossmann in Dresden, Hugo Neumann und Heinrich Finkelstein in Berlin sowie Max Taube in Leipzig. Man begann kranke Neugeborene zu behandeln und zu betreuen und richtete Mütterberatungsstellen ein. Literatur zum Thema wurde publiziert, z. B. ein Handbuchartikel von Gustav Tugendreich und Max Mosse (Mosse/Tugendreich 1994 [1977]), die den Zusammenhang kindlicher Tuberkulose mit der sozialen Lage nachweisen (vgl. Straßburg o. J.).

1909 gründete sich in Berlin die „Deutsche Vereinigung für Säuglingsschutz“. Ihre Hauptaufgabe war die Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit und der Aufbau von Säuglingseinrichtungen in Deutschland. Gründungsvorsitzender war der Direktor des neugegründeten „Kaiserin Auguste Victoria Hauses“ in Berlin, Arthur Keller (1868-1934). Während und nach dem Ersten Weltkrieg erkannte man, dass soziale Probleme der Grund für Krankheiten und Entwicklungsstörungen sein konnten. Die Vereinigung nannte sich 1920 in „Deutsche Vereinigung für Säuglings- und Kleinkinderschutz“ um. Die Mitglieder, meist Direktoren von Kinderkliniken und Gesundheitseinrichtungen, veröffentlichten Bücher und Artikel zu den Themen Ernährungs- und Gesundheitsberatungen, empfahlen Maßnahmen zur Prävention von Krankheiten und forderten zur allgemeinen Verbesserung der Lebensumstände von Kindern auf. Publikationen hießen z. B.: „Die 10 Gebote für die junge Mutter“, „Licht, Luft und Sonne dienen deinem Kind“ oder „Der Arzt als Erzieher des Kindes“ (vgl. Straßburg o. J.).

Institutionen der Säuglings- und Kinderpflege, drei Beispiele

Die Kinderabteilung in der Charité

1793 gründete der praktische Arzt Dr. Friedrich Zirtzow (?-1813) (vgl. Ebert/David 2021) das „Institut für arme kranke Kinder zu Breslau“ eine poliklinische Anstalt, bis wann sie existierte ist nicht bekannt. Die erste deutsche Universitätskinderklinik und damit das erst deutsche Kinderkrankenhaus, war die 1829 eröffnete Kinderabteilung der Berliner Charité mit 30-45 Betten (vgl. Peiper 1965: 266).

Der dritte Leiter der Kinderklinik, Eduard Henoch (1820-1910), stand der Klinik von 1872-1893 vor und zählte zu den Größen der Berliner Ärzteschaft. Er war bereits 1868 zum außerordentlichen Professor ernannt worden, eine ordentliche Professur jedoch war ihm als konvertiertem Juden versagt. 1888 eröffnete der von Henoch geplante Neubau für Kinder mit ansteckenden Krankheiten vgl. Fabert o. J.). Bedeutende Publikationen von ihm waren die Übersetzung der Pathologie und Therapie der Kinderkrankheiten des Engländers Christian West 1864 und 1881 die Herausgabe vom Lehrbuch der Kinderkrankheiten (vgl. Peiper 1965: 266). Otto Heubner (1843-1941), 1894 zum ersten Ordinarius für Kinderheilkunde in Deutschland berufen, leitete die Klinik von 1894-1910 und setzte seine Vorstellungen einer modernen Kinderheilkunde auch in einem erneuten Neubau der Kinderklinik von 1903 um. Adalbert Czerny (1863-1954) trat Heubners Nachfolge in der Klinik an (vgl. Fabert o. J.).

Otto Heubner schreibt um 1900:

Sie [die Klinik] war in einem Seitenflügel des alten Charité-Krankenhauses in aneinanderstoßenden, nur auf einer Seite mit Fenstern versehenen, halbdunklen Sälen und einigen kleinen Zimmern untergebracht, die Säuglinge lagen zusammengepfercht in einem kaum lüftbaren Durchgangszimmer […]. Das Pflegepersonal bestand aus Wörther Diakonissen, guten, willigen, immer dienstbereiten Mädchen, die aber von Krankenhaushygiene und Säuglingspflege noch wenig klare Begriffe hatten […]. Mein Vorgänger Henoch hatte mir geraten, die Säuglingsabteilung ganz eingehen zu lassen, da sie nur dazu führte, die Klinik zu diskreditieren.

(Peiper: 278)

Wobei offensichtlich die Verhältnisse in der Charité längst nicht die schlechtesten waren im Vergleich zu „andern Säuglingspflegestätten mit künstlicher Ernährung“ (Epstein, zitiert in Peiper: 278).

Einen Kommentar von Florence Nightingale (1820-1910) zum Verhältnis Arzt-Pflegerin erscheint mir hier passend auch wenn er schon über 40 Jahre vorher gegeben wurde. 1863 äußert sich Nightingale über Kinderspitäler und die Pflegerinnen, eine Zeit in der es noch keine ausgebildeten Säuglingsschwestern gab. Kinder selbst könnten keine Beschwerde führen bemerkt sie. Auch wenn Ärzte ihre Partei ergreifen wollten, sollten diese vorsichtig mit den Pflegerinnen, die ja ständig mit den Kindern zusammen sein, umgehen. Die Pflegerinnen sollen ja Autorität für die Kinder sein und werden sich, wenn diese untergraben wird, an den Kindern rächen. Auch setzte sie sich vehement für einen liebevollen Umgang mit den Kindern ein, der öfter eher von den Frauen im nebenan stehenden Bett geleistet werden könne als von den Betreuerinnen (vgl. Peiper: 272f.). So viel hier zur Kinderklinik in der Charité. Ein besseres Verständnis für das Leben in der Klinik vermittelt der folgende Abschnitt über die Dresdner Klinik, die Vorbild für viele Säuglings- und Kinderinstitutionen wurde.

Das Säuglingskrankenhaus Dresden

Durch fehlende Hygiene, Mangelernährung und Unkenntnisse in der Pflege war die Säuglingssterblichkeit um 1900 sehr hoch, auf den Stationen der Kinderkliniken betrug sie bis zu 70 %. Der Dresdner „Verein Kinderpoliklinik mit Säuglingsheim in der Johannstadt“ gründete deshalb am 1. August 1898 das erste Säuglingskrankenhaus, weltweit, Leiter war der Pädiater Arthur Schlossmann (1867-1932) (vgl. Blessing 2013).

Schlossmann war zuvor Assistent bei Adolf Baginsky (1853-1918), der gemeinsam mit Rudolf Virchow 1890 in Berlin das Kaiser-und-Kaiserin-Friedrich-Kinderkrankenhaus gegründet hatte. Baginsky, der ehemalige Chef von Schlossmann, war einer der ersten, der sich für gut ausgebildetes und gewissenhaftes Pflegepersonal einsetzte (vgl. Tugendreich 1910: 189). Im Berliner Kinderkrankenhaus wurde 1900 eine Säuglingspflegerinnenschule eingerichtet und bald entwickelte sich der Beruf neben der Säuglingskrankenpflege auch zur Säuglingspflege für zu Hause, auch für gesunde Kinder (vgl. Gellrich 2012: 74). Aus Schlossmanns privater Kinderpoliklinik entstand mithilfe des Vereins in Dresden das weltweit erste Säuglingskrankenhaus (vgl. Blessing 2013). Bereits 1899 eröffnete eine Schule für Säuglingspflegerinnen am Säuglingskrankenhaus, die Trägerschaft hatte der „Verein Kinderpoliklinik mit Säuglingsheim in der Johannstadt“ (vgl. Gellrich 2012: 74).

Arthur-Schlossmann-Denkmal
Arthur-Schlossmann-Denkmal auf dem Gelände der Universitätsklinik Düsseldorf, „Dem Retter der Kinder“. © https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Arthur_Schlossmann_Denkmal_Uniklinik_D%C3%BCsseldorf.jpg CC-BY-SA-3.0

Erklärte Ziele des Vereins waren arme und kranke Kinder kostenfrei zu behandeln, Säuglinge mit guter, reiner Milch zu versorgen sowie Säuglingspflegerinnen auszubilden. Die Zustände im Heim waren jedoch schwierig, da, durch die ständige Überbelegung in der Anfangszeit, die geforderten Hygienebedingungen nicht eingehalten werden konnten, Bettbelegungen von 2-3 Kindern war normal. Das Heim musste vergrößert werden. Die Stadt stellte 1903 ein Grundstück für einen Neubau zur Verfügung, 1905 kam eine Waldbaracke für Säuglinge in der Dresdner Heide dazu. Um die weitere Finanzierung zu sichern, wurde die Klinik 1907 unter die Verwaltung der Stadt genommen. Schlossmann selbst war 1906 nach Düsseldorf als Leiter der dortigen Kinderklinik berufen worden (vgl. Blessing 2013).

Abbildung Dresdner Säugligsheim. Aus: Schlossmann 1906, Tafel I
Abbildung 4: Das Dresdner Säuglingsheim.
Aus: Schlossmann 1906, Tafel I
Abb. 5: Die Waldbaracke für Säuglinge in der Dresdner Heide. Aus: Schlossmann 1906, Tafel X
Abb. 5: Die Waldbaracke für Säuglinge in der Dresdner Heide. Aus: Schlossmann 1906, Tafel X

Die Ausbildung zur Säuglingspflegerin und Säuglingskrankenpflegerin (Säuglingsschwester)

(Falls nicht anders vermerkt, stammen die Informationen in diesem Kapitel aus Gellrich 2012: 72-80 und Blessing 2013).

Bevor es eine staatliche Prüfung für Schwestern gab, bestimmte mehr oder weniger jede Ausbildungsstätte eigene Ausbildungsordnungen. Krankenschwestern wurden ab 1906 staatlich geprüft und konnten auch in der Säuglings- und Krankenpflege arbeiten. Die eigene Berufsbezeichnung der Säuglingspflegerin gab es ab der staatlichen Regelung 1917 (vgl. Langstein 1915). Auch das Dresdner Säuglingsheim bildete sein Pflegepersonal selbst aus. Beabsichtigt war, dass jedes gesunde Kind von Anfang gepflegt werden konnte und bei kranken Kindern die Arbeit des Arztes unterstützt werden sollte.
Bevor es eine staatliche Prüfung für Schwestern gab, bestimmte mehr oder weniger jede Ausbildungsstätte eigene Ausbildungsordnungen. Krankenschwestern wurden ab 1906 staatlich geprüft und konnten auch in der Säuglings- und Krankenpflege arbeiten. Die eigene Berufsbezeichnung der Säuglingspflegerin gab es ab der staatlichen Regelung 1917 (vgl. Langstein 1915). Auch das Dresdner Säuglingsheim bildete sein Pflegepersonal selbst aus. Beabsichtigt war, dass jedes gesunde Kind von Anfang gepflegt werden konnte und bei kranken Kindern die Arbeit des Arztes unterstützt werden sollte.
Bevor es eine staatliche Prüfung für Schwestern gab, bestimmte mehr oder weniger jede Ausbildungsstätte eigene Ausbildungsordnungen. Krankenschwestern wurden ab 1906 staatlich geprüft und konnten auch in der Säuglings- und Krankenpflege arbeiten. Die eigene Berufsbezeichnung der Säuglingspflegerin gab es ab der staatlichen Regelung 1917 (vgl. Langstein 1915). Auch das Dresdner Säuglingsheim bildete sein Pflegepersonal selbst aus. Beabsichtigt war, dass jedes gesunde Kind von Anfang gepflegt werden konnte und bei kranken Kindern die Arbeit des Arztes unterstützt werden sollte.
Bevor es eine staatliche Prüfung für Schwestern gab, bestimmte mehr oder weniger jede Ausbildungsstätte eigene Ausbildungsordnungen. Krankenschwestern wurden ab 1906 staatlich geprüft und konnten auch in der Säuglings- und Krankenpflege arbeiten. Die eigene Berufsbezeichnung der Säuglingspflegerin gab es ab der staatlichen Regelung 1917 (vgl. Langstein 1915). Auch das Dresdner Säuglingsheim bildete sein Pflegepersonal selbst aus. Beabsichtigt war, dass jedes gesunde Kind von Anfang gepflegt werden konnte und bei kranken Kindern die Arbeit des Arztes unterstützt werden sollte.
Zur Ausbildung bevorzugt wurden Mädchen aus gutem Haus. Schlossmann:

Warum soll die Pflege eines Kindes einer ungebildeten alten Person anvertraut werden, und warum soll es nicht ein gebildetes junges Mädchen sein, das sich auf diesem Gebiet ihr Brot erwirbt?

Schlossmann1902

Bis 1899 gab es fünf Mädchen zur Ausbildung und zwei Damen aus Dresden, die am Unterricht teilnahmen. In den folgenden Jahren war die Ausbildung aus ganz Deutschland stark nachgefragt. Die Bewerbung einer Interessentin musste persönlich oder schriftlich an die Oberin gehen. Der Besuch einer höheren Töchterschule war erwünscht. Die Bewerberin musste mindestens 18 Jahre alt und gesund sein, einen Lebenslauf vorlegen mit Foto und Pass, ein Empfehlungsschreiben sollte beigebracht werden. Eine Kaution von 100 Mark musste hinterlegt werden (vgl. Schlossmann 1906: 53f.).
Die Schülerinnen konnten kostenlos wohnen, wurden verpflegt und bekamen ihre Wäsche gewaschen. Nach einem halben Jahr erhielten sie ein Taschengeld von zunächst 10 Mark. Die Schwestern trugen Anstaltskleidung in blau-weiß gestreift, dazu ein Namensschild. Sie trugen eine Brosche mit dem „Bambino des Lucca della Robbia“, die dem Vereinszeichen des Frankfurter Kinderheims nachgebildet war. Außerhalb trugen die Schülerinnen eigene Kleidung.

Abb. 6: Vereinszeichen des Kinderheim e. V. Frankfurt am Main. Aus: Thomann-Honscha 1988: 152
Abb. 6: Vereinszeichen des Kinderheim e. V. Frankfurt am Main.
Aus: Thomann-Honscha 1988: 152

Zu Beginn dauerte die Ausbildungszeit ein Jahr, von 1907 bis 1912 dann zwei Jahre. Inhalte waren Pflege, Hygiene und Ernährung von kranken, aber auch von gesunden Kindern. Zwei bis drei Mal pro Woche gab es theoretischen Unterricht durch die Ärzte des Heims. Die notwendigen Bücher mussten die Schülerinnen selbst kaufen (8 Mark). Die Oberin führte die Schülerinnen in die praktische Arbeit ein. Zur Ausbildung gehörte auch Wäschewaschen, Zimmerreinigen und Zubereitung von Säuglingskost (vgl. Schlossmann 1906: 53f.). Seit 1902 gab es Bestrebungen die Ausbildung in einen Bereich für Pflegerinnen in der Anstalt und einen Bereich für Pflegerinnen im privaten Bereich zu teilen.

Im Säuglingsheim mussten die Pflegerinnen zweimal täglich den Kindern Fieber messen, gegebenenfalls öfter, die Ergebnisse waren schriftlich einzutragen. Das Gewicht wurde gemessen, aufgezeichnet wurde die getrunkene Menge, jedes Ausleeren, Erbrechen und andere Besonderheiten. Die Pflegerinnen machten Darmspülungen, Campherinjektionen und hielten die Säuglinge trocken. Besondere Hygiene mit häufigem Händewaschen war vorausgesetzt. Beim Stillen mussten immer die Flasche gehalten werden, das Stillen durch Ammen musste beaufsichtigt werden. Wichtig war, dass jede Pflegerin eine maximale Anzahl Kinder betreute, in der Realität waren das sechs. Für 1902 berichtet Schlossmann von einer Belegzahl von 42 Säuglingen, 13 Pflegerinnen, 12 Ammen und zwei Wärterinnen.

Die Ausbildung schloss mit einer theoretischen und einer praktischen Prüfung ab. Ab 1912 konnte man nach dem ersten Lehrjahr zum Krankenhaus Johannstadt wechseln und dort dann als staatlich anerkannte „Krankenpflegeperson“ sich prüfen lassen. Eine Arbeitsplatzgarantie gab es nicht, es wurde jedoch bei der Weitervermittlung geholfen (z. B. in Waisenhäuser oder Krippen).

Ab 1907 waren die Schwestern bei der städtischen Betriebskrankenkasse versichert. Urlaub erhielten die Schülerinnen ab dem zweiten Lehrjahr, es stand ihnen bis zu drei Wochen Urlaub zu. Für die Pflegerinnen wurde gut gesorgt, sie wurden als Basis jeder erfolgreichen Arbeit gesehen. Die Säuglingsschwestern hatten ihren eigenen Speisesaal, je ein Schlafraum war mit zwei bis drei Schwestern belegt, die Oberin hatte eine kleine Wohnung. Morgens reinigten die Schwestern ihren Waschtisch, machten ihr Bett, den Rest erledigte ein Zimmermädchen. Mahlzeiten gab es um 6.00 Uhr, 10, 13, 16 und 19.00 Uhr. Sie hatten auch Nachtdienste zu leisten. Jeden Tag sollte jede Schwester eine Stunde Freizeit erhalten, hin und wieder ein freier Nachmittag und Abend, die sie frei verbringen konnten, jedoch wurde dokumentiert mit wem und wo, Besucher waren bei der Oberin anzumelden.

Als ideale Betreuung der Säuglinge sah man es, wenn eine Schwester bei Tag vier Säuglinge und bei Nacht acht versorgen konnte. Für 1907 waren eine Oberschwester, acht Schwestern und zehn Lehrschwestern angestellt. Ein Oberarzt, zwei Hilfsärzte, ein Kanzleibeamter, sieben bis neun Ammen, eine Köchin und fünf Haus- und Küchenmädchen gab es im Haus. Pensionsberechtigt waren seit der Übernahme durch die Stadt die Oberschwester und die ständigen Schwestern.

Um die Asepsis bei den Säuglingen zu wahren, musste nach jeder Berührung der Säuglinge die Hände gewaschen werden, Nichtbeachtung führte zur direkten Entlassung. Jeder Säugling hatte seine eigene Puderdose. Alle Inventarstücke hatten eingravierte Nummern, sodass sie eindeutig den Kindern zugeordnet werden konnten, bei Neuzuordnung wurden sie gründlich desinfiziert.

Um genügend Muttermilch zur Verfügung zu haben, wurden Ammen beschäftigt, die ebenfalls im Säuglingsheim wohnten. Für ausnahmsweise genutzte Flaschenmilch hielt man eine eigene Kuh. Deren Milch wurde unter Aufsicht weiterverarbeitet. Überschüssige Milch wurde verkauft.

Abb. 7: Die Milchküche. Aus: Schlossmann 1906: Tafel VI
Abb. 7: Die Milchküche. Aus: Schlossmann 1906: Tafel VI

Seit 1907 gab es Kurse für „Mütter und Mädchen unbemittelter Stände“ mit acht bis zehn Wochenstunden, die zwischen sieben und acht Uhr abends stattfanden. Auf dem Lehrplan stand richtiges Wickeln, Baden und Ernähren. Ein Jahr nach dem Start der Kurse wurden sie auch für Frauen der bemittelten Schichten angeboten.

Die Dresdner arbeiteten so erfolgreich, dass immer mehr Eltern aus vermögenden und aus armen Haushalten ihre Säuglinge bei Krankheit in die Klinik brachten. So wurde die Dresdner Kinderklinik zum Vorbild vieler Anstalten. Und es kamen viele Ärzte aus internationalen Gebieten, um sich selbst ein Bild zu machen, und schickten Oberinnen und Schwestern zur Ausbildung nach Dresden. Dora Naumann berichtet auch, dass Dresden als Vorbild für das Kaiserin-Auguste-Viktoria-Haus in Berlin diente (vgl. Naumann 1932, nach Blessing 2013).

1912 existierten 40 Anstalten, an denen auch Säuglingspflegerinnenschulen eingerichtet waren. Die Entwicklung nach der Einführung einheitlicher staatlicher Regelungen ab 1917 wird Thema eines späteren Artikels sein.

Kaiserin Auguste Victoria Haus (KAVH) – Reichsanstalt zur Bekämpfung der Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit

Die Idee einer eigenen Forschungsanstalt zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit stammte von Philipp Biedert aus dem Jahr 1899. In einer solchen Anstalt sollten auch gesunde Säuglinge aufgenommen werden, um etwa die Wirkung künstlicher Ernährungsformen, also Nicht-Muttermilch, prüfen zu können. Zwar gab es auch Widerstand, z. B. von Otto Heubner, der eine solche Anstalt nur in Verbindung mit universitärer Forschung sah, doch für die Umsetzung des Plans war die Befürwortung der Kaiserin Auguste Victoria, Gattin von Wilhelm II. und selbst Mutter von sieben Kindern ausschlaggebend (vgl. Wegmann 2012: 49ff., Wegmann 1992: 36ff.).

Um die Öffentlichkeit einzubinden und zu informieren fand 1906 in Berlin die Ausstellung für Säuglingspflege statt, auf der unter der Beteiligung vieler Kinderärzte der Charité, alle Forschungsergebnisse und Maßnahmen rund um die Säuglingssterblichkeit vorgestellt wurden.

Architekten der Forschungsanstalt waren Ludwig Hoffmann, Erbauer des Virchow-Krankenhauses und Alfred Messel, Architekt des Kaufhauses Wertheim. Eröffnung war am 4. Juni 1909. Direktor wurde Prof. Dr. Arthur Keller, ein Schüler des Pädiaters Adalbert Czerny, sein Vertreter und Oberarzt, kam aus der „Heubner-Schule“, Leo Langstein. Für die Innenausstattung, Mobiliar, Wäsche und Laborausstattung, reiste Arthur Keller nach Stockholm und London, um das Geeignetste zu finden. Für die Auswahl der Dienstkleidung und der Schwesterntracht war Kaiserin Viktoria zuständig. Eine Schwesternbrosche wurde vom königlichen Hofgraveur gestaltet. Für die Wäschebestellung war die Konsulin Elisabeth Staudt maßgeblich zuständig. Das KAVH beherbergte zunächst 60 Kinder, 1928 waren es 148 (vgl. Wegmann 1992: 36f.).

Eine Abbildung des Kaiserin Auguste Victoria Hauses zur Bekämpfung der Säuglingsterblichkeit im Deutsch Reich ist unter folgendem Link zu sehen: https://arcinsys.hessen.de/arcinsys/detailAction.action?detailid=v1013287

Die Anstalt hatte folgende Aufgaben (vgl. Kaiserin Auguste Victoria Haus 1921):

  1. Die Psychologie und Pathologie des Neugeborenen, des Säuglings und des Kleinkindes wissenschaftlich zu erforschen.
  2. Die Pflege der Neugeborenen, Säuglinge und Kleinkinder zu fördern, Frauen und Mädchen für den Beruf der Kinderpflegerin und Kinderfürsorge vorzubereiten und auszubilden.
  3. Sich mit ihrer Schwesternschaft der Säuglings- und Kinderpflege sowie der öffentlichen Krankenpflege, namentlich der Säuglings- und Kleinkinderkrankenpflege in Ausübung freier Liebestätigkeit zu widmen.

Die Anstalt umfasste 1921 folgende Einrichtungen (vgl. Kaiserin Auguste Victoria Haus 1921 und Wegmann 2012: 63ff.):

  1. Geburtshilfliche Abteilung (erste, zweite u. dritte Klasse),
    hier waren hochschwangere Frauen, die auch im Haus entbanden wodurch die Forschenden sie beobachten konnten.
  2. Die Abteilung für gesunde Neugeborene und Säuglinge waren nach „Brustkindern“ und „künstlich ernährten Kindern“ getrennt.
  3. Frühgeborene-Abteilung, die aufgeteilt war in einem Raum mit Inkubatoren und einen anderen Raum mit Wärmewannen.
  4. Abteilung für kranke Säuglinge
  5. Abteilung für kranke Kleinkinder
  6. Beobachtungsstation
  7. Infektionshaus (ab 1927)
  8. Mütterabteilung
  9. Ammenabgabe
  10. Abteilung für gesunde Kinder
  11. Abteilung für kranke Kinder (erste, zweite u. dritte Klasse)
  12. Poliklinik für kranke Kinder
  13. Poliklinik für nervöse und schwer erziehbare Kinder (ab 1918)
  14. Mütterberatungsstelle (Säuglings- und Kleinkinderfürsorgestelle VI der Stadt Charlottenburg)
  15. Staatliche Säuglingspflegeschule
  16. Schwesternschaft
  17. Laboratorien für experimentelle und klinische Arbeiten
  18. Bibliothek
  19. Museum für Säuglingskunde (ab 1914)
  20. Organisationsamt für Säuglings- und Kleinkinderschutz
  21. Versammlungssaal (200 Sitzplätze für Vorträge und Weitre Veranstaltungen)
  22. Drei Besucherräume, für den Kontakt zu Gästen
  23. Milchtierstall (Kühe, Ziegen und Eselinnen), Weidegelände gegenüber, überschüssige Milch, die nicht für die Kinder genutzt wurde, wurde in der angeschlossenen Fürsorgeanstalt verkauft.
  24. Die Milchküche, hier wurden die Behältnisse sterilisiert und für jedes Kind die benötigte Milchmischung hergestellt.
  25. Ammen: Aus der Umgebung des Hauses wurden Schwangere angeworben, die hier auch entbanden und sich verpflichteten ein weiteres Kind zu stillen. Die Milch bekamen besonders schwache oder kranke Säuglinge. Die Ammen erhielten ein Taschengeld über 6 Monate lang (3 Mark im ersten Monat, 6 Mark von Monat 2-6). Die im Haus entbundenen Mütter konnten auf Wunsch auch durch das KAVH als Amme weitervermittelt werden. Per Arbeitsvertrag wurden medizinische Betreuung, Krankenversicherung für Amme und ihr Kind, wie auch Pflegekosten von Amme und Kind wie auch Bezahlung und Kündigungsregelung. Gebühren für das KAVH waren 100 Mark, die Amme erhielt 50 Mark monatlich.
  26. Liegehallen entlang der Längsseiten der Gebäude ermöglichten den Aufenthalt der Säuglinge in ihren Körben im Freien, so wurde der Rachitis vorgebeugt. Der Rücken konnte mithilfe der Epsteinschen Schaukelstühle geschult werden, und soziale Kontakte wurden im Spiel gefördert.
  27. Fürsorgehaus und -arbeit

Für das Thema der jüdischen Kinder- und Säuglingspflege interessant ist die Bemerkung von Priv. Doz. Th. Lennert in einer Pressemitteilung zur 80-Jahr-Feier des Hauses „Wie auch in der übrigen Kinderheilkunde Berlins waren am KAVH zahlreiche jüdische Ärzte und Schwestern tätig, die 1933 das Haus verlassen mußten.“  (Wegmann 1992: 38)

Antonie Zerwer und ihre Säuglingspflegefibel

Antonie Zerwer (1873-1956), selbst Pflegerin und Oberin am KAVH, erwähnt in ihren Erinnerungen ein englisches Lehrbuch, nach dem sie sich richtete (Wegmann 1992: 22f.). Leo Langstein und Max Pescatore schrieben das 1906 publizierte Buch Pflege und Ernährung des Säuglings. Ein Leitfaden für Pflegerinnen und Mütter (vgl. Wegmann 1992: 164). So gab und gibt es eine große Auswahl an Büchern, die der Beratung im privaten Bereich dienten und auch den angehenden Säuglingsschwestern als Lehrbücher. Für Schulkinder im Unterricht schrieb Antonie Zerwer selbst eine bedeutende Anleitung, die Säuglingspflegefibel.

Antonie Zerwer am 17. März 1873 in Riesenwalde, Kreis Rosenberg, Westpreußen (heute Polen) geboren, hatte eine Schwester und zwei Brüder. Ihr Vater Christian war Gestütswärter, ihre Mutter Luise, geb. Brock. Die Familie kaufte um 1880 eine Gastwirtschaft in Kaffzig (Hinterpommern), die vor allem die Mutter bewirtschaftete. Antonie wuchs bei der Großmutter, einer sehr gläubigen Frau, auf. Nach der Schule erhielt sie eine Ausbildung als Schneiderin und Weißnäherin, Sticken und Handarbeiten kam ebenso dazu (vgl. Wegmann 1992: 21). Sie fühlte sich zu „etwas berufen“, sie wollte „für eine größere Gruppe etwas, schaffen“ (Wegmann 1992: 22).

Im April 1890 bewarb sich Antonie Zerwer auf die Anzeige einer Familie in Schivelbein Villa Hackert. Sie erhielt die Stelle und betreute nun unter „Anleitung der Mutter“ ein vierjähriges Mädchen und einen anderthalb jährigen Jungen. Hedwig Wegmann fasst hier aus den „Betrachtungen und Gedanken über meine Lebensarbeit am Karfreitag“ von 1950 zusammen. Vermutlich stammt diese scheinbar unveröffentlichte Schrift aus dem Nachlass von Antonie Zerwer, der im Universitätsarchiv der Humboldt Universität zu Berlin liegt (vgl. Wegmann 2012: 14):

An Wissen und Können brachte ich in diese meine erste Privatpflege, außer Liebe und Lust zur Sache, nichts weiter mit, als das, was gute Mütter aus dem Schatz ihrer eigenen Erfahrungen ihren Töchtern für das Berufsleben mitgeben können. […] Es war nicht leicht mit dieser, zunächst unsichtbaren Rüstung in das Feld zu ziehen. Der Alltag mit seinen Anforderungen: 5 Uhr aufstehen – Mädchen wecken – Zimmer säubern – Kaffeetisch decken – Flaschen für den Kleinen -Frühstück für die 4-jährige vorbereiten. Dann die nach genauesten Vorschriften eines englischen Kinderpflegbuches durchgeführte Baderei. Hinterher Fütterei und Spielerei mit den Kindern. […] Immer wieder vergaß ich das ,Wichtigste‘, die ,Hygiene‘. Auch das Wort ,Pädagogik’ kannte ich nicht – das große und kleine Kind zu beschäftigen war aber meine Hauptaufgabe. Zum Glück wußte ich von meiner Mutter viel kleine Verse und Fingerspiele, und auch Beschäftigungsmethoden wurden erfunden, frei nach Fröbel – (den Namen kannte ich auch nicht); mit Bauklötzchen, Papier usw. kann man so viel beginnen und Kindern frohe Stunden schaffen. […] Wenn jemand krank war – und der Arzt kam, dann hörte man zu und lernte: Umschlag machen, Temperatur messen, Puls zählen und Kurve schreiben. Für den Arzt Waschwasser hinsetzten, Handtuch bringen, Schreibzeug und Löscher hinstellen usw. die Mutter und der Arzt – beide waren gute Lehrmeister.

Wegmann 1992: 22f.

Ihr Werdegang war dann zunächst der eines Kinderfräuleins bzw. einer Privatpflegerin. Eine Krankenpflegeausbildung in der Schwesternschaft des Diakonieseminars Zeitz folgte mit anschließenden Stellen als Diakonieschwester in Säuglingsheimen oder -abteilungen. An einem Kurs in der Pflege von Wöchnerinnen und Neugeborenen nahm sie teil. 1908 trat sie im Kaiserin Auguste Victoria Haus als Oberschwester der Säuglingsstationen ein. 1912 publizierte sie die Säuglingsfibel. Weiter ging es als Oberschwester der Säuglings- und Kleinkinderfürsorge am KAVH, als stellvertretende Oberin der KAVH-Schwesternschaft und als Oberschwester im Organisationsamt für Säuglingsschutz. Ab 1925-1938 war sie die Oberin der Schwesternschaft. Im November 1927 Gründung des Reichsverbandes der Säuglings- und Kleinkinderschwerstern und letztlich Oberin im Ruhestand im Kaiserin Auguste Victoria Haus.

Die Säuglingspflegefibel von Antonie Zerwer (1912) wurde millionenfach verkauft und war für den Schulunterricht gedacht:

Abbildung: Titelblatt Säuglingspflegefibel, Abb. 14: Seite 9. Beispiel des Frage- zweite, unveränderte Auflage. Berlin 1912
Abb. 8: Titelblatt der Säuglingspflegefibel von Antonie Zerwer, zweite, unveränderte Auflage. Berlin 1912

Im Vorwort der zweiten Auflage von 1912 äußert sich Professor Dr. Leo Langstein:

Die Belehrung, die die Frau als Mutter empfängt, kommt meist zu spät; die Mutter, die für die Mutterschaft nicht festgefügtes Wissen über Kinderpflege mitbringt, wird ein Spielball von Aberglauben, Überlieferung unrichtiger und schädlicher Gebräuche. […] Dem kann meines Erachtens nur gesteuert werden, wenn im Schulalter bereits dieser wichtige Zweig der Volksgesundheit gelehrt wird, dessen Vernachlässigung das Deutsche Reich jährlich fast eine halbe Million Menschen kostet.

Zerwer 1912: 5

Und auch Schwester Antonie Zerwer richtet sich mit einem Vorwort an ihr Zielpublikum:

Und wenn ihr dazu beitragen könnt, durch aufmerksame Pflege und Wartung eure Brüderchen und Schwesterchen gesund zu erhalten, so werden auch ihre roten frischen Wangen und ihr herzliches Lachen für manche kleine Mühe und Entsagung entschädigen. An der Hand verschiedener Fragen will ich euch zeigen, wie man Säuglinge bettet, badet, kleidet, ernährt, sie vor Krankheit zu schützen versucht.

Zerwer 1912: 8

Kurz hinweisen möchte ich auf ein anderes Lehrbuch. Friederike Bolzer eine Kranken- und Kinderpflegerin, schrieb bereits 1909 einen Leitfaden für junge Mütter und Pflegerinnen.

Abbildung: Titelblatt: Friederike Bolzer,Kinderpflege und -Ernährung
Abb. 9: Titelblatt,
Friederike Bolzer, Kinderpflege und -ernährung
Abbildung Inhaltsverzeichnis Friederike Bolzer, Kinderpflege und -ernährung
Abb. 10: Inhaltsverzeichnis,
Friederike Bolzer, Kinderpflege und -ernährung

Die Versorgung von Säuglingen und Kindern
in Frankfurt am Main

Die Entwicklung in Frankfurt stellt Cornelia Thomann-Honscha in ihrer 1988 erschienenen Dissertation Die Entstehung der Säuglingsfürsorge in Frankfurt am Main bis zum Jahre 1914 sehr ausführlich dar. Ich möchte in diesem Abschnitt ihrem Textaufbau folgen.

Hebammen

Es waren zunächst Hebammen, denen die Pflege und Fürsorge von Säuglingen oblag. Bereits 1526 schrieb der Frankfurter Stadtarzt Eucharius Rößlin ein Hebammenlehrbuch. Die erste Hebammenordnung stammte vom Stadtarzt Adam Lonicerus (1528-1586) mit Anweisungen für Prüfungsvorschriften der Eignung als Hebamme durch ältere Hebammen, Angaben zur Bezahlung, die dann teilweise auch durch den „Almosenkasten“ getätigt wurde, einer öffentlichen Stiftung von 1531 zur Unterstützung von Armen und Kranken (vgl. Thomann-Honscha 1988: 86). Ab 1749 gab es einen Stadtgeburtshelfer, der die Hebammen beaufsichtigte. Die Aufgaben der Hebammen waren damals weiter gefasst als heute, sie schlossen z. B. kleinere Operationen mit ein (vgl. Thomann-Honscha 1988: 85). Um 1800 und einer immer stärkeren medizinischen Entwicklung verloren die Hebammen Teile ihrer Zuständigkeit. Die Medizinalordnung von 1817 unterstellte die Hebammen dem Sanitätsamt, bestehend aus dem jüngeren Bürgermeister und den drei angestellten Stadtärzten. Hinzugezogen zu den Sitzungen wurde nun auch der Stadtgeburtshelfer, der Stadtaccoucheur. Ab 1847 wurde er als Mitglied des Sanitätsamts anerkannt und er unterrichtete Hebammen in Theorie und Praxis. Um diese Zeit wurde die Anzahl der städtischen Hebammen, um deren Einkünfte zu sichern, reduziert. Es gab dann 12 christliche und zwei jüdische städtisch angestellte Hebammen. 1857 wurde die städtische Entbindungsanstalt eröffnet, dort wurden die städtischen Hebammen in einen dreimonatigen praktischen Kurs ausgebildet, sowohl im Hebammenwesen als auch in der Pflege von Wöchnerinnen und Kindern. Ab 1866 gehörte das Hebammenwesen zum „Ministerium der Geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten“. In den Verpflichtungen von 1883 wurden die Hebammen angewiesen bei Start ihres Berufes Zeugnisse, Adresse und Zustand ihrer Instrumente, Geräte und eines Tagebuchs vorzuweisen. Weiterhin hatten sie sich an das Hebammenlehrbuch zu halten und das Tagebuch zu führen sowie die korrekten Desinfektionsmittel zu haben. Zu ihren Pflichten gehörte es auch Fälle des Kindbettfiebers und Todesfälle anzuzeigen. Verpflichtet wurden sie, alle drei Jahre eine Nachprüfung ihres Wissens abzulegen (vgl. Thomann-Honscha 1988: 90).

Frankfurter Geburtshilfeeinrichtungen im 19. Jahrhundert

Die ärztliche Geburtshilfe gewann im 19. Jahrhundert an Bedeutung. Folgende Einrichtungen gab es in Frankfurt am Main:

  • Die Städtischen Entbindungsanstalten (1857)
  • Die Entbindungsanstalt der Christ’schen Stiftung (nach 1845)
  • Die Dr. Neubürgersche Entbindungsanstalt
  • Die Entbindungsanstalt von Dr. Kammorgen
  • Die Frauenklinik im städtischen Krankenhaus (1908)
  • Die Universitätsklinik (1914)

Für die jüdischen Einrichtungen verweise ich auf den Artikel von Birgit Seemann: https://www.juedische-pflegegeschichte.de/in-allen-stadien-der-schutzbeduerftigkeit-institutionender-juedischen-kinder-und-saeuglingspflege-infrankfurt-am-main-ein-historischer-ueberblick/

Ammen

Als Ammen arbeiteten meist Frauen, die sich damit ihren Lebensunterhalt verdienten. Zur Gesundheitsuntersuchung der Ammen wurden ab 1764 Ärzte bestimmt. Ab 1811 gab es eine Medizinalordnung für ärztliche Untersuchungen von Ammen, eine Aktualisierung der Medizinalordnung im Jahr 1841 regelte die Zuständigkeit des Sanitätsamts, es gab feste Gebühren, die die Ammen erhielten. Ein Ammenregister und ein Ammen-Gesundheitszeugnis wurden eingeführt. Ab 1866 unterstand die Aufsicht des Ammenwesens dem königlichen Polizeipräsidenten (vgl. Thomann-Honscha 1988: 92f.).

Kinderfürsorge, Kost- und Haltekinder

Findelkinder mussten von der Stadt versorgt werden. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts wurden Pflegefamilien und mildtätig Stiftungen dafür genutzt. 1679 eröffnete das „Armen-, Weisen- und Arbeitshaus“. Um 1700 gab es die Stiftungen des „Almosenkasten“, des „Heilig-Geist-Spital“ und des „Armen- und Waisenhauses“ denen die Stadt Findelkinder zuwies. Ab 1833 war die Stadt finanziell selbst zuständig. Waisenkinder wurden ab 1866 nur noch in Pflegefamilien gegeben (vgl. Thomann-Honscha 1988: 95f.). Das sich durch die Vergabe von Waisenkindern an Pflegefamilien entwickelnde Kost- und Haltekinderwesen wurde jedoch oft zu Ungunsten der Kinder ausgenutzt und viele der Kinder mussten unter schlimmen Umständen leben. Fritz Stiebel (1824-1902), Arzt am Christ’schen Kinderkrankenhaus, der viele der in schlimmem Zustand vorgefundenen Kostkinder behandelte, startete 1870 einen Aufruf zum Schutz der Kinder, 1871 konnte mit der Unterstützung vieler Bürger Frankfurts der „Verein zum Schutze der Haltekinder“ gegründet werden. Der Verein suchte nach zuverlässigen Kostfrauen, kontrollierte diese und half ihnen. Die medizinische Betreuung erfolgte kostenlos über die Ärzte des Kinderkrankenhauses. Auf längere Sicht war der Verein jedoch finanziell und personell überfordert und musst 1875 wieder aufgelöst werden. Von den 240 vom Verein betreuten Kindern waren 111 vor dem zweiten Lebensjahr gestorben. Als einen Grund dafür sah Stiebel in der fehlenden staatlichen Unterstützung bei der Kontrolle der Pflegeeltern und bei möglichen Sanktionen (vgl. Thomann-Honscha 1988: 97f.).

Ab 1881 galt eine ministerielle Verordnung für den Polizeibezirk der Stadt Frankfurt am Main. Die angehenden Pflegeeltern benötigten nun eine Erlaubnis pflegen zu dürfen und mussten entsprechende Möglichkeiten nachweisen. Die Kinder und Eltern wurden registriert, die Eltern mussten sich verpflichten, das Kind nicht verwahrlosen oder verhungern zu lassen. Der Zutritt von Personen zur Kontrolle musste gestattet werden. Die Kinder wurden monatlich im Christ’schen Kinderkrankenhaus von einem Arzt untersucht. Für Kontrollen in den Familien wurde 1882 ein „Ausschuss zur Beaufsichtigung des Kostkinderwesens“ gegründet. Beteiligt waren: Armenverein, Frauenverein, Vaterländischer Frauenverein, Allgemeiner Frauenverein zu Wohltätigkeit, Elisabethen-Verein, Vincenz-Verein, Frauenverein der freireligiösen Gemeinde, der israelitische Frauenverein und der Frauenverein zu Bornheim (vgl. Thomann-Honscha 1988: 101). Die Mitglieder des Ausschusses prüften die Kostmutter und besuchten diese regelmäßig. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verbesserte sich zwar so die Aufsicht, doch die Lage der Kinder verbesserte sich nicht. Henriette Fürth (1861-1938) gab 1898 ein vernichtendes Urteil besonders für die Situation auf dem Lande ab. „Die Gegend von Frankfurt. Dort leben in elenden Hütten merkwürdig viele kleine Kinder […]. Bei einer anderen Frau waren gleichzeitig vier Kindern unter einem Jahr. Sie starben in einem Zeitraum von sieben bis acht Monaten“ (Fürth 1898). 1900 wurde das Waisen- und Armen-Amt gegründet und fasste verschiedene Institutionen zusammen. 1905 wurden zum ersten Mal Stellen für Kinderpflegerinnen geschaffen und fünf von ihnen angestellt und bezahlt. Ab 1901 gab es einen zuständigen, angestellten Kinderarzt zur Betreuung der städtischen Pflegekinder (vgl. Thomann-Honscha 1988: 104).

Die Stiftung für Säuglingsfürsorge

Nachdem Kaiserin Victoria aufgefordert hatte reichsweit Organisationen zum Schutz der Säuglinge zu gründen, konstituierte sich 1905 in Frankfurt ein Komitee zur Errichtung einer Stiftung für Säuglingsfürsorge. Den Vorsitz hatte Oberbürgermeister Franz Adickes (1846-1915). Geld wurde gesammelt und Christian Klumker (1868-1942) der Vorsitzende der Centrale für private Fürsorge bat den Oberbürgermeister, ärztliche Beratungsstellen für Säuglingsernährung einzurichten. 1908 konnte die „Wilhelm- und Auguste-Victoria-Stiftung für Säuglingsfürsorge“ gegründet werden. Ein erstes Ergebnis waren die Zuschüsse zu Stillprämien im Kinderheim Böttgerstraße, dem Krippenverein, dem Wöchnerinnenheim und der Stiftungskommission des Waisen- und Armenamtes.

Große Unterstützung zur Verbesserung der Säuglingsfürsorge kam auch von den Frankfurter Ärzten, die sich im Ärztlichen Verein trafen und 1910 Mitinitiatoren bei der Gründung des Frankfurter Verbands für Säuglingsfürsorge waren. Besonders seien hier die jüdischen Ärzte Dr. Hanauer und Dr. Deutsch erwähnt. Am 1. Januar 1911 begannen die ersten neun ärztlichen Beratungsstellen mit ihrer Arbeit, jeweils unter der Leitung eines Arztes, unterstützt durch einen zweiten Arzt, eine Schwester und freiwillige Helferinnen (vgl. Thomann-Honscha 1988: 121).

Nach Konfessionen aufgeteilt stellte sich die Sterblichkeit der Säuglinge und Kinder um 1900 in Frankfurt folgendermaßen dar:

  • Evangelische Kinder 1896-1900: 16,2 %
  • Katholische Kinder 1896-1900: 17,9 %
  • Israelitische Kinder 1896-1900: 7,9 %
  • Evangelische Säuglinge 1891-1900: 14,5 %
  • Katholische Säuglinge 1891-1900: 14,1 %
  • Israelitische Säuglinge 1891-1900: 7,5 %

Die niedrigere Rate bei den israelitischen Säuglingen und Kinder erklärt Wilhelm Hanauer, ein in Frankfurt praktizierender Arzt und Kinderarzt sowie engagiertes Mitglied der jüdischen Gemeinde, aufgrund der geringeren Geburtenziffer, also der absoluten Anzahl an Kindern und durch die Wohlstandsverhältnisse (vgl. Hanauer 1910: 30f., nach Thomann-Honscha 1988: 80).

Überblick der Einrichtungen der Mütter- und Säuglingsfürsorge in Frankfurt

Thomann-Honscha gibt in Ihrer Arbeit eine Einführung zu Institutionen der Mütter- und Säuglingsfürsorge in Frankfurt, die ich hier wiedergebe, um einen Überblick über die gesamte Situation Frankfurts zu bekommen (vgl. Thomann-Honscha 1988: 128-190). Die eine oder andere Einrichtung werden wir im Rahmen des Forschungsprojekts www.juedisch-pflegegeschichte.de näher betrachten.

  • Das Christ’sche Kinderhospital
  • Die Kinderklinik im Städtischen Krankenhaus in Frankfurt am Main (Annie-Stiftung)
  • Verein Kinderheim mit Böttgerklinik und Säuglingspflegerinnenschule
  • Krippen
    Verein zur Errichtung und Erhaltung von Krippen
    Krippe des Vaterländischen Frauenvereins
    Der Krippen-Verein
    Weitere wie: Krippe der Luthergemeinde, Krippe des Bockenheimer Frauenvereins, Kinderkrippe von Frau Generalkonsul v. Weinberg
  • Milchversorgung
    Frankfurter Milchkuranstalt
    Städtische Milchküche
  • Säuglingsfürsorge der jüdischen Bevölkerung in Frankfurt
    Verein Weibliche Fürsorge mit:
  • Säuglinsberatungsstelle am israelitischen Hospital
  • Milchküche am israelitischen Hospital
  • Kinderschutzkommission
  • Verein Kinderhaus
  • Die städtische Entbindungsanstalt
  • Die Dr. Christ’sche Entbindungsanstalt und von Mühlen’sche Stiftung
  • Verein Wöchnerinnen- und Säuglingsheim
  • Verein Frankfurter Mutterschutz
  • Hauspflegeverein

Der jüdische Anteil an der Frankfurter Säuglings- und Kinderpflege

Im hier vorliegenden Text zur Einführung in die Säuglings- und Kinderpflege im Deutschen Reich und in Frankfurt am Main tauchen bereits des Öfteren Hinweise auf jüdische Einrichtungen und jüdische oder jüdischstämmige Ärzte, Pflegerinnen, Stifter und Förderer auf. Diesen Aspekt der Forschung wollen wir im Projekt www.juedische-pflegegeschichte.de in weiteren Beiträgen verfolgen.

Edgar Bönisch, April 2024

Quellen

Allgemeine Zeitung des Judentums: 69. Jg. Heft 5, 3.2.1905, Beiblatt S. 3, 4 [Jahresbericht des Vereins „Weibliche Fürsorge“ 1903-1904]

Berg, Christa 1991: Familie, Kindheit, Jugend. In Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. IV: 1870-1918, S. 91-145. Zitiert nach Wegmann 2012: 8

Blessing, Bettina 2013: Kleine Patienten und ihre Pflege. Der Beginn der professionellen Säuglingskrankenpflege in Dresden. In: Geschichte der Pflege, 2. Jg., 1/2013: 25-34

Bönisch, Edgar 2021: Die Schwesternschülerinnen des Frankfurter Vereins 1893-1902. https://www.juedische-pflegegeschichte.de/die-schwesternschuelerinnen-des-frankfurter-vereins-1893-1902/ (12.04.2022)

Bolzer, Friederike 1909: Kinderpflege und Ernährung. Ein Leitfaden für junge Mütter und Pflegerinnen, Stuttgart

Bundesagentur für Arbeit: Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/in. https://berufenet.arbeitsagentur.de/berufenet/faces/index?path=null/kurzbeschreibung&dkz=27357 (03.03.2022)

Charbonneau, Ninja 2019: Kindersterblichkeit in Deutschland & weltweit. https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/blog/
kindersterblichkeit-weltweit-warum-sterben-kinder/199492 (09.03.2022)

Clementine Kinderhospital: Zwei Stiftungen, eine Vision: Kindgerechte Heilkunst in Frankfurt. https://www.clementine-kinderhospital.de/das-clementine/geschichte (12.04.2022)

Deutschland im 19. Jahrhundert:
https://www.youtube.com/watch?v=YvThUsjjSW8 (09.03.2022)

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Schwestern im Speisesaal, Kinderheim Frankfurt a. M. 1913

Die Pflegeschule für Säuglingsschwestern im Böttgerheim

1. Einleitung

Eine der Bemühungen die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts einzudämmen, war die Gründung der ersten reinen Kinder- und Säuglingskliniken (vgl.: Peiper 1965: 298). Diese Kliniken waren auf die speziellen Bedürfnisse dieser PatientInnen wie Wachstum, Kinderkrankheiten und soziales Umfeld eingestellt.

Beispiele sind ab 1829 die Kinderklinik der Berliner Charité und ab 1845 in Frankfurt Main das Dr. Christ’sche Kinderhospital für arme Kinder. Der Dresdner „Verein Kinderpoliklinik mit Säuglingsheim in der Johannstadt“ gründete am 1. August 1898 das erste Säuglingskrankenhaus, weltweit. Geleitet wurde es vom Pädiater Arthur Schlossmann (1867-1932) (vgl.: Blessing 2013 und Bönisch 2022).

Im Berliner Kinderkrankenhaus wurde 1900 zusätzlich eine Säuglingspflegerinnenschule eingerichtet. Gelehrt wurde die Säuglingskrankenpflege, ein Beruf, der sich auch zur Säuglingspflege für zu Hause entwickelte sowohl für kranke als auch für gesunde Kinder (vgl.: Gellrich 2012: 74).

In Dresden hatte 1899 eine Schule für Säuglingspflegerinnen am Säuglingskrankenhaus eröffnet, die Trägerschaft hatte der „Verein Kinderpoliklinik mit Säuglingsheim in der Johannstadt“ (vgl.: Gellrich 2012: 74).

In Frankfurt am Main konstituierte sich am 9. November 1901 der „Kinderheim e. V.“ mit den Zielen „Fürsorgebedürftige Kinder im zarten Alter zu verpflegen“ und der „Ausbildung von Kinderpflegerinnen“ (vgl.: ISG FFM – Magistratsakte V 568 /61 „Kinderheim“, Jahresbericht für das Verwaltungsjahr 1902: 1).

Ab Januar 1903 konnte in einem angemieteten Haus in Frankfurt in der Feststraße 21 der Betrieb zur Pflege aufgenommen werden. Ein großer Neubau in der Böttgerstraße 20-22 nahm 1904 den Betrieb auf. In der Feststraße 21 arbeiteten zunächst vier Kinderpflegerinnen (siehe auch Bönisch 2022: 11f.). Woher die ersten ausgebildeten Schwestern kamen und wer sie waren, ließ sich bisher jedoch noch nicht klären.

Abbildung 1: Bestimmungen für die Anstellung von Kinderpflegerinnen, ISG FFM – Magistratsakte V 568 / 61, „Kinderheim“ Jahresbericht III für das Berichtsjahr 1904: 9 und 10

2. Über die Anstellung und die Vertragsbedingungen von Schwestern und Schwesternschülerinnen

In diesem Kapitel bespreche ich drei Dokumente zur Anstellung von bereits ausgebildeten Kinderpflegerinnen, zu den Aufnahmebedingungen auszubildender Schwesternschülerinnen und zur Pensionszusage für langjährig angestellte Schwestern. Ich folge dabei einem Sonderdruck von 1913, die ersten bekannten Ausführungen dieser Bestimmungen stammen aus dem Jahr 1904 (vgl.: ISG FFM – Magistratsakte V 568 /61 „Kinderheim“, Jahresbericht für das Verwaltungsjahr 1904).

2.1 Anstellungsbedingungen für bereits ausgebildete Kinderpflegerinnen

Die hier abgebildeten „Bestimmungen für die Anstellung von Kinderpflegerinnen in der Anstalt ‚Kinderheim‘ Frankfurt a. M.“ beziehen sich auf die von auswärts kommenden und bereits ausgebildeten Krankenpflegerinnen, hier einige Auszüge:

Zur Bewerbung mitzubringen waren der Geburtsschein, ein ärztliches Gesundheitsattest, Schul- und sonstige Zeugnisse, ein selbst geschriebener Lebenslauf und eine Fotografie. Der Anstaltsarzt hatte eine Einstellungsuntersuchung vorzunehmen.

In den Bestimmungen wurde eine Probezeit festgelegt. War die neue Schwester dann Mitglied der Schwesternschaft, konnte sie nach einem Jahr dem Schwesternverband beitreten. Das Dokument wies auf die Erwartung hin, dass die Kinderschwester „ihre ganze Zeit und Tätigkeit“ dem Verein widmete und den Anordnungen des Anstaltsarztes Gehorsam erbrachte. Außerhalb des Vereins zu leistende Pflegen ohne Vergütung konnten angeordnet werden. Im Gegenzug stellte der Vereine freies Wohnen, Kost und Reinigung der Wäsche wie auch die Anstaltskleidung und Anstaltsbrosche. Ärztliche Versorgung war zugesichert. Die Bezahlung war in den Bestimmungen festgelegt inkl. der jährlichen Gehaltssteigerung. An bezahltem Urlaub wurde zwei bis drei Wochen zugestanden. Besondere Erwähnung erfuhr die mögliche begründete Kündigung durch den Vorstand. Durch Heirat oder Eigenkündigung erlöschte die Zugehörigkeit zum Schwesternverband. Ein Zeugnis sollte auf Wunsch ausgestellt werden.

Zu klären bleiben hier jedoch genauere Angaben zum Schwesternverband. Von ihm wird bereits in den frühen Gründungsjahren des Vereins gesprochen. Eine andere Mitteilung aus dem Jahresbericht für das Verwaltungsjahr 1916: 6 besagt, dass der Verband im Jahr 1916 gegründet worden sei und dort „haben wir in früheren Jahren bei uns gründlich ausgebildeter, zuverlässiger Kinderschwestern, die sich im Außendienst, in der Privatpflege und in leitenden Stellungen sehr bewährt haben, aufgenommen…“

2.2 Ausbildung von Pflegeschülerinnen

Die Aufnahme zur Ausbildung von Pflegeschülerinnen sah ein Einstiegsalter zwischen 20 und 30 Jahren vor wobei eine gute Schulbildung Voraussetzung war. Auch sie mussten den Geburtsschein, ein ärztliches Gesundheitsattest, Schul- und sonstige Zeugnisse, einen selbstgeschriebenen Lebenslauf und eine Fotografie vorweisen, auch für Sie war die Untersuchung durch den Anstaltsarzt obligatorisch. Die Schülerinnen sollten mit Vornamen und mit Schwester angesprochen werden. Die Ausbildung enthielt theoretischen Unterricht durch den Anstaltsarzt und die einjährige praktische Ausbildung in Säuglings- und Kinderpflege sowie Kinderkrankenpflege. Der Abschluss erfolgte durch eine Prüfung und wurde mit einem Zeugnis bestätigt. Im Anschluss bestand die Möglichkeit, einen halbjährigen Kurs in einem Krankenhaus mit anerkannter Krankenpflegeschule zu belegen und in der „großen Krankenpflege“ ein Staatsexamen zu erlangen.

Weitere Ausbildungsbestimmung betrafen das Kostgeld, das freie Wohnen und die freie Verpflegung und die Reinigung der Wäsche. Die Schülerinnen mussten drei Anstaltskleider und neun weiße Schwesternschürzen selbst mitbringen und in Ordnung halten. Hauben und Vereinsabzeichen stellte der Verein. Außerhalb des Dienstes wurde Privatkleidung getragen. Die Schülerinnen mussten ein Kostgeld von 30 M für die ersten 6 Monate bezahlen, welches jedoch bei Abschluss der Ausbildung oder Verpflichtung von weiteren 6 Monaten, erlassen werden sollte – also ein Mittel, die jungen Frauen zur Ausbildungsbeendung zu motivieren. Die Option eines Taschengeldes (10 M pro Monat) bei gutem Fortschritt wird aufgelistet oder von 15 M bei einem halbjährigen Verbleiben nach der Ausbildung. Die Möglichkeiten der Entlassungen und der Kündigungen wurden vorgesehen. Während der Lehr- und Probezeit gab es gewöhnlich keinen Urlaub.

Die Dienstzeiten waren von 6.45 Uhr bis 19.15 Uhr. Eine Mittagspause von anderthalb Stunden sollte eingehalten werden. Jeden 9. Tag gab es „wenn angängig“ einen freien Nachmittag vom 14.00 bis 20.00 Uhr. Nachtdienst dauerte 14 Tage und wurde von Schwestern und Schülerinnen abwechselnd geleistet. Nachtdienstleistende hatten den Tag frei. Befreit waren die Schülerinnen von groben Arbeiten und Wäsche waschen, jedoch waren sie zuständig für jede Arbeit, die mit der „Wartung und Pflege gesunder und kranker Kinder“ zu tun hatte. Das Inventar der Kinder hatte ebenfalls die Schülerin zu pflegen, bei schuldig zerbrochenen Sachen, mussten diese ersetzt werden.

In ihrem Schlafzimmer war die Schülerin für Bettenbau ihres Bettes und die Ordnung ihres Waschtisches zuständig. Im Krankheitsfall versorgte der Verein die Schwester im Haus oder in einem Hospital in der 3. Klasse (vgl.: ISG FFM – Magistratsakte V 568 /61 Kinderheim e. V. 1913: 2f.).

2.3 Pensionsberechtigung

Abbildung 2: Pensionsberechtigung der Kinderschwestern. Aus: Kinderheim, IV. Jahresbericht für das Jahr 1905: 9

Für das Jahr 1905 (vgl.: ISG FFM – Magistratsakte V 568 /61 „Kinderheim“ Jahresbericht für das Verwaltungsjahr 1905: 4f.) berichtet der Vorstand über die derzeitige Beschäftigung von neun Kinderschwestern aus eigener Ausbildung oder aus anderen Ausbildungsstätten, die jeweils sechs bis acht Kinder betreuten. Weiteres Pflegepersonal würde noch gesucht, um das eigene Personal zu entlasten, aber auch um durch Außendienste Einkünfte zu generieren. Um die Attraktivität des Arbeitsplatzes Kinderheim e. V. zu steigern, wurde beschlossen, eine Pensionsberechtigung einzuführen.

Diese Pensionsberechtigung beinhaltete, dass, wer dem Schwesternverband 15 Jahre angehörte und darüber hinaus nach dieser Zeit weiter dem Verband angehören würde, für die Pension berechtigt war. Wurde eine Schwester des Verbandes unverschuldet krank erhielt sie die Pension, gesundete sie, wurde das normale Arbeitsverhältnis fortgesetzt. Durch Altersschwachheit setzte die Pension ein. Bedingungen waren, dass die Schwester weiter ledig blieb und einen „sittlichen Lebenswandel“ führte. Der Bezug der Pension konnte an einem beliebigen Ort in Deutschland stattfinden und betrug 420,- Mark pro Jahr zuzüglich zu den Alters- und Invalidenversicherungsrechten. Ein früherer Bezug lag im Ermessen des Vorstands.

3. Was wir weiter über die Schwestern im Haus wissen

Abbildung 3: Schwestern im Speisesaal, Kinderheim Frankfurt a. M. 1913, ISG FFM – Magistratsakten V 568/70: 9

3.1 Schwesternbrosche

Abbildung 4: Abzeichen für den Kinderheim e. V. und die Brosche der Schwestern, ISG FFM – Magistratsakte V 568 / 61, Kinderheim e. V. 1909
Abbildung 5: Eines der Bambinos des Bildhauers Andrea della Robbia. © Eva-Maria Ulmer
Abbildung 6: Das Ospedale degli Innocenti
(Hospital der Unschuldigen) mit unterschiedlichen Skulpturen des Bambinos © Eva-Maria Ulmer

Nachgebildet ist auf der Brosche eines der Bambinos des Bildhauers Andrea della Robbia (vgl.: http://www.florentinermuseen.com/musei/ospedale_degli_innocenti.html 30.08.2022). In der Broschüre von 1913 (vgl.: ISG FFM – Magistratsakte V 568 /61 Kinderheim e. V. 1909: 9) wird die Kleidung der Schwestern bei der Arbeit beschrieben. Sie trugen hellblaue Waschkleidung und weiße Schürzen und das Vereinsabzeichen als Brosche.

Welche Bedeutung als Identitätsmerkmal das Abzeichen hatte, wird verständlich, wenn beschrieben wird, wie sehr sich ein Mitarbeiter des Hauses über den Missbrauch des Abzeichens durch andere Personen, die eventuell keine gründliche Ausbildung vorweisen können liest. Wohl aus diesem Grund sei die Schrift im Abzeichen inzwischen in Rot wiedergegeben (vgl. ebd.). [Meines Wissens nach wurde von der Dresdner Schwesternschaft dieses Zeichen ebenfalls getragen, die es mit Stolz aus Frankfurt übernommen hatten (vgl.: Schlossmann 1906: 53f.) Auch im Jahrbuch für 1908 ist zu lesen wie der Vereinsvorsitzende Christian Wilhelm Pfeiffer sich über das Kopieren ihres Abzeichens aufregt, zumal die Herkunft des Zeichens verschwiegen werde (vgl.: ISG FFM – Magistratsakte V 568 /61 „Kinderheim“, Jahresbericht für das Verwaltungsjahr 1908).

3.2 Die Schwestern im Haus

Eine ausführliche Beschreibung der Häuser der Böttgerklinik und der Belegung der Räumlichkeiten gibt es bereits im Artikel „Die überkonfessionelle Kinderklinik mit Säuglingsheim in der Böttgerstraße (Böttgerheim), eine Stiftung der Familie Gans“ (vgl.: Bönisch 2022/2023) Hier eine kurze Zusammenfassung soweit die Aussagen die Kinderschwestern betreffen.

Abbildung 7: Erdgeschoss des Kinderheims in der Böttgerstraße, Kinderheim 1913

Zu Beginn des Kapitels 3 befindet sich die Abbildung 3, sie zeigt die Schwestern vermutlich auf der „Veranda für Säuglinge“ im Erdgeschoss, ein geheizter Raum, in dem auch Versammlungen oder auch Prüfungen stattfanden, der auf dem Grundriss vorne eingezeichnet ist (vgl.: ISG FFM – Magistratsakte V 568 /61, Kinderheim e. V. 1909: 7). Weiter auf dem Plan des Erdgeschosses sieht man das Wohn- und Speisezimmer der Pflegerinnen, welches an die Veranda anschließt. Bilder aus dem Arbeitsleben zeigen zum einen den Säuglingssaal und zum anderen eine nach der Erstellung des Neubaus angebaute offene Veranda aus dem Jahr 1912:

Abbildung 8: Säuglingssaal im ersten Obergeschoss des Böttgerheims
Abbildung 9: Offene, gedeckte Veranda im Böttgerheim

Die Schlafräume der Schwestern lagen im 1. und 2. Stock, später auch im zugekauften Hinterhaus oder für Gäste, Schwestern und Seminaristinnen im Haus Hallgartenstraße 59.

Ein wenig über den Tagesablauf erfahren wir aus einem Eintrag in der Beschreibung von 1913:

„Die Pflege der Kinder wird durch die Schwestern des Vereins und die zur Erlernung der Kinderpflege in der Anstalt befindlichen Schülerinnen unter Aufsicht der Oberin besorgt. Durch den Anstaltsarzt findet täglich eine eingehende Visite statt. Jede der 14 Schwestern hat in der Regel 6 Säugling zu pflegen, in einem Saal finden sich gewöhnlich eine ausgebildete Pflegerin und eine Schülerin. Die Schwestern tragen hellbau- und weißgestreifte Waschkleider, weiße Schürzen, eine Haube und eine Brosche mit dem della Robbiaschen Bambino.“

ISG FFM – Magistratsakte V 568 /61, Kinderheim e. V. 1913: 10

3.3 Prüfungsszenarium

Überliefert ist das Szenarium des Ablaufs einer Prüfung im Haus um 1909:

„In der Veranda des Erdgeschosses waren die Prüfer und Prüflinge versammelt. Es handelte sich um die Prüfung von acht in der Anstalt ausgebildeten Schülerinnen und drei Schwestern eines anderen Verbandes, die den Ausbildungskursus mitgemacht und einige Monate praktisch in der Anstalt gearbeitet hatten. Wie bei jeder Prüfung waren die Leistungen verschieden. Es fiel mir aber auf, dass das Gebiet, über das geprüft wurde, ausserordentlich gross war, und die Fragen eine genaue Kenntnis desselben voraussetzten. Der Examinator streifte der Reihe nach den Aufbau des menschlichen Organismus, den Bau der einzelnen Organe, ihre Aufgabe und ihr Zusammenarbeiten, die Ernährung des Organismus, die Art der Nährmittel, ihre Verdauung und Verwertung, ferner Kapitel aus der Bakteriologie, die Begriffe der Infektion und Desinfektion, um schliesslich aufbauend auf diesen Fundamenten zu den Besonderheiten der Säuglingspflege und Säuglingsernährung überzugehen. Zum Schluss bewiesen uns die Prüflinge ihre Kenntnis und Geschicklichkeit im Anlegen von Verbänden.“

ISG FFM – Magistratsakte V 568 /61, Kinderheim e. V. 1909: 17

Dem Autoren oder der Autorin dieser Zeilen erscheint die ganze Prüfung doch sehr theorielastig und fragt den Anstaltsarzt Dr. Scholz nach dessen Meinung dazu: Ziel der Ausbildung sei kranke Kinder versorgen zu können, antwortet dieser, aber auch die moderne Kinderpflege zu vermitteln. In der Praxis sei es sehr gut möglich, dass die fertig ausgebildeten Schülerinnen sofort in den Außendienst gehen müssten und ohne Anleitung eines Arztes Entscheidungen treffen müssten.

„Dort haben sie recht häufig eine schwierige Stellung: auf der einen Seite eine Wöchnerin, die meistens nicht das Geringste von Kinderpflege versteht, auf der anderen Seite Grossmütter und Tanten, die sehr viel von Kinderpflege zu verstehen glauben und mit wichtigem Gesicht unter Hinweis auf ihre eigenen Erfolge alte, längst abgetane Ammenweisheit predigen.“

ISG FFM – Magistratsakte V 568 /61, Kinderheim e. V. 1909: 17

Weiter führt Dr. Scholz aus, dass da die Schwestern überzeugen können und klar sagen können müssten, warum der Säugling nur alle 3,5 bis 4 Stunden trinken soll, warum Muttermilch besser ist als Kuhmilch usw. und dafür müsste ein Wissen über den Organismus, die Ernährung etc. vorhanden sein. Wodurch auch das Ziel erfüllt würde, moderne Anschauungen über Säuglingspflege und Ernährung bekannt zu machen (vgl. ISG FFM – Magistratsakte V 568 /61, Kinderheim e. V. 1909: 17).

4 Namen und Biografien

Schwierig ist die Quellenlage für Biografien von Kinderpflegerinnen, die im Böttgerheim ausgebildet wurden bzw. dort arbeiteten, einige konnte ich ausfindig machen.

4.1 Oberin Bertha Trömper (Beiratsmitglied)

Oberin Bertha Trömper gehörte von Beginn an dem Beirat (vgl.: ISG FFM V 586 / 61 – „Kinderheim“ I. Jahresbericht für Verwaltungsjahr 1902) des Kinderheim e. V. an. Vermutlich hatte sie keine weiteren Funktionen im Kinderheim selbst. Jedoch leitete sie den 1896 gegründeten Bertha-Verein für öffentliche Krankenpflege (vgl.: Hildemann / Kaminsky / Magen 1994: 63). Sie selbst und der Verein residierten im 2. und 3. Stock im Bornwiesenweg 53 (vgl.: Adressbücher 1904). 1897 gehörten dem Verein 14 Krankenpflegerinnen an (vgl.: Aertzlicher Verein 1898:74). Das Diakonenkrankenhaus in Duisburg hatte 1887 eine Frauenstation eröffnet und Schwestern des Diakonievereins in Berlin-Zehlendorf eingestellt. Der Zehlendorfer Verein kündigte jedoch die Zusammenarbeit auf Grund von unzumutbaren Arbeitsbedingungen für die Schwestern 1901. Die Schwestern des Bertha-Vereins sprangen dafür ein (vgl.: Hildemann / Kaminsky / Magen 1994: 63). Die Informationen bezieht sich auf die Satzung des Bertha-Vereins, und auf Unterlagen zum Arbeitsverhältnis zwischen Krankenhaus und Bertha-Verein). Die Zusammenarbeit endete 1912:

„Von 1902 bis 1912 arbeite man mit dem ‚Bertha-Verein‘ in Frankfurt und dessen Oberin Bertha Trömper zusammen. Sie sandte in diesen Jahren Schwesternschülerinnen nach Duisburg, die zur eigenen Ausbildung und zur Pflege der Patienten ihren Dienst versahen. Bald kam es jedoch nach Meinung der Duisburger Anstaltsleitung zu Schwierigkeiten. Eine Schwester stahl, eine mußte gehen, weil ‚sie Liebelei mit einem jungen Bruder anfing umd [sic] ihm ein Gedicht übersandte‘. Als sich schließlich zwei Schwestern vor den Patienten stritten und handgreiflich gegeneinander wurden, nahm die Anstaltsleitung dies zum Anlaß, die Verbindung zum ‚Bertha-Verein‘ zu lösen.“

Hildemann / Kaminsky / Magen 1994: 121

Die darauffolgenden Diakonissen aus dem Berner Mutterhaus blieben in Duisburg bis 1919 und zogen sich dann aufgrund des langen erschöpfenden Kriegs und der klimatisch schlechten Verhältnisse aus Duisburg zurück (vgl.: Hildemann / Kaminsky / Magen 1994: 121)

Abbildung 10: Im Beirat: Oberin Trömper. Darunter wird Frl. Elisabeth Lippert als Vorsteherin der Anstalt aufgelistet. ISG – FFM Magistratsakte V 586 / 61 Kinderheim,
III. Jahresbericht für 1904

4.2 Angestellte Schwestern im Jahr 1920

Der Verein „Kinderheim e. V.“ musste aus finanziellen Gründen zum 1. Oktober 1920 aufgelöst werden und die Stadt Frankfurt führte das Böttgerheim weiter (vgl.: Thomann-Honscha 1988: 157). Auf den 11. Januar 1921 datiert liegt ein Schreiben des Jungend-Amtes an den Magistrats-Personaldezernenten vor. Darin geht es um die Übernahme und Besoldung von Personal des bisherigen Böttgerheims in Verträge der Stadt Frankfurt:

„Zufolge gemeinsamer Beschlüsse des Magistrats und der Stadtverordneten – Versammlung ist das „Kinderheim“ mit Wirkung vom 1.10.20 ab verstadtlicht worden. Gemäss § 6 des Uebernahme – Vertrags ist die Stadt verpflichtet, die weitere Beschäftigung und die Altersversorgung der im Heim beschäftigten Schwestern Elisabeth Lippert (Oberin) und Marie Lippert (Oberschwester) zu übernehmen. Billiger Weise werden wir auch die bisher im Heim tätigen Schwestern übernehmen müssen, zumal dies ja für den Weiterbetrieb dringend benötigt werden.“ (ISG FFM – Magistratsakte V 568 / 61 Kinderheim: Blatt 136) Aus dieser Akte kennen wir einige Namen der Beschäftigten im Jahr 1920.

4.2.1 Elisabeth Lippert (1865-?) und Marie Lippert (1867-?)

Elisabeth Lippert wurde am 26. September 1865 in Mainz geboren. Oberin im Böttgerheim wurde sie am 1. April 1903. Im Heim war sie auch für die Verwaltung und Büroarbeit zuständig. Ihre Schwester Marie (auch Maria bzw. Maria Louise) war die jüngere von beiden. Sie war am 29. Juni 1867 in Frankfurt am Main geboren worden. Sie bekleidete seit dem 1. Januar 1904 die Funktion eine Oberschwester (vgl.: ebd. und ISG FFM Best. A.11.02 (Personalakten Nrn. 935 und 936 sowie 46.406 und 59.622). Es existiert die Meldekarte der Familie Carl Lippert (vgl.: ISG FFM Best. A.12.02 (Nullkartei) Nr. L06107), aus der zu sehen ist, dass Elisabeth Lippert am 1. Juli 1903 in der Falkstraße 21 gemeldet war und am 27. Juni 1904 in der Böttgerstraße 22. Ihre Schwester war ab dem 26. Juni 1916 in der Böttgerstraße gemeldet. Der Vater war Carl Conrad Lippert, geboren am 25. März 1830 in Frankfurt am Main, gestorben am 13. November 1902. Die Familie war katholisch. Carl Lippert war k. k. Major a. D. und seit 16. April 1873 verwitwet. Aus der Literatur ist zu sehen, dass er 1866 das Militär-Verdienst-Kreuz erhalten hatte, ein Orden gestiftet von Franz Joseph I von Österreich (vgl.: Kais. Königl. Militär-Schematismus). Vermutlich nahm Carl Lippert am zweiten deutsche Einigungskrieg gegen Preußen teil.

4.2.2 Margarete Kiehl

Kiehl, Margarete, geb. 05.101887 zu Königsberg, Schwester im Heim seit 01.01.1913

4.2.3 Helene Anthes

Anthes, Helene, geb. 08.05.1897 zu Frankfurt/Main, Schwester im Heim seit 01.04.1920

4.2.4 Margarete Kottmayer

Kottmayer, Margarete, geb. 22.04.1885 zu Nied, Schwester im Heim seit 01.10.1913

4.2.5 Agnes Kalytta

Kalytta, Agnes, geb. 08.01.1890, geb. 08.01.1890 zu Zaborze/Schles., Schwester im Heim seit 25.11.1919

4.2.6 Lina Burchardt

Burchardt, Lina, geb. 30.07. 1880 zu Frankfurt /Main, im Heim seit 01.11.1919

Weitere Spuren dieser Frauen müssen noch erforscht werden, berücksichtigt werden sollten ihre Personalakten der Stadt Frankfurt am Main im Institut für Stadtgeschichte.

5. Vernetzungen

Weiterer Namen, die ich entdeckt habe, sind die von Betty Behrendt und ihrer Tochter Annemarie. Deren bisher bekannten Lebenswege deuten an, welche Vernetzungen es unter den Frankfurter Kinder- und Säuglingspflegerinnen und den unterschiedlichen Institutionen zur Ausbildung und Ausübung des Berufs im pflegerischen und sozialen Bereich gab.

5.1 Betty Behrendt (1908-?) und das Heim des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg

Betty Behrendt, geboren am 6. Januar 1908 in Berlin, brachte 1927 ihre Tochter Annemarie in Frankfurt am Main zur Welt. „Vermutlich begab sie sich unmittelbar nach der Geburt gemeinsam mit ihrer Tochter in die Obhut des Heims ,Isenburg‘ und ließ sich dort zur Säuglingspflegerin ausbilden“ (Gedenkbuch Isenburg o. J.: Behrendt, Betty). Bis zum 30. Oktober 1936 arbeitete sie als Pflegerin im Heim. 1936 ging sie nach Frankfurt und arbeitete als Haushaltshilfe in der Aystettstraße 6, eine Villa die Frieda Philippsohn, geborene Rothschild, 1939 verkaufen musste (vgl.: Mahnkopp 2020: 32 und Philippson, David: Frieda Philippsohn war die Schwiegertochter von David Phillipsohn, der zu der Gruppe von 23 Holocaustopfern gehört, an die mit der Gedenkstätte der Henry und Emma Budge-Stiftung erinnert wird. 1939 floh sie ohne die Tochter nach Belgien und ging dort 1942 in den Untergrund, wo sie den Krieg überlebte (vgl.: Gedenkbuch Isenburg o. J.: Behrend. Betty).

Um mehr über die Ausbildung jüdischer Säuglingspflegerinnen zu erfahren, ob sie z. B. im Böttgerheim ausgebildet wurden, bleibt zu klären. Einen Hinweis gibt es in der Literatur über das Heim des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg: „Diejenigen, die bei den Säuglingen und Kleinkindern beschäftigt werden, erhalten Kurse in den Grundlagen der Erziehungslehre. Bei Eignung kann eine Ausbildung in Frankfurt als Kinderpflegerin durchgeführt werden. Die meisten, die das Heim verlassen, verdienen ihren Lebensunterhalt als Hausangestellte. Die Heimkommission vermittelt entsprechende Stellen in zuverlässigen jüdischen Familien.“ (Heubach 1986: 39)

5.2 Kurse im Böttgerheim für Externe (Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main)

In dem oben beschriebenen Prüfungsszenarium (Kapitel 3.3) nahmen acht selbst ausgebildete Schwesternschülerinnen des Böttgerheims teil, aber auch „drei Schwestern eines anderen Verbandes, die den Ausbildungskursus mitgemacht und einige Monate praktisch in der Anstalt gearbeitet hatten“ (ISG FFM – Magistratsakte V 568 / 61 Kinderheim 1909: 16). Im Jahresbericht des Kinderheims dokumentiert der Anstaltsarzt Dr. Beck, dass an den theoretischen und praktischen Kursen für die Kinderpflegerinnen auch Externe teilnahmen, so drei Schwestern des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main und weitere Externe, die alle ihre Prüfungen im Kinderheim ablegen konnten. Weiter nahmen sechs interessierte junge Frauen an den theoretischen Kursen teil (vgl.: ISG FFM – Magistratsakte V 568 / 61, „Kinderheim“, Jahresbericht für das Verwaltungsjahr 1910: 3).

Die Schwestern des „Vereins für jüdische Krankenschwestern zu Frankfurt am Main“, arbeiteten im Jahr 1909 hauptsächlich noch im Hospital der Israelitischen Gemeinde in der Königswarterstr. und lebten seit 1902 im Neubau des Schwesternheims in der Königswarterstr. 20 (vgl.: Bönisch 2021).

5.3 Kurse im Böttgerheim für Externe (Seminaristinnen des Frauen-Seminars für soziale Berufsarbeit)

Unter der Leitung von Rosa Kempf hatte 1913 das Frauen-Seminar für soziale Berufsarbeit seine Arbeit aufgenommen, um „die Ausbildung, insbesondere weiblicher Personen in denjenigen Wissenschaften zu vermitteln, deren Kenntnis für die Betätigung in der Wohlfahrtspflege erforderlich ist“ (Eckhardt 2014: 25). Praktikantinnen des Seminars waren in der Säuglingspflegerinnenschule des Böttgerheims untergekommen: „Mit der Pflege waren 6 Kinderschwestern und 14 Schülerinnen, worunter 2 Seminaristinnen, betraut“ (ISG FFM – Magistratsakte V 568 / 61 „Kinderheim“, Jahresbericht für das Verwaltungsjahr 1913: 6).

Auch nach dem Werdegang der Personen aus dieser Gruppe und deren Vernetzung in den Institutionen wäre nachzuspüren.

5.4 Die Fritz-und-Auguste-Gans-Stiftung zugunsten erholungsbedürftiger Krankenpflegerinnen

Ein letzter Hinweis in diesem Artikel auf Institutionen, die für die jüdischen Kinder- und Säuglingspflegerinnen relevant waren, ist der auf die Fritz-und-Auguste-Gans-Stiftung zugunsten erholungsbedürftiger Krankenpflegerinnen, die 1909 errichtet wurde und 1939 aufgelöst wurde, das Restvermögen ging zu Hälften an das Hospital zum Heiligen Geist und an den Verein jüdischer Krankenpflegerinnen (vgl. Stiftungen jüdischer Bürger-nach 1933).

6 Quellen

6.1 Archivalien

ISG FFM – Institut für Stadtgeschichte Fankfurt am Main

Kartensammlung Hochbauamt S8-HBA, 657

Magistratsakten R / 23 Bd. 2 – Wilhelm- und Auguste-Victoria-Stiftung-für Säuglingsfürsorge

  • „Kinderheim“ Eingetragener Verein: VIII. Jahresbericht für Verwaltungsjahr 1909, Frankfurt 1913

Magistratsakten R / 23 Bd. 3 – Wilhelm und Auguste Victoria-Stiftung-für Säuglingsfürsorge

Magistratsakte V / 568 Kinderheim

  • „Kinderheim“ Eingetragener Verein: I. Jahresbericht für Verwaltungsjahr 1902, Frankfurt 1903
  • „Kinderheim“ Eingetragener Verein: II. Jahresbericht für Verwaltungsjahr 1903, Frankfurt 1904 [nicht auffindbar EB]
  • „Kinderheim“ Eingetragener Verein: III. Jahresbericht für Verwaltungsjahr 1904, Frankfurt 1905
  • „Kinderheim“ Eingetragener Verein: IV. Jahresbericht für Verwaltungsjahr 1905, Frankfurt 1906
  • „Kinderheim“ Eingetragener Verein: V. Jahresbericht für Verwaltungsjahr 1906, Frankfurt 1907
  • „Kinderheim“ Eingetragener Verein: VI. Jahresbericht für Verwaltungsjahr 1907, Frankfurt 1908
  • „Kinderheim“ Eingetragener Verein: VII. Jahresbericht für Verwaltungsjahr 1908, Frankfurt 1909
  • „Kinderheim“ Eingetragener Verein: IX. Jahresbericht für Verwaltungsjahr 1910, Frankfurt 1911
  • „Kinderheim“ Eingetragener Verein: X. Jahresbericht für Verwaltungsjahr 1911, Frankfurt 1912
  • „Kinderheim“ Eingetragener Verein: XI. Jahresbericht für Verwaltungsjahr 1912, Frankfurt 1913
  • „Kinderheim“ Eingetragener Verein: XII. Jahresbericht für Verwaltungsjahr 1913, Frankfurt 1914
  • „Kinderheim“ Eingetragener Verein: XIV. Jahresbericht für Verwaltungsjahr 1915, Frankfurt 1916
  • „Kinderheim“ Eingetragener Verein: 15. Jahresbericht für Verwaltungsjahr 1916, Frankfurt 1917
  • Kinderheim e. V. 1909: Kinderheim Frankfurt am Main
  • Kinderheim e. V. 1913: Kinderheim Frankfurt am Main, Sonderdruck aus: Heim-, Heil- und Erholungsanstalten für Kinder in Deutschland in Wort und Bild, Teil: Bd. 1. Carl Marhold Verlagsbuchhandlung in Halle a. S.

Nulldatei, ISG FFM Best. A.12.02

Personalakte, ISG FFM Best. A.11.02

Stiftungsabteilung 250 Verein Kinderheim Böttgerstraße 22

6.2 Literatur

Adressbücher 1904: Neues Adreßbuch [sic] für Frankfurt am Main und Umgebung. 1904. Unter Benutzung amtlicher Quellen, Frankfurt am Main

Aerztlicher Verein 1898: Jahresbericht über die Verwaltung des Medicinalwesesn die Kranken-Anstalten und die öffentlichen Gesundheitsverhältnisse der Stadt Frankfurt a. M. XLI. Jahrgang 1897, Frankfurt a. M.

Blessing, Bettina 2013: Kleine Patienten und ihre Pflege. Der Beginn der professionellen Säuglingskrankenpflege in Dresden. In: Geschichte der Pflege, 2. Jg., 1/2013: 25-34

Bönisch, Edgar 2021: Die Schwesternschülerinnen des Frankfurter Vereins, 1903-1913

Bönisch, Edgar 2022: Entwicklung einer professionellen Kinder- und Säuglingspflege, Frankfurt am Main

Bönisch, Edgar 2022/2023: Die überkonfessionelle Kinderklinik mit Säuglingsheim in der Böttgerstraße (Böttgerheim), eine Stiftung der Familie Gans, Frankfurt am Main

Eckhardt, Hanna/Eckhardt, Dieter 2014: Das „Frauenseminar für soziale Berufsarbeit“. Die „Wohlfahrtsschule für Hessen-Nassau und Hessen“ 1913-1933, in: Der Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Fachhochschule Frankfurt am Main: „Warum nur Frauen?“ 100 Jahre Ausbildung für soziale Berufe, Frankfurt am Main

Gedenkbuch Isenburg o. J.: Gedenkbuch für das Heim des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg (1907-1942)

Gellrich, Dorothea 2012: Die Entstehung neuer Frauenberufe in der Säuglingsfürsorge 1898-1930. Zum Beruf der Säuglingspflegerin und Säuglingsfürsorgerin, Saarbrücken

Hildemann, Klaus D. / Kaminsky, Uwe / Magen, Ferdinand 1994: Pastoralgehilfenanstalt – Diakonenanstalt – Theodor Fliedner Werk. 150 Jahre Diakoniegeschichte, Köln

Kaisl. Königl. Militär-Schematismus 1878: Kais. Königl. Militär-Schematismus für 1879, Wien

Mahnkopp, Volker 2020: Dokumentation zu vom NS-Staat verfolgten Personen im Frankfurter Kinderhaus der Weiblichen Fürsorge e. V. Hans-Thoma-Straße 24, Frankfurt am Main

Peiper, Albrecht 1965 [1951:] Chronik der Kinderheilkunde, 4. erw. Auflage, Leipzig

Schlossmann, Arthur 1906: Über die Fürsorge für kranke Säuglinge unter besonderer
Berücksichtigung des neuen Dresdner Säuglingsheimes. In: Arbeiten aus dem Dresdner Säuglingsheim. Dresden Säuglingsheim 3: 1-94

Stiftungen jüdischer Bürger-nach 1933: Stiftungen jüdischer Bürger Frankfurts für die Wohlfahrtspflege – Übersicht und Geschichte nach 1933

Thomann-Honscha, Cornelia 1988: Die Entstehung der Säuglingsfürsorge in Frankfurt am Main bis zum Jahre 1914, Diss. med. Univ. Frankfurt a. M., Manuskript, Frankfurt am Main

B’nai B’rith Logen in Deutschland

Die B’nai B’rith Logen, von denen es mehr als 100 bis 1937 in Deutschland gab, waren bedeutende Initiator_innen und Förderer_innen der jüdischen Pflege. Die von Birgit Seemann und Edgar Bönisch im Frankfurter Logengebäude gehaltenen Vorträge sind seit März 2023 auf den Internetseiten der B’nai B’rith Loge Frankfurt Schönstädt e. V. nachzulesen. Zu den Beiträgen von Dr. Birgit Seemann, Dr. Edgar Bönisch.

Stolpersteinverlegung für Karl und Lea Falkenstein im Juni 2022

Karl Falkenstein und seine Frau Lea waren Bewohner_innen des Henry und Emma Budge-Heims für alleinstehende alte Menschen, dem Heim der ursprünglichen Stiftung von Hennry und Emma Budge. Das heutige Henry und Emma Budge-Heim hatte dort seine Wurzeln. Unseren Artikel über das ursprüngliche Heim finden Sie hier. Weitere Informationen zum aktuellen Budge-Heim einschließlich einer Gedenkstätte für die verschleppten Bewohner_innen des alten Heims sind ebenfalls in unserer Datenbank aufgeführt.

Lea Falkenstein verstarb im Juni 1938 im Budge-Heim. Für Karl Falkenstein war die Beethovenstr. 11, dem Ort der Stolpersteinverlegung, die letzte frei gewählte Wohnung. Einen Artikel über Karl Falkenstein gibt es hier.

Das Redaktionsteam von juedische-pflegegeschichte.de konnte einen Urenkel des Ehepaares anlässlich der Stolpersteinverlegung in Frankfur treffen. Vielen Dank dafür und an die Initiative Stolpersteine Frankfurt am Main e.V.

Foto Bertil Oppenheimer
Bertil Oppenheimer, ein Urenkel von Karl und Lea Falkenstein am 10. Juni 2022
Stolpersteine Karl und Lea Falkenstein
Stolpersteine für Karl und Lea Falkenstein, Beethovenstr. 11

Ausstellung „In Justice and from a Pure Heart“ – St. Petersburg

Die Ausstellung „In Justice and from a Pure Heart“ vom 25. November 2021 bis 17. Februar 2022 fand im Museum of the History of Religion in St. Petersburg statt.
Wir waren mit einem Beitrag zum Gumpertz’schen Siechenhaus beteiligt.

Der Text der Ausstellungsseite hier maschinell übersetzt:

Die Ausstellung zeigte eine „Sabbatbrotplatte“ aus dem Jahr 1936 zu Ehren des 25-jährigen Bestehens des Gumpertz’schen Siechenhauses in Frankfurt am Main.

Der Name des Pflege-, Kranken- und Altenheims verewigt den Namen seiner Gründerin Betty Gumpertz, die 1823 in Worms in der Familie des jüdischen Kaufmanns Karl Kahn geboren wurde. Am 20. August 1848 heiratete Betty Kahn einen wohlhabenden Kaufmann und Inhaber einer Kreditgesellschaft, Leopold Gumpertz, der aus einer alten und angesehenen jüdischen Familie in Frankfurt am Main stammte. Nach dem Tod ihres sechsjährigen Sohnes Heinrich im Jahr 1871 beschloss Betty, ihm zu gedenken, im Ostteil der Stadt, wo die Mehrheit der Armen lebte, eine jüdische öffentliche medizinische Anstalt zu gründen. 1888 spendete Betty einen bedeutenden Betrag für die Errichtung eines Krankenhauses für Behinderte, Alte und chronisch Kranke und gewann auch eine Reihe bekannter Frankfurter Philanthropen zur Finanzierung, allen voran Mathilde Rothschild, die Witwe von Wilhelm Karl, as sowie ihre Töchter Minka und Adelheid. Ihr Beitrag war so bedeutend, dass das Krankenhaus als Rothschild-Krankenhaus bezeichnet wurde.

Das Krankenhaus befand sich zunächst in einer kleinen gemieteten Halle in der Rückertstraße, ab 1892 in einem größeren Gebäude in der Ostendstraße und ab 1907, nach einer Spende von einer Million Mark von Mathilde Rothschild, in zwei Häusern mit sechzig Betten, die am Röderbergweg 62-62 errichtet wurden.

Im Krankenhaus arbeiteten qualifizierte Ärzte, und es gab moderne Geräte – Röntgengeräte, ein Labor, elektrische Bäder. Dank dessen entsprach die Behandlung den höchsten Standards der damaligen Zeit. Gleichzeitig wurde im Krankenhaus ein Raum „zum Beten nach dem strengen jüdischen Ritus“ eingerichtet.

Das Gumpertz-Krankenhaus hat sich darauf spezialisiert, sozial schwachen Menschen mit chronischen Erkrankungen zu helfen. Die Krankenpflege war in der Regel kostenlos. Auf Beschluss des Krankenhausvorstandes wurden dort nicht nur Juden aufgenommen, sondern auch Patienten anderer Religionszugehörigkeit, wenn auf den Krankenstationen Leerplätze vorhanden waren. Bewerberinnen und Bewerber mussten „good standing“ sein und seit mindestens zwei Jahren in Frankfurt leben.

Das Krankenhaus wurde 1940 vom NS-Regime liquidiert; eines der Gebäude wurde 1944 zerstört. Am 25. Juni 2015 wurde an seiner Stelle (Röderbergwege 82) eine Gedenktafel mit einem Porträt von Minka Rothschild, der Gründerin der gemeinnützigen Stiftung zur Finanzierung des Gumpertz-Krankenhauses, aufgestellt.

Die Bildunterschrift bedeutet:

Foto von Prof. Eva-Maria Ulmer, entstanden 2017 für das Projekt „Geschichte jüdischer Pflegekräfte – Biografien und Institutionen in Frankfurt am Main“.
Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von E.-M. Ulmer

Beiträge zur Rödelheimer Geschichte 7

Beiträge zur Rödelheimer Geschichte 7

Beiträge zur Rödelheimer Geschichte 7
Beiträge zur Rödelheimer Geschichte 7
Lebensbilder Rödelheimer Persönlichkeiten
Artikel_May_in_Rödelheimer
Joseph und Hannchen May, in: Beiräge zur Rödelheimer Geschichte 7, Seiten 197 bis 207

Die Artikel, die auf juedische-pflegegeschichte.de erschienen sind:

Frankfurt und der NS

Ab 9. Dezember 2021 startet im Historischen Museum Frankfurt die Ausstellung „Frankfurt und der NS“
Ab Dezember zeigt das HMF ein bisher vorbildloses Ausstellungsprojekt: In drei Formaten widmet es sich dem Thema „Frankfurt und der NS“. 75 Jahre nach der Befreiung der Stadt durch US-Truppen ist der Nationalsozialismus (NS) und sein Nachwirken leider ein hochaktuelles Thema, wie rechtsradikale Anschläge, Parteien und Propaganda zeigen. Wie sich die vor 1933 als liberal und demokratisch geltende Stadt mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil im Reich so schnell und radikal dem NS andienen konnte, und wie schleppend die Aufarbeitung danach verlief – sind Leitfragen der drei Ausstellungen.

Das Projekt Jüdische Pflegegeschichte in Frankfurt am Main ist dabei.
Weitere Informationen auf der Website des HMF

3 Ausstellungen von Dezember 2021 bis April 2022

Amalie Stutzmann, Foto

Amalie Stutzmann und ihr Sohn Markus

Einleitung

Amalie Stutzmann (auch Amalia und Amélia) war Krankenschwester im Frankfurter Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung und, wohl für kurze Zeit, im Krankenhaus der Jüdischen Gemeinde in der Gagernstraße 36. Wie ihre Enkelin Amaly bestätige konvertierte sie 1931 vom evangelischen Glauben zum jüdischen. Am 11.November 1941 wurde sie in das Ghetto Minsk deportiert und dort ermordet.

Ihren Sohn Markus hatte sie 1939, als 10-jährigen, in einem Kindertransport nach Palästina unterbringen könnnen. In Palästina nannte sich Markus Stutzmann später Abraham Bar Ezer. Seine Suche nach den Spuren seiner Mutter begann in den 1950er Jahren, als er einen Antrag auf Entschädigung stellte.

Viele Jahre später, im Mai 2010, konnte ich ihn anlässlich der Verlegung eines Stolpersteins für seine Mutter Amalie, im Sandweg 11 in Frankfurt am Main, kennenlernen. An der von ihm initiierten Verlegung nahmen auch viele seiner Familienmitglieder teil. Zwei Tage später, auf einer Veranstaltung der „Initiative 9. November“ (Initiative 9. November ) erzählte er von seiner Mutter. Moderiert wurde das Gespräch von der Historikerin Helga Krohn, der Autorin und Herausgeberin eines Berichts über den Kindertransport nach Palästina (vgl. Krohn, Helga 1995), zu dem auch Markus Stutzmann gehörte. Im Anschluss an die Veranstaltung konnte ich mit Abraham Bar Ezer und seiner Tochter Amalya Shachal sprechen, sie schenkten mir eine Broschüre mit den Erinnerungen von Markus Bar Ezer, die er seinen Kindern und Nachfahren gewidmet hat (vgl. Bar Ezer, Abraham, o.J.: Die Feuersäule). Der Name des Buches „Feuersäule“ erinnert an den Auszug der Israeliten aus Ägypten als Gott symbolisch als Feuersäule den Israeliten nachts den Weg wies, tagsüber war eine Wolkensäule das Symbol.

Abraham Bar Ezer
Abraham Bar Ezer, Stolpersteinverlegung in Frankfurt am Main,
Sandweg 11, am 7. Mai 2010
© Edgar Bönisch
Amalie Stutzmann, Foto
Porträt von Amalie Stutzmann, undatiert (um 1938)
Aus: Bar Ezer o. J.: Titel

Amalie Stutzmanns Herkunft

Die Geburtsurkunde (Bar Ezer o.J.: Anhang Nr. 2) für Amalie Stutzmann belegt, dass sie am 23. Nobember 1890 in Keskastel um drei Uhr vormittags geboren wurde, Zeugin war am 26. Nobember auf dem Standesamt in Keskastel die Hebamme Margarethe Scheuer. Als Mutter Amalias nennt das Dokument Karolina Stutzmann, von Beruf Näherin, ledig und prostestanisch. Keskatel liegt heute im Department Bas-Rhin im Gemeindeverband Alsace Bossue, dem Krummen Elsass.

Ein Schreiben der Gemeinde Keskastel (Bar Ezer o.J.: Anhang 7) nennt die Geschwister von Amalie: Emile geb. 20. Juli 1882, Anne geb. 14. Mai 1885, Robert geb. 26. Juli 1887–22. September 1887, und Paul Robert geb. 29. März 1889. Weitere Recherchen nach der Familie seiner Mutter, die Abraham Bar Ezer initiierte, gestalteten sich schwierig. Den Namen gab es in der Region sehr häufig und da alle Kinder von Karolina Stutzmann außerehelich geboren waren, gibt es keine Hinweise auf den Vater.

Wie und warum Amalie Stutzmann in den Raum und die Stadt Frankfurt kam, ist unbekannt. Abrahm Bar Ezer schreibt, dass sie das Handwerk der Krankenschwester erlernte und in diesem Beruf in einem Altenheim in Zürich arbeitete (Bar Ezer o.J.: 16). Ihr Aufenthalt in der Schweiz stehe eventuell im Zusammenhang mit der Herkunft von Markus‘ Vater, der vermutlich Moshe Weisskopf hieß (Bar Ezer o.J.: 10 und Anhang 6).

Vermutungen über Markus‘ Vater

Markus erinnert sich in seiner Broschüre „Feuersäule“ an zwei Szenen in Frankfurt. Zum einen besuchte seine Mutter mit ihm 1939 einen alten Mann im Krankenhaus in Frankfurt am Main und stellte ihn als Jaakov Weißkopf vor, er sei Markus‘ Großvater. Der alte Herr verstarb kurz darauf. Zum anderen traf Markus im Haus Sandweg 11 im April 1939 seinen Vater, wie er vermutet. Es könnte sein, dass der Vater seiner Mutter einen Abschiedsbesuch abstattete, bevor er in die USA ausreiste. Erst später entdeckte Abraham Bar Ezer, im erhalten gebliebenen Adressbuch seiner Mutter, die New Yorker Adresse eines Moshe Weisskopf, die Recherchen nach ihm blieben ergebnislos. Nach Quellen in der genealogischen Datenbank „Ancestry“, dort in der Einwanderungsliste von Ellis Island, gibt es einen Moses Weisskopf, der im April 1939 aus Deutschland kommend in die USA eigewandert ist, ob dieser Moses Weisskopf eventuell mit dem Vater von Markus identisch ist, ist ungewiss.

Später, in Israel, erhielt Bar Ezer zwei weitere Hinweise auf seinen Vater und den Großvater, die auf die Schweiz und den Namen Weisskopf deuten. Weitere Forschungen fehlen hier (Bar Ezer o.J.: Anhang 6).

An andere Bilder von seinem Vater oder seinen Verwandten erinnert sich Markus Stutzmann nicht. Seine Mutter habe ihm auf seine Fragen immer ausweichend geantwortet und gesagt, dass sie ihren Mädchennamen trage (Bar Ezer o.J.: 3). Über sein Interesse an der Familiengeschichte schreibt Abraham Bar Ezer: „Meine Familiengeschichte war ein Mysterium für mich, und ich machte mir das Leben nicht schwerer, indem ich verlangte mehr zu wissen als mir zugänglich war. Die Antworten meiner Mutter haben mir gereicht. Das Fehlen eines engen Familienkreises hat mich nicht gestört oder beschäftigt, denn auch viele meiner Freunde im Waisenhaus hatten keine Familie und ebenfalls nur einen Elternteil.“ (Bar Ezer o.J.: 5).

Markus‘ Geburt in Darmstadt, die Geburtsklinik Altschueler

Markus Stutzmann wurde am 18. November 1928 in Darmstadt, Eschollbrücker Str. 12 geboren. Seine Mutter wohnte zu diesem Zeitpunkt in der Wittelsbacher Allee 7 in Frankfurt am Main (vgl. Bar Ezer o.J.: Anhang 1).

In der Eschollbrücker Straße 12 stand damals die private Entbindungsanstalt des Dr. Alfred Altschüler. Der Eintrag im Darmstädter Adressbuch lautet: „Altschüler, Alfred, Dr. med., Frauenarzt und Chirurg, Privatklinik und Entbindungsansstalt (Paulinenheim), Eschollbrücker Str. 12, Fernsprecher 155, Sprechstunden: Dieburgerstr. 5 pt.“ (Adressbuch Darmstadt 1927).

Warum Frau Stutzmann in Darmstadt ihren Sohn gebar kann nur vermutet werden: Am Anfang des 20. Jahrhunderts gab es Entbindungsanstalten der Universitätskliniken und einige, oft im Besitz von privaten Betreibern, als „Erwerbsquelle von Hebammen und Ärzten“ (Meyers Großes Konversations-Lexikon 1906). Über die Entstehung von Geburtskliniken berichtet Claudia Werner (Werner 2017) aus der Sicht einer Hamburgerin: „Wer etwas auf sich hielt, bekam sein Kind zu Hause. Nur die ärmeren Frauen und ledige alleinstehende Schwangere gingen zur Geburt in eine Klinik. Allerdings reichte die Zahl der Betten in den Hamburger Krankenhäusern bei Weitem nicht aus. Und Deutschland hielt Anfang des 20. Jahrhunderts einen traurigen Rekord: Zusammen mit Österreich-Ungarn und Russland hatte es mit 25 Prozent die höchste Säuglingssterblichkeit in Europa. In den Sommermonaten stieg sie in Großstädten wie Hamburg bis auf 50 Prozent.“ (Werner 2017).

Frau Stutzmann gehörte eventuell zu der Gruppe der Armen und alleinstehenden Schwangeren oder sie suchte nach einer Möglichkeit unter optimalen Bedingungen ihr Kind zur Welt zu bringen. Vielleicht wollte sie aber auch an ihrem Wohnort Frankfurt anonym bleiben oder es gab, sofern sie zu diesem Zeitpunkt schon im Rothschild‘schen Hospital arbeitete, dort noch kein Entbindungsmöglichkeit, erst nach dem Umbau im Jahr 1932 wurde ein Entbinungszimmer eingerichtet (Seemann 2018).

Abraham Bar Ezer vermutet, dass seine Mutter kurz vor seiner Geburt nach Darmstadt gezogen war und danach wieder nach Frankfurt zurück. Er selbst blieb dann bei einer Bauernfamilie, bis er ein wenig älter war (vgl. Bar Ezer o.J.: 16). An andere Stelle berichtet er, dass seine Mutter ihn vier Wochen nach der Geburt in Darmstadt zu einer Pflegefamilie in Bickenbach gegeben habe, wo er fünf Jahre geblieben sei (vgl. Initiative Stolperstein 2016: 165). Nur so habe seine Mutter berufstätig sein können und für beider Unterhalt sorgen können (vgl. ebd.).

Amalie und Markus Stutzmann in Frankfurt am Main

Wann Amalie Stutzmann nach Frankfurt kam wissen wir nicht genau. Ihre Adresse, Wittelsbacher Allee 7, wird das erste Mal in der Geburtsurkunde von Markus Stutzmann für den November 1928 erwähnt. Auch ob sie zu diesem Zeitpunkt berufstätig war ist unbekannt. Belegt ist, dass sie 1930 in der Rhön-Straße 48 (Frankfurter Adreßbuch 1931: Teil1 740, Teil 2 286) wohnte, ein Haus, welches, wie die Nachbarliegenschaften 50 und 52, vom Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung für Personalwohnungen genuzt wurde (Seemann 2016 [2014]). Was nahelegt, dass Frau Stutzmann 1930 bereits im Hospital der Rothschild‘schen Stiftung angestellt war. In den beiden darauffolgenden Jahren, 1931 und 1932, wohnte sie im Haus Rhönstraße 50, 2. Stock (Frankfurter Adressbuch 1932 und 1933). [1] Genaueres ist im Hausstandsbuch der Häuser in der Rhönstraße (ISG) zu finden. Danach wechselte Frau Stutzmann am 10.07.31 vom Röderbergweg 97 (Hospital) in die Rhönstraße, von dort am 21.12.1931 wieder in den Röderbergweg 97. Eventuell hatte der Wechsel mit Umbauarbeiten im Hospital zu tun (siehe Kapitel: Amalie Stutzmann und das Hospital der Georgine Sara von Rothschild‘schen Stiftung).

Am 9. August 1935 bezog sie die Wohnung im Sandweg 11 (ISG), wo sie bis 1939 wohnte (Adressbuch Frankfurt a. M. 1937). Vermutlich hatte Frau Stutzmann zuvor im Rotschild‘schen Hospital wohnen können. Ihre Kollegin Aranka Kreismann, Wirtschaftsleiterin im Hospital seit 1934, berichtete später, dass Amalie Stutzmann „Kleidung, Kost und Wohnen“ (HHStA) von der Rothschild‘schen Stiftung erhielt. Das wohl auch noch als sie eine „schöne eingerichtete Wohnung in Frankfurt a/Main Sandweg Nr. 11“ (ebd.) bewohnte.

Bella Flörsheim und Adele Nafschi, Kolleginnen im Rothschild‘schen Krankenhaus, bezeugen die Arbeit von Amalie Stutzmann im Krankenhaus für die Zeit von 1931 bis 1938 (ebd.).

Abraham Bar Ezer erinnert sich „vage“ an die erste Zeit. Wohl zwischen 1928 bis 1935 lebte er bei Landwirten in „irgendeinem“ Dorf, vermutlich in Bickenbach (Initiative Stolperstein Frankfurt am Main 2016: 165). In dieser Zeit besuchte ihn die Mutter hin und wieder. Eines Tages holte Amalie Stutzmann ihren Sohn nach Frankfurt und sie wohnten im Sandweg 11, die Adresse vor der heute der Stolperstein für Frau Stutzmann liegt. Das könnte etwa August 1935 gewesen sein, das Datum an dem Amalie Stutzmann aus dem Röderbergweg 97 ausgezogen ist (ISG), also kurz vor Markus‘ siebtem Geburtstag.

In Frankfurt ging Markus in den Kindergarten bei Kindergärtnerinnen, die er später in Palästina wiedertraf, Ayala Grossmann und Bela Hoffmann. Er besuchte die Jüdische Volksschule und später die Realschule, benannt nach dem Rabbiner Samson Raphael Hirsch. Die Besuche in der orthodoxen Synagoge in der Friedberger Anlage und ihre dortigen Banknachbarn, Familie Frankental, sind ihm gut im Gedächtnis (Bar Ezer: 4).

Neues Schulhaus. Röderbergweg 29
Neues Schulhaus der Israelitischen Volksschule nebst Anbau, Röderbergweg 29
Aus: Stern 1932: 41

In Frankfurt führten Markus und seine Mutter ein vom orthodoxen Judentum geprägtes Leben. In der orthodoxen Synagoge lernte er jüdische Familien kennen, in der Schule hatte er Freunde mit denen er sich auch im Israelitischen Waisenhaus traf und mit denen er später auch nach Palästina auswanderte. Seine Mutter sorgte für gute Kleidung. „Wie ein Prinz“ fühlte er sich. Von allem erhielt er das „Beste“ und er bekam Geschenke „nach denen sich jedes Kind sehnte“ (Bar Ezer o.J.: 6).

Ermöglicht hat sie das alles durch die Arbeit im Krankenhaus, bsonders durch Nachtwachen. Durch Hauspflege bei privaten Patienten und Vergabe von Injektionen, verdiente sie ein Nebeneinkommen (HHStA).

Stolz äußert sich Markus über den Mut seiner Mutter. So berichtet er von einem Abendspaziergang über den Sandweg: Sie kamen an einer Papier-Holzfigur vorbei, die wohl von der antisemitischen Zeitung der „Stürmer“ aufgestellt worden war, und einen „grossen Juden mit einer krummen Nase darstellte, dem Symbol der Zeitung. Die Figur hielt ein Messer in der Hand und richtete es auf einen „deutschen Jungen“ den er auf seinen Beinen hielt. Frau Stutzmann ging zu der Statue und stieß sie um, die Statue zersprang in „Tausend kleine Stücke“, stolz und aufrecht ging sie weiter (Bar Ezer o.J.: 7).

Markus und seine Mutter
Markus und Amalie Stutzmann
Aus: Bar Ezer o .J.: 2

Nach der „Kristallnacht“, deren Repräsalien die Stuztmanns durch das beherzte Eintreten des Hausmeisters, der mit der Aussage „Hier wohnen keine Juden“ (Initiative Stolperstein Frankfurt am Main 2016: 166) den „Nazimob“ fernhielt, begann Amalie Stutzmann nach Möglichkeiten zu suchen ihren Sohn nach Palästina zu schicken. Sie konnte ihn in einer Kinder Alijah (Kindereinwanderung) des Frankfurter Waisenhauses für 1939 unterbringen. Sie stattete ihn mit allem Vorgeschriebenen und mehr aus, etwa Bettlacken, Tischdecken, Handtücher, Kleiderbügel, Anzüge, Kleidung, Schuhe, Besteck und Silbergeschirr. Zur Abreise hat seine Mutter ihm ein Notizbuch mit Namen, Geburtsdaten und Adressen mitgegeben, darin ist auch Moshe Weisskopf in New York verzeichnet, vermutlich dem Vater von Markus.

Am 25. April 1939 brachte Amalie Stutzmann ihren Sohn zum Bahnhof. An eine Freundin schrieb sie „Ich schicke Dir alles, was ich besitze“ (Bar Ezer o.J.: 10).

Im Lauf des Jahres 1939 zog Frau Stutzmann in die Hanauer Landstraße 17 (Frankfurter Adressbuch 1940), in ein Haus der Suppenanstalt für israelitische Arme, deren Sitz in der Theobald Christ Straße 5 war (Frankfurter Adressbuch 1939, II. Teil: 134). Die Liegenschaft wechselte im Jahr 1940 in den „Besitz“ der Stadt Frankfurt (Frankfurter Adressbuch 1941). Im Adressbuch von 1942, wohl für das Jahr 1941, taucht Amalie Stutzmann nicht mehr auf. Sie war mit dem Transport am 11./12. November 1941 in das Ghetto Minsk transportiert worden, wo sie ermordet wurde.

Amalie Stutzmann und das Hospital der Georgine Sara von Rothschild‘schen Stiftung

Rothschildsches Hospital
Rothschild’sches Hospital, um 1932
© Courtesy of the Leo Baeck Institute: Fritz Nathan Collection, AR 1443 / MF 533

Eine ausführliche Beschreibung des Hospitals der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung ist auf der Webseite des Projekts Juedische-Pflegegeschichte.de (Seemann 2014 und 2016) zu finden. Hier eine gekürzte Fassung fokussiert auf die Zeit in der Amalie Stutzmann dort arbeitete.

1870 hatte Mathilde von Rothschild das Hospital gegründet, das sie nach ihrer als 17jährigen verstorbenen Tochter Georgine Sara von Rothschild benannte. Der Gebäudekomplex bestand zu Amalie Stutzmanns Zeit aus dem eigentlichen Hospital (Röderbergweg 97), einem Ärztehaus (Röderbergweg 93) und einem Kinderhospital (ebenfalls Röderbergweg 93).

Die religiöse Ausrichtung des Hauses und seiner Bewohner war neo-orthodox, der Israelitischen Religionsgesellschaft folgend, der auch ein Teil der Rothschild‘schen Familie angehörte. Die Israelitische Religionsgesellschaft (IG) hatte sich 1850 als zweite Frankfurter Jüdische Gemeinde von der ersten liberaleren Gemeinde getrennt (Seemann 2014).

Hausordnung Rothschild'sches Hospital
Rothschild’sches Hospital, Hausordnung von 1878 (Auszug)
Aus: RothHospHausordnung 1878: S. 12-13

Nach den Statuten des Hauses war es gedacht für „unbemittelte jüdische Kranke beiderlei Geschlechts“, denen die Aufnahme in eine andere jüdische Einrichtung auf Grund fehlender Gelder nicht zustand (RothHospStatut 1878: 5), Personal und Patienten konnten jüdischen, aber auch christlichen Glaubens sein.

Ab ca. 1922 war Dr. Sally Rosenbaum Chefarzt des Hauses. Nach dem Tod der Stifterin Mathilde von Rothshild, 1924, übernahmen das Mäzenat ihre Tochter Adelheid de Rotschild und der Ehemann ihrerer verstorbenen Tochter Minka, Maximilian von Goldschmidt-Rothschild. Beide finanzierten 1931/32 einen grundlegenden Umbau und die Modernisierung des Hauses. Die Umbauten leitete Regierungsbaurat Dipl.-Ing. Fritz Nathan (1891–1960), der auch für Ernst May im Rahmen des Stadtplanungsprogramms „Neues Frankfurt“ arbeitete.

Das umgebaute Haus beherbergte 29 Krankenbetten dritter Klasse, 12 Krankenbetten zweiter Klasse und 3 Krankenbetten erster Klasse sowie die durch den Umbau unverändert gebliebene Isolier-Station mit 6 Betten, zusammen 50 Betten (Hofacker 1932: 34), bei freier Arztwahl für alle Klassen. Neu waren eine Röntgenabteilung und zwei Operationsabteilungen (septisch und aseptisch) im 2. Obergeschoss. Zum fließend kalten und warmen Wasser in allen Zimmern kamen je Stockwerk noch etliche sanitäre Anlagen hinzu. Außerdem gab es nun an jedem Bett einen Radiostecker und eine rituelle Signaleinrichtung, um an Samstagen und Feiertagen die Nutzung von elektrischem Strom zu vermeiden (ebd.: 35).

In seiner Ansprache zur Wiedereröffnung betonte der Chirurg des Hause Dr. Willy Hofmann die religiöse Ausrichtung des Hauses und wies darauf hin, dass Krankheit ein Mittel sei, seinen „sittlichen Lebenswandel“ zu überprüfen (vgl. Hofmann 1932: 3f.).

Rothschild'sches Hospital, Bauskizze
Rothschild’sches Hospital, Bauskizze des Architekten Fritz Na-than zum Umbau 1932
© Courtesy of the Leo Baeck Institute

Die Belegung des Krankenhauses nahm nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten ständig zu. Jüdische Patienten wurden aus nichtjüdischen Pflegeanstalten überwiesen, Ärztinnen und Ärzte, die aus antisemitischen Gründen ihre Praxen schließen mussten, kamen in die jüdischen Krankenhäuser. Personal, dem die Auswanderung gelang, konnte nicht ersetzt werden. Besonders viele Patientinnen und Patienten wurden nach dem Novemberpogrom 1938 verpflegt (vgl. Andernacht/Sterling 1963: 31, 45). Seit August 1940 kamen psychisch Erkrankte hinzu, die aus nichtjüdischen Psychiatrien vertrieben wurden.

Zum 28. September 1940 veranlassten die NS-Behörden die Eingliederung der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung in die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (vgl. Schiebler 1994: 152). Die Schließung des Hospitals wurde im Mai 1941 veranlasst. Personal und Patienten kamen in das nunmehr letzte Frankfurter jüdische Krankenhaus in der Gagernstraße. Von dort wurden sie in die Todeslager deportiert. Die Stadt Frankfurt „übernahm“ gemäß dem „zweiten Judenvertrag“ vom 30. Januar 1942 (vgl. Karpf 2003a) die Liegenschaft des Hospitals, es wurde vom Bauamt als Hilfskrankenhaus ausgewiesen. Um 1943 wurde das Gebäude bei Luftangriffen zerstört. Heute erinnert am ehemaligen Standort nichts mehr an das Hospital.

Die Georgine Sara von Rothschild’sche Stiftung selbst konnte wiederbelebt werden; den ersten „Notvorstand“ (Schiebler 1994: 152) bildeten 1964 Rabbiner Josef J. Horowitz und Rechtsanwalt Dr. Salomon Goldsmith. Der Stiftungszweck der am 1. November 1976 neukonstituierten, bis heute bestehenden gemeinnützigen „Georgine Sara von Rothschild‘schen Stiftung zur Förderung von Krankenbetreuung für Israeliten“ beinhaltet z.B. die Förderung von Krankenbetreuung und medizinische Beihilfe (vgl. ebd.).

Da das Rothschild’sche Hospital im Mai 1941 geschlossen und sein Personal vom Krankenhaus Gagernstraße übernommen wurde, hat Amalie Stutzmann danach sehr wahrscheinlich in der Gagernstraße gepflegt, ein Zeuge, Leo Frankenthal, berichtete, dass sie „spaeter im Gagern Krankenhaus in Frankfurt taetig war.“ (HHStA). Bereits mit der 2. Frankfurter Deportationszug am 11./12. November 1941 wurde sie in das Ghetto Minsk verschleppt.

Markus und die Israelitische Waisenanstalt

Während der gemeinsamen Zeit von Markus und Amalie Stutzmann in Frankfurt am Main ging Markus vormittags in die Israelitische Volksschule und machte am Nachmittag seine Hausaufgaben im jüdischen Waisenhaus, wo er auch seine Freunde zum Spielen traf (Soden: 74).

Die 1876 gegründete Israelitische Waisenanstalt war seit 1903 im Röderbergweg 87 untergebracht. Die Waisenanstalt, eine Stiftung von Mathilde von Rothschild und anderen, versorgte Frankfurter Waisenkinder, die in einem Alter von sechs bis zwölf Jahren aufgenommen wurden und dort bis zu einer abgeschlossenen Ausbildung blieben (vgl. Krohn 2004: 140ff.). Das Ziel war es, den Kindern „eine den Grundsätzen des traditionellen Judentums entsprechende Erziehung zu geben und in der Pflege des Geistes wie des Körpers treue elterliche Fürsorge möglichst zu ersetzen.“ (Krohn 1995: 14).

Im Haus wurde streng nach orthodoxen Regeln gelebt, es wurde koscher gekocht und die Sabbatruhe eingehalten, die Jungen trugen Kopfbedeckungen und Religionsunterricht war selbstverständlich. Die Jungen erhielten zum 13. Geburtstag ihre Bar-Mizwa-Feier. Jüdische Feste wie Chanukka und Purim wurden gefeiert, in der hauseigenen Synagoge wurde gebetet (vgl. ebd.: 16f.). Die Historikerin Helga Krohn, die 1995 mit Personen sprach, die in den 1930er Jahren im Haus lebten, berichtet: „Die ehemaligen Waisenhauskinder, mit denen wir gesprochen haben, erinnern sich insgesamt an eine schöne, glückliche Zeit im Waisenhaus. Sie waren geschützt, von Wärme und Fürsorge umgeben; Ausflüge in den Taunus und Ferien im Palmengarten, Geburtstagsfeiern, Sport und Spiel gehörten zum Alltag.“ (ebd.: 23).

Chanukka-Feier, Waisenhaus
Jungen zünden Kerzen an. Chanukka-Feier. Links Isidor Marx
© Jüdisches Museum Frankfurt am Main
Israelitisches Waisenhaus
Front Waisenhaus (o.J.)
© Jüdisches Museum Frankfurt am Main, aus: Krohn: Vor den Nazis gerettet. 1995: 15

Abraham Bar Ezer erinnert sich an seine Zeit im Waisenhaus: „Die Atmosphäre in diesem Waisenhaus war besonders. Die Familie Marx hat dieses Haus geführt genau wie eine Familie. Kein Kind hat gespürt, daß sie nicht ihre Eltern sind. Sie hatten eine Wohnung im zweiten Stock, die immer offen stand – alle Türen. […] Und wenn sich ein Kind nicht gut fühlte, ist es raufgelaufen und hat gerufen: ‚Onkel Marx!‘ oder ‚Tante Rosa!‘ Es hat erzählt, was los ist, wurde auf den Schoß genommen; und alles war in Ordnung.“ (Soden 1995: 74).

Isidor Marx
Isidor Marx
© Jüdisches Museum Frankfurt am Main. F93-0230
Rosa Marx
Rosa Marx, geb.Schwab
© Yadvashem

Das Ehepaar Isidor (geb. 28. Januar1886 in Bödigheim, Buchen bei Karlsruhe)  und Rosa Marx, geb. Schwab (geb. 26. Januar1888 in Randegg bei Karlsruhe), die Markus Stutzmann hier anspricht, waren seit 1918 im Haus. Sie wurden zu Lebensrettern vieler jüdischer Kinder. Um 1935 kamen immer mehr Kinder vom Land nach

Frankfurt, um die bedrückende Situation auf den Dörfern, wo Schulen und Heime bereits geschlossen waren, zu vermeiden. Von ca. 75 stieg die Anzahl der Kinder im Heim auf 150. Im Oktober 1938 sollten die polnischen Kinder des Hauses abgeschoben werden, was das Personal verhindern konnte, sie holten die Kinder, die bereits am Bahnhof waren, wieder ab. In der Pogromnacht im November wurden die Kinder „auf die Straße gesetzt“, in die Einrichtung drangen Polizei und SS-Leute ein und zerstörten sie teilweise, einige Personen des Personals wurden verhaftet (vgl. Krohn 2004: 141f.).

Isidor Marx beschreibt die Situation im Haus am Abend nach der „Kristallnacht“. Es kamen SS- und Gestapoleute, die sich „freundlich aber streng sachlich“ verhielten. Sie haben ihm klar gemacht, dass er gebraucht werde, um die Kinder, die nun vermehrt ins Heim kämen unterzubringen und, dass er, wenn er sich weigere unter Lebensgefahr stünde. Er erklärte sich bereit weiter für so viele Kinder zu sorgen: „Meine Herren, sagte ich, ich habe, mit Erlaubnis der Behörden in den Jahren seit 1934 schon viele Kinder ins Ausland verbracht, es kamen aber immer wieder viel mehr Kinder herein als ich zur Auswanderung bringen konnte. Ich habe aber sehr viele Freunde und Gönner im Ausland, wie Schweiz, Holland, Belgien, England, Frankreich und namentlich Palästina. Darf ich denen telegrafieren, telefonieren und sie um Aufnahme von Kindern bitten? Antwort: Ihre Telegramme und Telefone werden nicht zensiert werden. Die Telefon- und Telegraph-Rechnung des Waisenhauses für die nächste Nacht zeigte Hunderte von Mark an – mit Erfolg, daß während der Nacht und während der folgenden Tage viele Zusagen telefonisch, telegrafisch und schriftlich einliefen.“ (Krohn 1995: 25f.)

Einer, der daraufhin Unterstützung zusagen konnte war James Armand de Rotschild in England. Der Sohn der Frankfurterin Adelheid de Rotschild, die Mitstifterin des Waisenhauses war, konnte mit Hilfe der Palestine Jewish Colonisation Association (PICA) tätig werden. Die PICA war von James Armand de Rotschilds Vater Edmond de Rothschild gegründet worden, zur Entwicklung jüdischer Siedlungen und industrieller Projekte in Palästina (Krohn 1995: 26). Er sagte am 11. Dezember 1938, 35 PICA-Zertifikate, also Einwanderungsgenehmigungen, inklusive finanzieller Ausstattung, zu. Es war nicht einfach, Kinder, die wie die Waisenhauskinder orthodox lebten, im zionistischen Palästina unterzubringen, doch nachdem diese Schwierigkeiten gelöst waren, erfolgte die Einschiffung auf der „Galiläa“ am 19. April 1939. Auch Markus Stutzmann war bei den 35 Auswanderern, die im Jugenddorf Kfar Hanoar Hadati unterkamen. Dort gingen sie zur Schule und halfen in der Landwirtschaft. Ein Jahr später gelang es 16 Mädchen auszuwandern (vgl. Krohn 1995).

Das Ehepaar Marx konnte in den folgenden Jahren etwa 1.000 Kinder retten, Gruppe für Gruppe konnte ins Ausland geschafft werden (vgl. Karpf 2003b). Isidor Marx wurde seit 1939 von der Gestapo gesucht und blieb deshalb in Palästina, später konnte er nach England ausreisen. Seine Frau, übernahm die Leitung des Waisenhauses. Rosa Marx wurde nach 1942, gemeinsam mit anderen Frauen und den letzten verbliebenen Kindern nach Theresienstadt deportiert, sie hat den Holocaust nicht überlebt (S.F. 1994: 138f.).

Markus wird Abraham – die Suche nach den Spuren der Mutter beginnt

Stuzmann kam mit den anderen Kindern im März 1939 auf dem Schiff „Galiläa“ nach Palästina, wo das Jugenddorf Kfar Hanoar Hadati (Dorf der religiösen Jugend) die Kinder des Frankfurter Kindertransports aufnahm (Krohn 1995: 7).

Das 1936 gegründete Dorf in der Nähe von Haifa, war maßgeblich von Eugen Michaelis aus Hamburg initiiert worden. Er wurde 1938 der Dirktor der Gemeinschaft, welche die Absicht hatte als Kommune mit orthodox-religiöser Ausrichtung eine landwirtschaftliche Ausbildung zu bieten (Feldman 1962). Heute beherbergt das Dorf eine der bedeutendsten landwirtschafltichen Hochschulen Israels, welche immerwieder Kinder und Jugendliche, die durch die Jugend-Aliayh nach Israel kamen und kommen, ausbildet (Kfar HaNoar HaDati).

In Kfar Hanoar Hadat blieb er bis 1946. Von 1946 bis 1949 lebte er im Kibuz Darom (HHStA). Markus Stutzmann hieß inzwischen Abraham Bar Ezer. Zu der Namensänderung, die in Palästina üblich war, schreibt der Journalist Uri Avnery: „Die Namensänderung symbolisierte eine ideologische Grundhaltung.“ (Avnery 2013).

Die Akte „Amalie Stutzmann zur Entschädigung“ im Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden (HHStA) beginnt 1957. In dieser Zeit beginnt wohl auch die Suche von Abraham Bar Ezer nach den Spuren seiner Mutter. Wobei sein Wissen über seine Herkunft äußerst dürftig war, er selbst schreibt: „Ich bin ohne prägendes Erbe gekommen – ein Waise in jeder Hinsicht. Ohne Eltern, ohne Verwandte, ja sogar ohne irgeneinen blassen Schimmer über die Geschichte meiner Familie.“ (Bar Ezer o.J.: 3)

Die Auskünfte von Nachbarn in Israel, die Bar Ezer noch aus Frankfurt kannte, bestätigten das wenige Wissen das er bereits hatte. Die Informationen, die er im Lauf der Zeit erwarb, etwa durch die Geburtsurkunden von sich und seiner Mutter, durch Auskünfte der Ursprungsgemeinden im Elsass und auch Deportationslisten legte er in der Broschüre „Die Feuersäule“ nieder, die er im Selbstverlag für seine Kinder und deren Kinder herausgab. Heute lebt er im Kreis seiner großen Familie in Israel und ist sehr stolz auf seine mutige Mutter.

Amalie Stutzmanns Deportation nach Minsk

Amalie Stutzmann wechselte ihre Wohnung, vermutlich kurz nach der Abreise ihres Sohnes am 25. April 1939. Gemäß den Frankfurter Adressbüchern (1940 und 1941) lebte sie im Jahr 1939 sowohl im Sandweg 11 als auch in der Hanauer Landstr. 17, einem Haus, welches der Israelitischen Suppenküche gehörte. Auch 1940 ist sie dort noch verzeichnet. Ab Mai 1941 konnte sie nicht mehr im Rothschild’schen Hospital arbeiten, da dieses im Mai des Jahres zwangsweise geschlossen worden war. Laut des Zeugens Leo Frankenthal (HHStA), hat sie im Gagernkrankenhaus weitergearbeitet.

Mit Wirkung vom 23. Oktober 1941 war es Juden verboten den deutschen Machtbereich zu verlassen, ausgenommen im Rahmen der „Evakuierungsaktionen“ (Gottwald/Schulle 2005: 61). Amalie Stutzmann wurde dem 2. Frankfurter Judentransport nach Minsk zugeteilt. Dieser war zunächst für den 2. November 1941 geplant. Vermutlich erhoben Frankfurter Rüstungsbetriebe Einspruch gegen den Abzug jüdischer Zwangsarbeiter (vgl. Kingreen 1999: 362), so fand diese Deportation am 11./12. November 1941 statt. Der Zug mit der Nummer D53 transportierte 1.042 Personen (nach anderen Quellen 1.052 (Yadvashem)), meist Familien mit mehreren Kindern und einige wenige alte Personen. Warum Amalie Stutzmann zu diesem Personenkreis gehörte, wissen wir nicht.

Die Betroffenen waren erst drei Tage zuvor über die Abfahrt informiert worden, wohin sie gebracht werden sollten wurde ihnen nicht mitgeteilt (ebd.: 362-366). Eine Vermutung ist, dass ihnen erzählt worden war, dass sie nach Amerika und Palästina kommen sollten, eine Hoffnung an die sich einige klammerten (vgl. Chovalsky 1986: 228). Als Sammelplatz war die Großmarkthalle bestimmt worden. Bereits hier wurden sie hart behandelt. Kingreen zitiert den Interviewpartner Bernie Lane (früher: Werner Levi): „die ganze Nacht Untersuchungen, Schreie und Schikanen ohne Ende“ (Kingreen 1999: 363). Der Transport dauerte sechs Tage und führte über Berlin, Warschau, Bialystok, Wolkowysk, Baranowitschi nach Minsk in Weißrußland. Die Menschen hatten zu Essen, jedoch kein Wasser, viele Menschen starben. Vermutlich am 17. November erreichte der Zug das Ghetto in Minsk, einige Tage zuvor waren Transporte aus Hamburg und Düsseldorf angekommen (vgl. ebd. 363).

Das Minsker Ghetto war zunächst für weißrussische Juden eingerichtet worden. Es umfasste 40 Straßen, war etwa zwei Quadratkilometer groß und bestand aus kleinen Hütten und zweistöckigen Steinhäusern. Um Platz für die Juden aus dem „Reich“ zu schaffen ermordeteten Deutsche 6.624 der weißrussichen Juden im Ghetto. In den Hütten lagen „tote Leute […] tote Kinder mit zerschmetterten Köpfen, kleine Babys“ berichtet Bernie Lane (ebd.: 363).

Das Minsker Ghetto war unterteilt in einen südlichen und einen nördlichen Teil, getrennt durch die Republikanskaja-Straße und Drahtzäune. Im nördlichen Teil waren auch weiterhin weissrussische Juden, der südliche Teil umfasste auch das „Sonderghetto“, in welchem die „Reich and Protectorate Jews“ (Cholavsky 1986: 222) untergebracht waren.

Über die Ankfunft im Ghetto berichtet Bernie Lane weiter: Sie mussten nun zu Fuß vom Bahnhof durch das völlig zerstörte Minsk zum Ghetto, das auf der anderen Seite der Stadt lag, gehen, hin zum „Sonderghetto“. Bis Ende November 1941 waren 7.000 Juden dort einquartiert worden. Die späteren Transporte aus dem Westen, von Juni bis September 1942, wurden sofort nach Maly Trostinetz gebracht, dem Tötungslager (vgl. Cholavky 1986: 221), das sich ca. 11 km südöstlich von Minsk befand (Wieselberg 2011).

Übersichtskarte des Ghettos Minsk
Epstein, Barbara 2008: The Minsk Ghetto 1941-1943:
Jewish Resistance and Soviet Internationalism, University of California Press, Lizenzangaben: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Map_of_the_Minsk_Ghetto.jpg?uselang=de [12.06.2020]

Nach Bernie Lane wurden die Frankfurterinnen und Frankfurter in kleine Holzhütten eingewiesen, pro Hütte 13-15 Personen, zwei bis drei Zimmer. Zunächst mussten sie die Toten wegschaffen. Man musste sich einrichten, meist mit Sachen der Toten aus den eigenen oder anderen Hütten. Man schlief auf dem Boden oder auf Holzbänken. Einige hatten einen Ofen in ihrem Raum.

Die deportierten Ärzte wurden nicht als Mediziner eingesetzt (Cholansky 1986). Die wenigen, die im Ghetto als Ärzte arbeiteten, mussten z.B. mit Küchenmessern operieren und es fehlte an Medizin, Vitaminen oder Seife (Cholavsky 1986: 239).

Bernie Lane berichtet weiter, dass man arbeiten musste, die Männer z.B. bei der Ziegelherstellung, die Frauen auf dem Feld. Es kam immer wieder zu willkürlichen Erschießungen, Arbeitsgruppen kamen dann nicht mehr von der Feldarbeit zurück. Erschießungen fanden wegen geringster Vergehen statt oder es gab „Aktionen“ wie im Mai 1943, als Gestapomänner in den Krankensaal des kleinen Hospitals kamen und alle Anwesenden erschossen (vgl. Kingreen 1999: 364f.).

Ab 1942 fuhren immer wieder graue große Wagen vor, Gaswagen. In solchen wurden Bernie Lanes Mutter und viele seiner Freunde umgebracht. Im Juli 1942 gab es eine „Aktion“ bei der 9.000 Menschen ermordet wurden, die Frankfurter, die im „Sonderghetto“ lebten blieben verschont (vgl. Kingreen 1999).

Verschärfend kam für die deutschen Juden in Minsk die Überalterung hinzu, wodurch nur eine geringe Zahl der Menschen als arbeitsfähig eingestuft waren. Sprachlich und psychisch waren sie von der Umgebung isoliert, was ein erfolgreiche Flucht beinahe unmöglich machte (vgl. Gerlach 1999: 756).

Über die Frankfurter Gruppe, zu der Amalie Stutzmann gehörte, stellt die Historikerin Monica Kingreen Vermutungen zu den Überlebenschancen an. Sie vermutet, dass in den ersten Monaten etwa 100 an Krankheit, Hunger und Verzweiflung getorben sind. Mindestens weitere 100 Personen an Krankheit in der folgenden Zeit. Etwa 400 Menschen wurden bei sogenannten Aktionen im Ghetto getötet oder in Gaswagen weggebracht oder kamen von Arbeitskommandos nicht zurück, 270 Peronen wurden bei der Eliminierung des Ghettos getötet. 30 Männer im April 1943 in andere Lager abgeschoben, ebenso im September 1943 etwa 80 Männer und etwa 30 Frauen. Lediglich 9 Männer erlebten nach Kingreens Vermutungen die Befreiung 1945. Auch nach Schätzungen der Autoren Alfred Gottwald und Diana Schulle überlebten von dem Frankfurter Transport nur 10 Personen (Gottwald/Schulle 2005: 93).

Das Ghetto Minsk wurde am 21. Oktober 1943 aufgelöst. Die bis zu diesem Zeitpunkt verbliebenen etwa 2.000 Häfltinge wurden in Todes- oder Arbeitslager transportiert (Epstein 2008a: 108).

Es gab im Ghetto Minsk auch ein Jüdisches Hospital (vgl. Epstein 2008a), welches als Zentrum des Widerstands beschrieben wird. Scheinbar betraf dies jedoch die weißrussischen Juden. Ob hier auch deutsche Juden beschäftigt waren bleibt zu untersuchen.

Die Route des Zuges in welchem Amalie Stutzmann deportiert wurde und die entsprechende Deportationsliste kann in Yadvashem eingesehen werden (Yadvashem).

Seit 2002 arbeitet in Minsk die Geschichtswerkstatt, die eine Website unterhält (Geschichtswerkstatt Minsk). Sie befindet sich in einem „historischen Gebäude auf dem Gelände des ehemaligen Minsker Ghettos“.

Edgar Bönisch, Stand November 2021

Literatur

Unveröffentlichte Quellen

  • ISG Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, Signatur: Hausstandsbuch 186/742: Rhönstraße 47-55
  • HHStA Hessisches Hauptstaatsarchiv: Entschädigungsakte Amalie Stutzmann, Signatur: 47286

 

Ausgewählte Literatur

  • Andernacht, Dietrich/Sterling, Eleonore (Bearb.) 1963: Dokumente zur Geschichte der Frankfurter Juden 1933-1945. Frankfurt am Main
  • Bar Ezer, Abraham o.J.: Die Feuersäule. Zum Andenken an meine Mutter Amalie Stutzmann, Gott habe sie selig. Selbstverlag
  • Cholavsky, Shalom 1986: The German jews in the Minsk ghetto, in: Yad Vashem studies, 17, S. 219 – 245
  • Epstein, Barbara 2008a: The Minsk Ghetto, 1941-1943. Jewish Resistance and Soviet Internationalism, Berkely
  • Frankfurter Adreßbuch 1931, Frankfurt a.M.
  • Frankfurter Adreßbuch 1932, Frankfurt a.M.
  • Frankfurter Adreßbuch 1933, Frankfurt a.M.
  • Frankfurter Adreßbuch 1937, Frankfurt a.M.
  • Frankfurter Adreßbuch 1939, Frankfurt a.M.
  • Frankfurter Adreßbuch 1940, Frankfurt a.M.
  • Frankfurter Adreßbuch 1941, Frankfurt a.M.
  • Frankfurter Adreßbuch 1942, Frankfurt a.M.
  • Gerlach, Christian 1999: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941-1944. Institut für Sozialforschung. Hamburger Edition
  • Gottwald, Alfred/Schulle, Diana 2005: Die Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden
  • Hofacker, Karl 1932: Die Anstalten des Verbandes Frankfurter Krankenanstalten, Düsseldorf
  • Hofmann, Willy 1932: Die Stellung der jüdischen Weltanschauung zu Krankheit, Arzt und Medizin, Frankfurt am Main
  • Initiative Stolperstein Frankfurt am Main (Hg.) 2016: Stolpersteine in Frankfurt am Main. Band 1, zehn Rundänge. Frankfurt am Main
  • Kingreen, Monica 1999: Gewaltsam verschleppt aus Frankfurt. Die Deportationen der Juden in den Jahren 1941-1945, in: Monica Kingreen (Hg.) Nach der Kristallnacht. Jüdisches Leben und antijüdische Politik in Frankfurt am Main 1938-1945, Farnkfurt a. M., S. 357-402
  • Krohn, Helga 1995: Vor den Nazis gerettet. Eine Hilfsaktion für Frankfurter Kinder 1939/40. Frankfurt am Main und Sigmaringen
  • Krohn, Helga 2004: „Auf einem der luftigsten und freundlichsten Punkte der Stadt, auf dem Röderberge, sind die jüdischen Spitäler“, in: Jüdisches Museum Frankfurt am Main 2004, 2. Auflage: Ostend. Blick in ein jüdisches Viertel, Frankfurt am Main
  • RothHospStatut 1878: Statuten für die Georgine Sara v. Rothschild´sche Stiftung für erkrankte fremde Israeliten in Frankfurt a.M., Frankfurt a.M. 1878
  • RothHospHausordnung 1878: Hausordnung für die Georgine Sara v. Rothschild´sche Stiftung für erkrankte fremde Israeliten in Frankfurt a.M., Frankfurt a.M.
  • Schiebler, Gerhard 1994: Stiftungen, Schenkungen, Organisationen und Vereine mit Kurzbiographien jüdischer Bürger, in: Arno Lustiger (Hg.) 1994: Jüdische Stiftungen in Frankfurt am Main. Sigmaringen
  • S.F. 1994: Am 1. April 1933, dem Boykottsamstag, wurde ich angefallen und geschlagen, in: Benjamin Ortmeyer (Hg.): Berichte gegen Vergessen und Verdrängen. Von 100 überlebenden jüdischen Schülerinnen und Schülern über die NS-Zeit in Frankfurt am Main, Wehle
  • Soden, Kristine von 1995: „Und dann kamen keine Briefe mehr“, in: Helga Krohn: Vor den Nazis gerettet. Eine Hilfsaktion für Frankfurter Kinder 1939/40, Sigmaringen, S. 59-82
  • Stern, Baruch 1932: 50 Jahre Israelitische Volksschule Frankfurt am Main. Frankfurt am Main

Internetquellen

  • Adressbuch Darmstadt 1927:
    http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/Zs-4159-1927/0045?sid=f10e5a1101c33382041858c77f05e9de (24.5.18)
  • Avnery, Uri 2013:
    http://www.lebenshaus-alb.de/magazin/008225.html (10.05.2018)
  • Epstein, Barbara 2008b:
    https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Map_of_the_Minsk_Ghetto.jpg (22.06.18)
  • Feldman, Frederique 1962: Avraham Eugen Michaelis (1907 – 1974), in: Youth Aliyah Review, London, Autumn Issue, 1962, http://www.kfarnoar.org/pages/family/family_EugenE.php (22.06.18)
  • Geschichtswerkstatt Minsk
    http://gwminsk.com/de (22.06.18)
  • Initiative 9. November:
    http://www.initiative-neunter-november.de/veranstaltungen.html (25.4.18)
  • Jüdische-Pflegegeschichte: Stutzmann, Amalie
    https://www.juedische-pflegegeschichte.de/recherche/?dataId=168715235052813&opener=318090800447749&id=131724555879435 (21.06.18)
  • Karpf, Ernst 2003a:
    Die Jüdische Gemeinde nach dem Novemberpogrom 1938 bis zur ihrer Auflösung 1942, http://www.ffmhist.de/ffm33-45/portal01/portal01.php?ziel=t_jm_gemeinde_ab_1938 (23.01.2018)
  • Karpf, Ernst 2003b:
    Kinderauswanderung und Kindertransporte, http://www.ffmhist.de/ (28.Juni 2017)
  • Kfar HaNoar HaDati:
    (https://en.wikipedia.org/wiki/Kfar_HaNoar_HaDati)
  • Marx, Isidor:
    https://www.geni.com/people/Isidore-Marx/4468231371310054754 (28.06.17)
  • Marx, Rosa:
    https://www.geni.com/people/Rosa-Marx/4468231406240012635 (28.06.17)
  • Meyers Großes Konversations-Lexikon Band 5, Leipzig 1906, S. 830: http://www.zeno.org/Meyers-1905/A/Entbindungsanstalten (31.5.18)
  • Seemann, Birgit 2014: Das Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung (1870 – 1941) Teil 1: eine Klinik unter orthodox-jüdischer Leitung, https://www.juedische-pflegegeschichte.de/das-hospital-der-georgine-sara-von-rothschildschen-stiftung-1870-1941-teil-1/ (27.04.18)
  • Seemann, Birgit 2016 [2014]: Das Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung (1870 – 1941) Teil 2: Standort Röderbergweg, https://www.juedische-pflegegeschichte.de/das-hospital-der-georgine-sara-von-rothschildschen-stiftung-1870-1941-teil-2/ (27.04.18)
  • Seemann, Birgit 2018: Das Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung (1870 – 1941) Teil 3: der Umbau 1931/32 und sein Architekt Fritz Nathan, https://www.juedische-pflegegeschichte.de/das-hospital-der-georgine-sara-von-rothschildschen-stiftung-1870-1941-teil-3/ (21.06.18)
  • Stadt Frankfurt: Stutzmann, Amalie
    https://www.frankfurt.de/sixcms/detail.php?id=2509335&_ffmpar[_id_inhalt]=9482131 (25.4.18)
  • Werner, Claudia: Die erste Geburtsklinik in Hamburg – ein Wunder, in: Hamburger Abendblatt 10.3.17, https://www.abendblatt.de/hamburg/hamburg-nord/article209889541/Die-erste-Geburtsklinik-in-Hamburg-ein-Wunder.html (21.06.18)
  • Wieselberg, Lukas 2011: Maly Trostinec: Das unbekannte Nazi-Todeslager
    http://sciencev2.orf.at/stories/1691097/index.html
  • Yadvashem: Statistik und Deportation der jüdischen Bevölkerung aus dem Deutschen Reich:
    http://db.yadvashem.org/deportation/transportDetails.html?language=de&itemId=9437934 (22.06.18)
Frankfurt, Thiergarten, 1895

Die Schwesternschülerinnen des Frankfurter Vereins, 1893-1902

Zeit und Ort, eine Einordnung

Zu der Gruppe der Gründerinnen des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main zählten:

Minna Hirsch, geboren am 01.12.1860,

Frieda Brüll, geboren am 27.07.1866,

Klara Gordon, geboren am 20.11.1866,

Lisette Hess, geboren am 13.07.1867.

Thekla Mandel, geboren am 22.07.1867.

Alle erhielten ihre Ausbildung vor 1893. In diesem Artikel wird das Leben der Krankenschwesternschülerinnen von 1893, der Vereinsgründung, bis zum Jahr 1902, dem Umzugsjahr der Pflegerinnen in ein neu erbautes Schwesternheim neben dem Hospital der Israelitischen Gemeinde in der Königswarterstraße 20, betrachtet.

Um von einer Schülerinnengeneration zu sprechen, und das möchte ich hier, folge ich dem Soziologen Heinz Bude:

„Geburtskohorten bilden noch keine Generation, es kommt vielmehr auf die mögliche Bezugnahme auf ein gemeinsames Präge- und Wirkungserlebnis an, aus dem sich die Evidenz einer Gemeinsamkeit trotz des Unterschieds von Herkunft, Religion oder ethnischer Zugehörigkeit ergibt.“ (Bude 2000: 188)

Dieses „gemeinsame Präge- und Wirkungserlebnis“ der Krankenpflegeschülerinnen und späteren Krankenpflegerinnen, die hier vorgestellt werden, ist das gemeinsame Erleben einer bestimmten Zeitepoche, das Leben in einer gemeinsamen räumlichen Umgebung, die Zugehörigkeit zum Verein für jüdische Krankenpflegerinnen und die Ausübung des gleichen Berufs.

Die Epoche

Um das Leben in der damaligen Zeit zu beschreiben und sich damit dem Selbstverständnis der Krankenpflegerinnen und Schülerinnen zu nähern, beschreibe ich im Folgenden die Politik der Zeit, die Wirtschaft, den Antisemitismus, den Stand des medizinischen Wissens, den Beruf der Krankenschwester zu dieser Zeit, spezieller, den Beruf der jüdischen Krankenschwester.

Die Politik um 1900

Die Situation der Frankfurter Juden
Für die jüdische Bevölkerung Frankfurts entfiel 1812 der Ghettozwang. 1853 konnte man von weitgehenden staatsbürgerlichen und politischen Rechten für die Juden sprechen, besonders beeinflusst durch eine Reform des Wahlrechts. 1864 kamen die Gewerbefreiheit und die völlige Gleichstellung der Juden hinzu.

In der Diskussion um den Erhalt traditioneller Werte im Judentum trennte sich die Frankfurter jüdische Gemeinde um die Mitte des 19. Jahrhunderts in eine orthodoxe Israelitische Religionsgesellschaft und die Israelitische Gemeinde Frankfurts mit einem konservativen und einem liberalen Flügel.

1885 wurden die meisten Häuser der Judengasse, dem ehemaligen Judenghetto, abgerissen und die Gasse in Börnestraße umbenannt.

Das Deutsche Reich

The Kaiser an the Kaiserin 1898
Abbildung: Kaiserin Auguste Victoria und Kaiser Wilhelm II, 1898
© https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/5e/The_Kaiser_and_the_Kaiserin%2C_1898.jpg

Ab 1871, nach dem erfolgreichen Krieg der Deutschen gegen Frankreich und der deutschen Reichsgründung änderte sich Vieles grundlegend. Die Industrialisierung nahm stark zu, die Unterschiede zwischen Arbeitern und Bürgertum wuchsen, die Armut stieg an. 1875 entstand aus dem Proletariat heraus die sozialistische Arbeiterpartei. Otto von Bismarck, der Reichskanzler von 1871 bis 1890, erließ Sozialgesetze, wenn auch vor allem, um aufkommenden Protest aus dem Proletariat zu beruhigen. So beschnitt einerseits das Sozialistengesetz von 1878 zunächst die Rechte der sozialdemokratischen und sozialistischen Vereine. Andererseits wurden soziale Zugeständnisse gemacht, durch so fundamentale Änderungen wie der Einführung der Krankenversicherung 1883, der Unfallversicherung 1889, der Invaliditäts- und Altersversicherung und der Rentenversicherung 1891 (vgl. kaiserreich-bismarcks-sozialgesetzgebung).

Im Dreikaiserjahr 1888 starb zunächst Wilhelm I., der bereits bei der Thronbesteigung sterbenskranke Sohn Friedrich II wurde nach dessen Tod von Wilhelm II beerbt. Wilhelm II. wollte „König der Bettler“ sein, er forderte das Verbot von Sonntagsarbeit, das Verbot von Nachtarbeit für Frauen und Kinder und das Verbot von Frauenarbeit während der letzten Schwangerschaftsmonate. Zumindest die Einschränkung von Arbeit für Kinder unter vierzehn Jahren bezeichnete Bismarck als „Humanitätsduselei“, er wurde 1890 als Kanzler entlassen (vgl. kaiserreich-bismarcks-sozialgesetzgebung).

Wilhelm II. wollte allerdings auch wieder mehr persönliche Macht, unabhängig von Reichskanzler und Regierung, womit er allerdings immer wieder mit den Bestimmungen der Verfassung in Konflikt kam, etwa bei dem Versuch Ausnahmegesetze gegen die Sozialdemokratie durchzusetzen. Auch außenpolitisch war er offensichtlich ungeschickt, in der Daily-Telegraph-Affäre von 1908/09 stiftete er Verwirrung, indem er die deutsche Außenpolitik in mehrfacher Hinsicht bloßstellte, die Briten fanden Wilhelm anmaßend, die Franzosen und Russen taktlos (vgl. daily-telegraph-affaire). Als Ergebnis war Reichskanzler von Bülows Position gefestigt und Wilhelm lenkte auf eine verfassungsgemäße Linie ein (vgl. obrigkeitsstaat-und-basisdemokratisierung).

Wirtschaft

(vgl. Geschichte_Deutschlands)

Internationale "Elektrotechnische Ausstellung" 1891
„Die internationale ‚Elektrotechnische Ausstellung’ auf dem Gelände vor dem Hauptbahnhof im Jahr 1891 galt als technische Sensation: 1,2 Millionen Besucher wurden gezählt“ (FNP 24.9.2018)
Abbildung: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:IEAFrankfurt1891a.jpg

Die Zeit ab ca. 1890 wird heute als erstes deutsches Wirtschaftswunder bezeichnet. Mit ihren Stärken in der Großchemie, Elektrotechnik und beim Maschinenbau stand das Deutsche Reich 1913 in der Weltindustrieproduktion an zweiter Stelle hinter den USA, im Welthandel ebenfalls auf dem zweiten Platz hinter Großbritannien. Für viele Menschen, besonders in der Industriearbeit besserten sich dadurch die Lebensverhältnisse und die Gründung von Gewerkschaften war eine Folge. Immer schwerer hatten es die Menschen, die ihr Geld in häuslicher Arbeit oder im traditionellen Handwerk verdienten

Antisemitismus

(vgl. Etablierung_im_Kaiserreich)

Durch Schuldzuweisungen an die Juden in der Wirtschaftskrise von 1873 und der darauffolgenden Pleitewelle bei Geschäften und Unternehmen, wurde der Antisemitismus geschürt. Wilhelm Marr gründete 1879 die „Antisemitenliga“ und Max Liebermann von Sonneberg und Bernhard Förster gründeten 1881 den antisemitischen Deutschen Volksverein (vgl. antisemitische-parteien). Den „Rassegedanken“ förderten z. B. 1890 Paul de Lagarde mit seiner Publikation „Deutsche Schriften“, er trat für die Einheit von „Rasse und Religion“ ein. 1899 sprach Houston Stewart Chamberlain, der Schwiegersohn von Richard Wagner, von der „germanischen“ bzw. der „arischen Rasse“. Die antisemitischen Parteien gewannen 1893, mit 2,9 % der Stimmen, 16 Mandate im deutschen Reichstag.

Medizinische Entwicklung

(vgl. zeittafel_daten_zur_geschichte_der_medizin und Zeittafel_medizinischer_Fortschritte)

Die Schwesternschülerinnen der Ausbildungsjahrgänge 1893 bis 1902 kamen in ein Berufsfeld, das von enormen medizinischen Entdeckungen und Neuerungen im 19. Jahrhundert geprägt war.

Hinweis: Die Tabelle wird aktuell überarbeitet

Gemeinsam mit der Medizin entwickelten sich die Krankenhäuser und damit die Pflege. Die Pflegehistorikerin Eva-Maria Ulmer schreibt, dass das alte Hospital sich „von einer Aufbewahrungsstätte für mittellose Kranke, Alte und Gebrechliche zu einem medizinischen Zentrum, in dem nur noch Kranke sein sollten“ entwickelte (vgl. der-beginn-der-beruflich-ausgeuebten-pflege). Weiter führt sie an, dass durch diese Veränderung auch begüterte Gesellschaftsgruppen in die Krankenhäuser kamen, und die Ärzte entdeckten das Krankenhaus für sich als einen Ort der Forschung und Lehre (vgl. ebd.). Die Medizin definierte sich nun als Naturwissenschaft, die Pflegehistorikerin Hilde Steppe beschreibt: Nachdem man lange, im Mittelalter, Mensch, Welt, Leib und Natur als verschieden, jedoch nicht erforschbare Objekte gesehen habe und Krankheit als Strafe Gottes verstanden habe, habe man in der Renaissance begonnen den Körper zu untersuchen. Natur und Körper würden nun getrennt gesehen, wissenschaftlich-rationale Erklärungsmodelle seien nun von Gesundheit und Krankheit entwickelt worden: „Gesundheit wird in diesem Kontext bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu einem bürgerlichen Ideal, welches individuell zu verantworten, staatlicherseits zu unterstützen und durch wissenschaftlich qualifizierte Experten zu kontrollieren ist.“ (Steppe 1997: 43)

Die Entwicklung in Medizin, Pflege und Krankenhauswesen wurden gefördert, so Steppe, da, durch die industrielle Revolution die Gesundheit der arbeitsfähigen Bevölkerung eine besondere Bedeutung erhalten hatte (vgl. ebd.). Innerhalb des Gesundheitswesens manifestierten weiterhin die Männer ihre Vorherrschaft. Frauen waren zuständig für die Hilfsdienste, das Medizinstudium war ihnen lange verwehrt. Es sollten, so Ulmer, „nicht mehr nur religiös gebundene Schwestern oder Wartepersonal, proletarische, nicht ausgebildete Frauen und Männer, sondern gebildete Frauen, die die notwendige Betreuung während der Abwesenheit der Ärzte sicherstellen konnten“ den Pflegeberuf ergreifen.

Professionalisierung des Krankenschwesternberufs

(Vgl. der-beginn-der-beruflich-ausgeuebten-pflege)

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kann man die Pflegeverbände grob in vier Gruppen einteilen. Die katholischen Ordenspflege, aus Frankreich kommend. Die evangelische Diakonissenpflege, die sich 1936 in Kaiserswerth unter Theodor Fliedner in einer Diakonissenanstalt etablierten. Die dritte große Gruppe war die Schwesternschaft des Roten Kreuzes und viertens die frei arbeitenden Schwestern. In Zahlen heißt das:

 18761898
Gesamtzahl:8.68126.427
In katholischen
Mütterhäusern
5.76312.427
In evangelischen
Mütterhäusern
1.7607.576
Andere5253.613
Freie Schwestern6552.398

Quelle: Jutta Helmerichs (Helmerichs 1992)

Zur Ausprägung der Lerninhalte des Pflegepersonals berichtet Ulmer: So seien es nicht die Krankenschwestern, die die Inhalte ihrer Berufsausbildung formten. Es seien in erster Linie gut ausgebildete Frauen, die die Ärzte vertreten konnten, wenn diese nicht am Krankenbett stünden, gegangen. Auch nach der nochmaligen Steigerung der Patientenzahlen in Folge der Einführung des Krankenversicherungsgesetztes wurde die Forderung nach Krankenpflegeausbildung lauter, die unabhängig von den Orden bestimmt wurde und den Einbezug der Erkenntnisse der Medizin forderte. Auch aus der Frauenbewegung kamen Forderungen nach einer professionellen Ausbildung, einer angemessenen Bezahlung und einer Ausbildung, die spezielle Kenntnisse und Fertigkeiten vermitteln sollte. Das Krankenpflegegesetz von 1907 regelte dann die Ausbildung der Krankenpflegerinnen und sah einen staatlichen Abschluss vor. Davor wurden die variierenden Ausbildungsinhalte von den unterschiedlichen Mutterhäusern festgelegt (vgl. der-beginn-der-beruflich-ausgeuebten-pflege)

Um die Anforderungen an das Pflegepersonal zu erfüllen nahm die Professionalisierung des Krankenschwesternberufs, auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zu.

Die jüdische Krankenpflege

„Rosalie Jüttner aus Posen war 1881 vermutlich die erste Pflegerin, die an einem jüdischen Krankenhaus in Deutschland ausgebildet wurde“ (Seemann / Bönisch 2011, 51-74). Dr. Simon Kirchheim und sein Assistenzarzt Dr. Theophil Jaffé unterrichteten sie etwa ein Jahr lang am Hospital der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main. Im Abschlusszeugnis hieß es: „Dieselbe hat während dieser Zeit […] tief in allen Zweigen der Krankenpflege sowie in kleinen chirurgischen Verrichtungen und leichteren Verbänden sich zu unterrichten genügend Gelegenheit gehabt […] und selbständig die Krankenpflege einer Abteilung zum Schluß geleitet.“ Danach arbeitete Rosalie Jüttner in der Privatpflege, vermutlich in Posen, da ihre Ausbildung von der jüdischen Gemeinde in Posen angefordert worden war (vgl. Verein für jüdischen Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1902).

In den folgenden Jahren diskutierten die jüdischen Gemeinden deutschlandweit über die Notwendigkeit eine eigene berufliche Krankenpflege zu etablieren. Federführend war deren 1872 konstituierter Dachverband, der Deutsch-Israelitische Gemeindebund (DIGB). Der DIGB förderte die Diskussion durch die Anforderung von Gutachten: So schrieb Dr. E. Stern aus Berlin, dass er in der Stadt keinen Bedarf für eine eigene jüdische Pflege sähe, da die dortigen nichtjüdischen Institutionen ausreichten und weibliche jüdische Gemeindemitglieder sich ehrenamtlich um die Kranken kümmerten; anders sei jedoch die Lage in ländlichen Gebieten. Bedenken äußerte er bezüglich klosterähnlicher Einrichtungen nach dem christlichen Mutterhausmodell, da „der unbedingte Gehorsam gegen die Kirche und ihre sichtbaren großen und kleinen Führer […]“ (zit. n. Steppe 1997: 92). dem Judentum nicht entspräche. Eine Umfrage unter den jüdischen Gemeinden ergab ein geteiltes Stimmungsbild: Die Gegner einer beruflichen Krankenpflege sahen den Aufgabenbereich der Frau in Ehe und Familie und betonten die heilige und deshalb ehrenamtlich zu erfüllende Pflicht des Krankenbesuchs. Trotz der Kontroversen beschloss der DIGB 1882 die „Förderung des jüdischen Krankenpflegewesens“ und verabschiedete 1883 einen Organisationsplan zur finanziellen Unterstützung (z. B. Übernahme der Ausbildungskosten) künftiger jüdischer Krankenpflegerinnen. Die erste Liste interessierter Kandidatinnen umfasste neun Namen.

Ein wichtiges Argument für die berufsmäßige jüdische Pflege sah man darin: „Das Judentum [zu] repräsentieren und Anerkennung durch das deutsche Bürgertum [zu] erwerben“ (Steppe 1997: 306). Damit dieses Ziel erreicht werden konnte, sollten „Jüdische Krankenschwestern [ … ] die Besten sein, mit den neuesten medizinischen Wissensstand, mit persönlich untadeligem Verhalten, mit ständiger Bereitschaft zum Einsatz und ständiger Verkörperung positiver jüdischer Normen“ (ebd.).

Die gemeinsame räumliche Umgebung der
Krankenpflegerinnen des Vereins

Die Lebensform „Mutterhaus“

Im Rahmen der Professionalisierung der jüdischen Krankenpflege wurde über die Unterbringung von Schwestern in Mutterhäusern diskutiert. Mit dieser Form einer Lebensgemeinschaft waren vor allem die evangelischen Diakonissenhäuser gemeint, die, nach der Idee Theodor Fliedners, seit 1836 mit der Gründung der Diakonissenanstalt in Kaiserswerth, entstanden. „Fliedner übernahm Teile des katholischen Modells, die Abgeschiedenheit und die karitativ-christliche Auffassung der Krankenpflege. Andererseits springt die Orientierung am bürgerlichen Modell der Familie ins Auge, der Theologe und die Oberin an der Spitze, darunter die „Kinder“ (Diakonissen), für die gesorgt wird, alle in einem Haus. Dieses als Mutterhaus beschriebene System ist eine typisch deutsche Entwicklung, in der persönliche Unfreiheit mit sozialer Absicherung verbunden war […]. Auch die jüdischen Krankenpflegevereine organisierten sich als Mutterhäuser“ (der-beginn-der beruflich-ausgeuebten-pflege), wenn auch weit mehr „weltlicher“ an der Rechtsform des Vereins orientiert (vgl. Steppe 1997: 251).

Das „Häuschen“

Neben dem alten Hospital der Israeltischen Gemeinde in der Königswarterstraße mietete 1893 der neu gegründete Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt e. V. „eine erste Unterkunft, das ,Häuschen‘“ (Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1920: 19). Die Adresse war Am Thiergarten. Die Straße Am Thiergarten führte damals um den Zoo herum, ein kleiner Teil berührte auch die Fläche des Grundstücks um das Hospital (vgl. Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1898: 4). Im Lauf der Zeit nannten die Bewohnerinnen es das „Häuschen“. Im Jahresbericht des Vereins für 1897 lassen sich die Lebensbedingungen im Vereinshaus nachlesen: Eine Lernschwester, die sich verpflichtete, nach Vollendung der Ausbildungszeit mindestens weitere drei Jahre dem Verein anzugehören, wird „unter die Vereinsschwestern aufgenommen, erhält völlig freie Station (Wohnung, Kost, Heizung, Beleuchtung, Dienstkleidung, Wäsche) im Vereinshause und in den ersten zwei Jahren 360 Mk. jährliches Gehalt, das von da ab alle zwei Jahre um 60 Mk. bis zum Höchstgehalt von 600 Mk. steigt. Dienstunfähig gewordene Pflegerinnen erhalten eine angemessene Pension“ (Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1897: 449). In dem zitierten Rechenschaftsbericht von 1897 wurde auch darauf hingewiesen, dass das angemietete Schwesternhaus nicht mehr ausreiche, und man rief zu Spenden für ein neues eigenes Haus auf.

Frankfurt, Thiergarten, 1895
Abbildung: Stadtkarte Frankfurt am Main 1895
© Stadtvermessungsamt

1898 verließen die Schwestern die bisher vom israelitischen Gemeindehospital überlassene Wohnung „Am Thiergarten“ und bezogen vorübergehend ein provisorisches Heim in der „Unteren Atzemer 16“ (vgl. Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1899: 4).

Untere Atzemer 16

1898 zogen die Krankenschwestern in die Untere Atzemer 16, zwei Querstraßen entfernt vom Israelitischen Gemeindehospital. Heute ist vom Haus bekannt, dass zuvor von 1888 bis 1897 in dem Haus der Maler Gustav Ballin mit seiner Familie lebte (vgl. Frankfurter Adressbücher).

Schräg gegenüber stand das 1881/82 erbaute Bruderhaus der Barmherzigen Brüder, deren Krankenhaus an diesem Ort wohl noch bis weit in das 20. Jahrhundert genutzt wurde (vgl. https://www.frankfurt-lese.de/index.php?article_id=323).

Das Haus 16 befand sich dort, wo heute Betriebsflächen des Frankfurter Zoos untergebracht sind.

Karte Untere Atzemer
Abbildung: Untere Atzemer
© Institut für Stadtgeschichte/Stadtvermessungsamt. Stadtgrundkarte 1902

Das neue Gebäude in der Königswarterstraße 20

1899 wurde ein Grundstück neben dem Königswarter Hospital angekauft. Nach einem Ausschreibungsverfahren erhielt der Architekt Max Seckbach den Zuschlag für einen Neubau des Schwesternhauses (vgl. Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1900: 4) 1902 schließlich zogen die Schwestern in das neue Gebäude in der Königswarterstraße 20 um (Vgl. Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1899: 4). Über die Architektur, die Inneneinrichtung und vor allem das Leben in diesen ersten Schwesterhäusern wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt recht wenig. Viel mehr Informationen haben wir über das Schwesternhaus, welches 1914 in der Bornheimer Landwehr  85 neu eröffnet wurde.

Königswarterstr. 1902
Abbildung: Das neue Schwesternhaus in der Königswarterstraße 20
© Institut für Stadtgeschichte/Stadtvermessungsamt. Stadtgrundkarte 1902

Die Schwestern im Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main und ihre Ausbildungsstätte

Der Verein

Die Ärzte Simon Kirchheim und Alfred Günzburg und – vor allem der Bankier Meier Schwarzschild –  planten 1893 die Gründung eines Vereins zur Förderung der jüdischen Krankenpflege. Ebenso begannen die zwischen 1889 und 1893 ausgebildeten Krankenschwestern Minna Hirsch, Frieda Brüll, Klara Gordon, Lisette Hess und Thekla Mandel sich zu organisieren, sie bildeten den „Verband jüdischer Krankenpflegerinnen“. Beide Initiativen zusammen gründeten am 23.10.1893 den „Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main“. Zur Oberin war bereits Minna Hirsch gewählt worden.

Die Pflegewissenschaftlerin Hilde Steppe bezieht sich in den folgenden Angaben auf die Satzung und Bestimmungen des Vereins von 1893 und, da diese nicht vollständig erhalten sind, von 1900 (vgl. Steppe 1997: 202f.). Erreichen wollte man mit dem Verein, dass jüdische Mädchen eine Ausbildung zur Krankeschwestern bekamen und, dass ausgebildete jüdische Krankenschwestern für die bezahlte Privatpflege und die kostenlose Armenpflege für Patienten aller Konfessionen zur Verfügung standen (Steppe 1997: 202, dort vgl.: Verein zur Ausbildung jüdischer Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main, Populärwissenschaftliche Monatsblätter 13/1893 Nr. 11, S. 248-250).

Jeder und jede konnte Mitglied werden und auch den Vereinsbeitrag selbst bestimmen (vgl. ebd.). Der Vorstand, unter Vorsitz von Dr. Simon Kirchheim, setzte sich aus neun Männern (mindestens zwei Ärzten) zusammen, alle sollten in Frankfurt ihren Wohnsitz haben. Dem Vorstand war es vorbehalten über die Zulassung von Bewerberinnen zu bestimmten, die Hausordnung festzulegen, wie auch Bestimmungen zum Dienstablauf, zur Pension und zu den Gehältern oder auch die Bestimmung der Oberin. Sämtliche Bezahlungen von Dienstleistungen gingen direkt an den Verein, es gab also keinen Arbeitsvertrag, sondern die Schwestern und Schülerinnen unterschrieben die Einwilligung in die Bestimmungen des Vorstands (vgl. ebd.).

Zu den Aufnahmebestimmungen zur Ausbildung gehörten (vgl. ebd.): Die Schwesternschülerinnen sollten Angehörige der jüdischen Konfession sein, zwischen 21 und 36 Jahren alt sein, einen tadellosen Ruf haben, gesund und arbeitsfähig sein, sie sollten mindestens Elementarschulkenntnisse haben und Erfahrung in Hausarbeit.

Die Ausbildung selbst (ein Jahr lang) fand in Frankfurt oder Köln statt (Stand 1893). Gehorsam gegenüber Vorgesetzten und Achtung der Hausordnung waren Bedingungen. Es gab eine Probezeit von drei Monaten, die Kündigungsfrist war für die Schülerinnen zwei Wochen. Während der Ausbildung erhielten die Schülerinnen freie Kost und Logis, plus 10 RM im Monat als Taschengeld.

Es gab eine Abschlussprüfung (hausintern) inklusive einer Gesundheitsprüfung, die zum Eintritt in die Schwesternschaft berechtigte. Nach drei verpflichtenden Jahren erhielten die Schwestern letztlich ihr Diplom und wurden dann Mitglied im Verein. Die Möglichkeit nach den religiösen Vorschriften zu leben, auch in der Privatpflege, wurde ihnen zugesichert (z.B. arbeitsfreier Sabbat). Sie brauchten nicht mehr als zwei Nachtwachen hintereinander zu leisten, gerade in der Privatpflege wurden ihnen für jeden Tag ein bis zwei Stunden Spaziergänge außer Haus zugesagt.

Weiter fasst Steppe zusammen (vgl. Steppe 1997: 204 ff.): Am Ende des ersten Vereinsjahres (1893) beherbergt der Verein 10 ausgebildete Krankenschwestern. Davon sechs, die vor der Vereinsgründung ausgebildet wurden. Von den 10 waren drei in Frankfurt und eine in Köln im Asyl für Kranke und Altersschwache. Eine Schwester war zu dieser Zeit krank, somit konnten fünf Schwestern den Dienst als Privatpflegerinnen anbieten, was von Patienten aller Konfessionen angenommen wurde. Darüber hinaus waren drei Schülerinnen in Frankfurt zur Ausbildung, Ausbilder war Dr. Deutsch und weitere drei waren in Köln in der Betreuung von Dr. Auerbach.

Eine Bilanz des ersten Jahres fiel sehr positiv aus. Der Verein hatte bereits 662 Mitglieder und die Spendenbereitschaft für den Verein und seine Pensionskasse war groß. Die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen war stark, z. B. bewarben sich im zweiten Jahr 23 Frauen, von denen allerdings nur vier genommen werden konnten. Anfragen kamen auch aus den Niederlanden und Dänemark. Bereits im ersten Jahr konnte eine kostenlose Armenschwester zur Verfügung gestellt werden. Angefordert durch praktische Ärzte, kümmerten sie sich neben der Krankenpflege auch um Lebensmittel Wäsche oder Geld. Dies entsprach der traditionellen jüdischen Wohltätigkeit.

Sowohl im ersten als auch im zweiten Jahr starben je eine junge Krankenschwester, die eine, Hedwig Kerb, an Hirnhautentzündung, die andere, Rosa Salinger, an einer schweren Infektion (vgl. Steppe 1997: 204, 205).

1898 kam eine Kooperation mit dem Israelitischen Krankenhaus in Hamburg hinzu. Die Frankfurter Vereinsschwester Klara Gordon wurde Oberin in Hamburg.

Das Hospital der Israelitischen Gemeinde

Die Wohnorte der Schwestern und Schwesternschülerinnen waren direkt an ihre Ausbildungs- und Arbeitsstätte angebunden, dem Hospital der Israelitischen Gemeinde in der Königswarterstraße 26, die zur Bauzeit noch Grüner Weg hieß (vgl. Beschreibung der am 27. Juni 1875 stattgefundenen Feierlichkeiten…).

Zu den, bis Mitte des 19. Jahrhunderts, insgesamt in Frankfurt am Main bestehenden Krankeneinrichtungen kamen bis 1888 weitere 11 Krankenhäuser hinzu (vgl. Steppe 1997: 182). Beispielsweise: ein Haus der evangelischen Diakonissen 1870, die Diakonissinnen der Methodisten führen seit 1876 das Bethanien-Krankenhaus, Barmherzige Brüder eröffneten 1882 ein Hospiz, Barmherzige Schwestern ebenfalls 1882 oder das St. Elisabethenkrankenhaus in Bockenheim. Bei der Gründung eines Hospitals der Israelitischen Gemeinde war besonders Sanitätsrat Dr. Heinrich Schwarzschild hervorzuheben, sein Wunsch war es, das veraltete Medizinwesen und Pflegewesen zu ergänzen bzw. abzulösen (vgl. Chronik Hospital der Israelitischen Gemeinde).

So kam es zur Errichtung des Hospitals der Israelitischen Gemeinde 1875, gefördert durch das Stifterehepaar Elisabeth und Isaac Königswarter, zu deren Ehren der Grüne Weg in Königswarterstraße umbenannt wurde.

Zu Beginn war das Hospital für 80 Betten geplant und sollte, gemäß den medizinischen Entwicklungen, angepasst werden können (vgl. Steppe 1997: 197). Entsprechend der 1886 neu gefassten Hospitalordnung war das Krankenhaus vorgesehen für Frankfurter Gemeindemitglieder und deren Dienstboten, wie auch für anderen in Frankfurt wohnende Israeliten und auf Reisen befindlichen Personen und für Personen, die durch die städtischen Behörden eingewiesen wurden (vgl. ebd.).

Das Personal bestand zunächst aus angelernten Wärterinnen und Wärtern. Sowohl Verwaltung (Abraham Seckbach) als auch der ärztliche Leiter (Dr. Simon Kirchheim) befürworteten Reformen, so dass 1881 Rosalie Jüttner aus Posen die vermutlich erste in einem jüdischen Krankenhaus ausgebildete Krankenschwester war. Dr. Kirchheim und sein Assistent Dr. Theophil Jaffé waren die Ausbilder.

Die um das Thema der Notwendigkeit einer eigenständigen jüdischen Krankenpflege entstandene Debatte wurde bereits im Kapitel „Die jüdische Krankenpflege“ weiter oben angesprochen.

Im Königswarter Hospital erhielten auch die Krankenschwestern, die später den Verein jüdischer Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main gründeten ihre Ausbildung. Minna Hirsch, Lisette Hess, Thekla Isaacsohn, Frieda Brüll/verheiratete Wollmann und Klara Gordon.

Ausgebildet wurden die Schwesternschülerinnen durch die Ärzte des Hospitals. Ab 1877 war Simon Kirchheim Hospitalsarzt, Max Hirschberg Operateur. Assistenzärzte waren ab 1870 Dr. Teophil Jaffé, ab 1886 Dr. Alfred Günzburg, ab1891 Dr. Adolf Deutsch, von 1895 ab Dr. M. Sachs. Als die Aufgaben 1897 getrennt wurden, war Dr. Deutsch Armenarzt, und Assistenzarzt war Dr. L. Berlizheimer, ab 1900 Dr. Jakob Meyer.

Hospital der Israelitischen Gemeinde, 1874
Zeichnung des Königswarter Hospitals
Aus: Israelitische Gemeinde Frankfurt am Main 1876: Beschreibung der am 27. Juni 1875 stattgefundenen Feierlichkeiten zur Einweihung des Hospitals der israel[itischen] Gemeinde in Frankfurt am Main Grüner Weg 26: Erbaut von der Familie Königswarter. Frankfurt a.M.

Im Jahr 1901 wurde das erste Mal eine Erweiterung oder ein Neubau des Hospitals erörtert. Nachdem der Polizeipräsident das Fehlen von Tageräumen im alten Hospital in der Königswarterstraße angemahnt hatte und mit Schließung drohte, war der Gemeindevorstand im Zugzwang und gründete eine Kommission zur Prüfung des Ausbaus des alten Hospitals oder der Möglichkeit eines Hospitalneubaus. Die Kommission bestand neben Mitgliedern des Vorstands des Gemeindeausschusses und des städtischen Pflegeamts aus den Hospitalärzten Dr. Kirchheim und Dr. Hirschberg. 1904 folgte die Empfehlung für einen Neubau, der zehn Jahre später, 1914, eingeweiht wurde (vgl. Hanauer 1914: 55).

Die Schwesternschülerinnen der Jahre 1893 bis 1902

Tabellarische Aufzeichnung

(vgl. Steppe 1997: 225 – 227)

Lfd. Nr. NameAus-
bidungsjahr
LebensdatenGeburtsortSterbeortBerufliche Karriere und WeiteresLink zu weiteren Informationen
1Hirsch, Minna18891860-1938   Minna Hirsch
2Brüll, FriedaVor 18931866-1942   Frieda Brüll
3Gordon, KlaraVor 18931866-1937   Klara Gordon
4Hess,
Lisette
Vor 18931867-1913   Lisette Hess
5Mandel, TheklaVor 18931867-1941   Thekla Mandel
6Pinkoffs, EmmaVor 18931863-1940Gollnow, PommernBerlinAb 1907 Oberin Jüdisches Krankenhaus mit Altenheim in Hannover. 1937 Pensionierung und Umzug nach BerlinEmma Pinkoffs
7Schlesinger, Betty18931866-1940?Pforzheim Privatpflege, ab 1907 in Basel, Oberin Basel, ab 1908 wieder in Frankfurt, auch Säuglingsfürsorge, 1914-18 Lazarettpflege. Letzter bekannter Aufenthalt: GursBetty Schlesinger
8Levy,
Clemence
1893?  1894, 95 ausgeschieden aus dem Verein?
9Levy,
Sophie
1893?  1901 ausgeschieden aus dem Verein?
10Kahn, Franziska1893?  1894, 95 ausgeschieden aus dem Verein?
11Strauss, Julie1893?  Ausbildung in Köln, 1899 Übertritt in den Kölner Verein?
12Ettlinger, Anna1894?  Ab 1907 Leiterin Säuglingsmilchküche im Schwesternheim, 1910-1914 Krankenschwester im Genesungsheim der Kann-Stiftung in Oberstedten, 1914 pensioniertAnna Ettlinger
13Goldstein, Rosa18941874-1942GöppingenTheresienstadtArmenpflegerin. Um 1904 Leiterin der Kostkinderkommission bei der „Weiblichen Fürsorge“. 1904 verlässt sie den Verein. Späterer Name: Rosa FleischerRosa Goldstein
14Kerb, Hedwig1894?-1896  Ist vermutlich sehr jung gestorben.Hedwig Kerb
15Hartog,
Margarethe
1894?  Privatpflege, Israelitisches Krankenhaus Hamburg und in Heilbronn, während des ersten Weltkriegs besonders Rehabilitation der Verwundeten durch „Handfertigungskurse“,1917 pensioniertMargarethe Hartog
16Salinger, Rosa Erna1895?-1897  Kurz nach der Ausbildung an einer Infektionskrankheit gestorben.Rosa Erna Salinger
17Beermann,
Johanna
1895, Köln1863-1942Wittlich, SüdeifelFrankfurt a.M.Jüdisches Krankenhaus Köln, um 1913 Hamburg und Basel in der Privat- und Armenpflege. Dann in Frankfurt in der Säuglingsmilchküche. 1920 Pensionierung. 1940 zwangsweise vom Schwesternheim ins Gagernkrankenhaus umgezogen. 1942 Suizid in Frankfurt am Main.Johanna Beermann
18Abraham, Jenny1895, Köln   Pflege in Köln, 1897 verlässt sie den Schwesternverein.jenny Abraham
19Salinger, FannyVor 1897   Ausgeschieden 1903, 1904, im ersten Weltkrieg Pflege im Lazarett 27 
20Maier,
Sophie
Vor 1897, Köln1865-1940Bergkirchen, Kreis MindenFrankfurt am MainPrivatpflege, Stationen in den Frankfurter Vereinsaussenstellen: „Königswarter Hospital“, Hamburg, Heilbronn, Neuenahr. Oberin in Neuenahr. Oberin und Leiterin des Israelitischen Altenheims zu Aachen. Seit 1937 im Schwesternhaus verstorben, dort 1940 gestorben.Sophie Maier
21Bernstein, Rosy18971865-1944Bollinken, PommernTheresienstadtKurz nach der Ausbildung in Hamburg am Krankenhaus. Oberschwester. 1904 Zugehörigkeit zum Hamburger Verein. 1942 Deportation nach Theresienstadt.Rosy Bernstein
22Nordheim, Charlotte1897   Tätig in der Privatpflege und im Krankenhaus, Auswanderung in die USA 1902. 
23Neumark, Käthe18971871-1939EmdenZandvoort, NiederlandeAb 1902 nach Schulabschluss, Medizinstudium, 1910 Promotion in München. Ab 1912 Kinderärztin. 1914-15 Lazarettdienst im Vereinslazarett 27. Dann Sanitätsoffizierin in Halle. Ab 1919 Frankfurts erste Schulärztin. Ab 1933 Kinderheim in Zandvoort. Anne und Margot Frank waren hier 1934 Gäste.Käthe Neumark
24Holz, Ida18971875-1942KarlsruheTheresienstadtPrivatpflege, Armenpflegerin, „Königswarter Hospital“, 1909-1914 war sie Hausschwester im Genesungsheim der Kann-Stiftung in Oberstedten. 1914-18 Vereinslazarettzug P.I. 1942 Deportation nach Theresienstadt. Gestorben in Theresienstadt 1942.Ida Holz
25Salinger, Martha1898?-1939?  Ca. 1904 Austritt aus dem Verein. Mehrfach ausgezeichnet als Feldschwester im ersten Weltkrieg. 1933-39 Oberin des Berliner jüdischen Krankenhauses und der Schwesternschaft. Vermutlich Ende 1939 Suizid.Martha Salinger
26Weil, Cécile1898   Privatpflege und Israelitisches Gemeindekrankenhaus. 1908 Studium Zahnmedizin. Verheiratete Moses. 1914-18 Verwundetenpflege Lazarett 27.Cécile Weil
27Hirschberg,
Rosalie (Alice)
1899   Ausgeschieden 1903 oder 04. 
28Heymann, Blanka1899   Privatpflege und Armenpflege und Krankenhaus. 
29Frankenfelder, Selma18991880-1944HeidingsfeldAuschwitz1905 Hochzeit mit Adolf Frank. 1914-18 Verwundetenpflege. 1942 Deportation nach Theresienstadt. 1944 Deportation nach Auschwitz und Tod in Auschwitz.Selma Frankenfelder
30Spiro, Rahel19001876-1949Prostken, OstpreußenManchesterPrivatpflege und Krankenhaus in Frankfurt und Hamburg. Ab 1907 im Gumpertz’schen Siechenhaus. Oberin und Verwalterin des Hauses. 1914-18 Oberin des Lazaretts 27. Austritt aus dem Verein und Hochzeit mit Hermann Seckbach dem Verwalter des Alten- und Pflegeheims, eine Tochter. 1942-45 Häftling in Theresienstadt. Rettungstransport in die Schweiz, Wiedersehen mit Mann und Tochter in Manchester. Sie starb 1949 in Manchester.Rahel Spiro (Beitrag)
31Glaser, Julie19001878-?Würzburg Privatpflege und Krankenhaus in Frankfurt a.M. 1911-14 Oberin in Straßburg. 1914-18 Oberin Festungslazarett XXI B in Straßburg. 1918 wieder in Frankfurt. Ab 1925 Nachfolge von Minna Hirsch als Oberin im Frankfurter Krankenhaus. 1941 Deportation nach Litzmannstadt.Julie Glaser
32Simon,
Clara (Claire)
1901   Sie kam aus Trier zur Ausbildung. Dann Privatpflege, Hamburg und in Heilbronn in den Krankenhäusern. 1917 wurde sie Oberin im Krankenhaus der Israelitischen Krankenkasse (Frauenkrankenkasse).
33Adelsheimer,
Sarah
19011877-1965JebenhausenTel Aviv1902-1914 Pflege im Königswarter Hospital. Auch Armen- und Privatpflege. 1914-18 Kriegskrankenpflege in Bulgarien. 1925 Oberin des Schwesternvereins. 1933 Emigration nach Palästina.Sarah Adelsheimer
34Cohn, Emma (Eva)1901   Ca. 1903, 1904 verließ sie den Verein.Emma (Eva) Cohn
35Lehmann, Elise1902   Pensioniert 1907. 
36Philipp, Olga1902, Hamburg   1903, 1904 ausgeschieden. 
37Ruth?1903   Privatpflege, pensioniert 1910. 
38Ella?1903   Privatpflege, ausgeschieden 1909 wg. Heirat. 

Biografien der Schwesternschülerinnen

In der Bilanz der ersten zehn Jahre verzeichnete man 43 Schülerinnen, die der Verein zur Ausbildung aufgenommen hatte (vgl. Eröffnungsfeier 1902). Da nicht alle Schülerinnen die Ausbildung beendeten und nicht alle der Ausgebildeten im Verein geblieben waren, gab es zu diesem Zeitpunkt, Ende der ersten 10 Jahre, 24 aktive Schwestern. 13 dieser Aktiven waren in der Privatpflege tätig, eine als Armenschwester. Im Frankfurter Hospital arbeiteten fünf und in Hamburg drei der aktiven Schwestern. Thekla Mandel war Oberin des Gumpertz’schen Siechenhauses, eine weitere Schwester war zu dieser Zeit beurlaubt (vgl. Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1902. Zur Anerkennung für ununterbrochene Tätigkeit im Verein hatten sechs der Schwestern die „goldene Brosche“ erhalten. Die professionelle jüdische Krankenpflege in Frankfurt hatte sich fest etabliert. Der Bedarf nach weiterem ausgebildetem Personal blieb weiter hoch (vgl. Steppe 1997:207).[/vc_column_text][/vc_column][/vc_row][vc_row][vc_column][vc_column_text]Zunächst verweise ich hier kurz auf vier Biografien zu denen es bereits ausführliche Artikel auf der Internetseite www.juedische-pflegegeschichte.de gibt.

Julie Glaser

Ausbildung 1900, Oberin in Straßburg ab 1911, Oberin im Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde ab 1925 (1878 – 1941 deportiert).

Käthe Neumark

Ausbildung 1897, Studium und Promotion Medizin 1910, Kinderärztin, Lazarettdienst, Sanitätsoffizierin, Schulärztin in Frankfurt a.M. ab 1919, Kinderheim in Zandvoort ab 1933.

Rahel Spiro

Ausbildung 1900, Oberin und Verwalterin des Gumpertz`schen Siechenhauses ab 1907, Oberin des Lazaretts im Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde 1914-18, Heirat mit Hermann Seckbach, Verwalter des Gumpertz`schen Siechenhauses, Interniert in Theresienstadt, Exil in Manchester mit Mann und Tochter.

Sarah Adelsheimer

Ausbildung 1901, 1902-1914 Pflege im Königswarter Hospital einschließlich Armen- und auch Privatpflege, 1914-18 Kriegskrankenpflege in Bulgarien, teils im Lazarettzugab „P 1“, 1925 Oberin des Schwesternvereins, 1933 im Exil in Palästina.

Im zweiten Teil der Biografien führe ich vier weitere Lebenswege auf, die typische Werdegänge von Schwestern zeigen, die in den Jahren 1893 bis 1902 ausgebildet wurden.

Betty Schlesinger

Betty Schlesingers Kurzbiografie zeigt einen erfolgreichen Berufsweg, der beispielhaft für ausgebildete Krankenpflegerinnen ihrer Generation ist.

Sie wurde am 8. Oktober 1866 in Pforzheim geboren. 1893 wurde sie zur Ausbildung im Frankfurter Verein aufgenommen. Zum Dienstjubiläum 1903 erhielt sie die „Goldene Brosche“ des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins (vgl. Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1920: 21). Viele Jahre arbeitete sie in der Privatpflege bis sie 1907 vom Verein in die Schweiz geschickt wurde, um Oberin des im Dezember 1906 eröffneten Israelitischen Spitals zu Basel zu werden. Hieraus sieht man die fachliche Kompetenz Betty Schlesingers, wie auch die internationale Bedeutung der Frankfurter jüdischen Krankenpflegevereins.

1908 kehrte Betty Schlesinger nach Frankfurt zurück und wirkte bis 1911 u.a. im Frankfurter Verband für Säuglingsfürsorge. 1912 schied sie aus dem Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main aus, kehrte jedoch 1914 zurück, um sich an der Pflege von Verwundeten zu beteiligen.

Zuletzt lebte Betty Schlesinger in ihrer Geburtsstadt Pforzheim. Von dort aus wurde die 74-jährige Pensionärin am 22.10.1940 in das südfranzösische Lager Gurs deportiert, wo sich ihre Spuren verlieren.

Sophie Meyer (Maier)

Sophie Meyers Werdegang zeigt die Möglichkeit die Ausbildung in Köln zu starten.

Geboren wurde Sophie Meyer (manchmal auch Maier, später auch „Schwester Bertha“) am 27. Februar 1865 in Bergkirchen (gehört heute zu Bad Oeynhausen). Zur Ausbildung als Krankenpflegerin kam sie 1897 ins Kölner Jüdische Krankenhaus (Israelisches Asyl für Kranke und Altersschwache) (vgl. Steppe 1997: 226 und ISG: Blatt 51). Nach ihrer Ausbildung arbeitete sie in der Privatpflege, im Frankfurter Hospital der Israelitischen Gemeinde („Königswarter Hospital“), im Israelitischen Krankenhaus Hamburg sowie in Heilbronn und (Bad) Neuenahr. Alle Orte, in denen sie sich aufhielt und arbeitete, hatten Vereinbarungen mit dem Frankfurter jüdischen Schwesternvereins geschlossen.

Auch Sophie Meyer erhielt 1907 zu ihrem zehnjährigen Dienstjubiläum die „Goldenen Brosche“ des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins. Seit 1910 leitete sie das Israelitische Krankenheim in Bad Neuenahr (vgl. alemannia judaica). Ab 1913 leitete sie im Auftrag des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins das Israelitische Altenheim in Aachen.

Sophie Meyer zog 1937 von der Frankfurter Jügelstraße 46 in die Bornheimer Landwehr 85 (dem Schwesternhaus des Vereins), wo sie 1940 starb (vgl. Steppe 1997: 226).

Ida Holz

Ida Holz‘ Arbeitsleben war während des ersten Weltkriegs geprägt von ihrer Tätigkeit im Lazarettzug P 1. Viele Jahre wirkte sie im Jüdischen Genesungsheim der Eduard und Adelheid Kann-Stiftung in Oberstedten (Oberursel/Taunus).

Geboren wurde Ida Holz am 11. Juli 1875 in Karlsruhe. Ihre Ausbildung erhielt sie 1897 in Frankfurt, wonach sie als Krankenpflegerin in der Privatpflege, als Armenpflegerin sowie als Krankenpflegerin im Hospital der Israelitischen Gemeinde Frankfurt tätig war. 1909 bis 1914 war sie Hausschwester des Jüdischen Genesungsheims in Oberstedten. Während des Ersten Weltkrieges pflegte Ida Holz Verwundete im Vereinslazarettzug P 1.

1919 war sie zunächst im Auftrag des Frankfurter Vereins für den Frankfurter Verband für Säuglingsfürsorge tätig. Dann als Oberin des Kann’schen Genesungsheims in Oberstedten (vgl. Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1920: 63.

Nach ihrer Pensionierung nutzte sie ihr Wohnrecht im jüdischen Schwesternhaus in der Bornheimer Landwehr 85. Als die Nazis das Gebäude räumten, musste Ida Holz zusammen mit ihren Kolleginnen in das Krankenhaus in der Gagernstraße 36 umziehen – die letzte Wohnadresse vor der Deportation. Ida Holz wurde am 19. August 1942 mit dem Transport XII/1 von Frankfurt in das Konzentrations- und Durchgangslager Theresienstadt deportiert. Von den 1013 Deportierten dieses Transports überlebten nach bisherigem Kenntnisstand nur 17 Menschen. Ida Holz starb am 5. Dezember 1942 im KZ Theresienstadt, offiziell an einer Lungenentzündung (vgl.  Todesfallanzeige) Schwester Ida wurde 67 Jahre alt.

Rosa Goldstein (verheiratete Fleischer)

Rosa Goldstein wurde am 21. Januar 1874 in Göppingen (Baden-Württemberg) geboren. Ihre Ausbildung in Frankfurt am Main erhielt sie 1894, gefolgt von Arbeit in der Privat- und Armenpflege (vgl. Steppe 1997: 226).

Um 1902 setzte der Frankfurter jüdische Schwesternverein Rosa Goldstein als Leiterin der Kostkinderkommission des von Bertha Pappenheim und Henriette Fürth gegründeten Israelitischen Frauenvereins Weiblichen Fürsorge e.V. ein: „Hier werden Kinder ab einem Alter von etwa zwei Jahren, die entweder Waisen sind oder in ihren Familien zu verwahrlosen drohen, in Pflegefamilien in und um Frankfurt vermittelt und regelmäßig besucht.“ (Steppe 1997: 258)

Um 1903 verließ Rosa Goldstein den Schwersternverein und kehrt nach Göppingen zurück, um Leopold „Moritz“ Fleischer (1869-1938) zu heiraten. Um 1905 zieht das Ehepaar nach Cannstadt (heute Bad Cannstadt). In Cannstadt war Leopold Fleischer als Prokurist bei der Mechanischen Gurten- und Bandweberei Gutmann und Marx angestellt. Rosa Fleischer gebar die Kinder Edgar Siegfried (1906-1937), Sofie Gabriele (1909-?) und Elisbeth Beate (1918-1941).

Edgar Bönisch, Stand November 2021

Quellen

Archivmaterial

  • ISG – Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main: Hausstandsbuch HB 655, Bornheimer Landwehr 85.
  • Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1897: Jahresbericht. Stiftung Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum. Sign. 1, 75 C Ge1 Nr. 972.
  • Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1898: 5. Jahresbericht. Stiftung Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum. Sign. 1, 75 C Ge1 Nr. 973.
  • Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1899: 6. Jahresbericht. Stiftung Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum. Sign. 1, 75 C Ge1 Nr. 973.
  • Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1900: 7. Jahresbericht mit Anhang. Die Eröffnungsfeier, Stiftung Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum. Sign. 1, 75 C Ge1 Nr. 973.
  • Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1902: 9. Jahresbericht mit Anhang. Die Eröffnungsfeier, Stiftung Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum. Sign. 1, 75 C Ge1 Nr. 973.

Literatur

  • Beschreibung der am 27. Juni 1875 stattgefundenen Feierlichkeiten zur Einweihung des Hospitals… : erbaut von der Familie Königswarter ; gedruckt am ersten Jahrestage der Einweihung 27. Juni 1876, Frankfurt a.M. 1876.
  • Bude, Heinz 2000: Qualitative Generationsforschung, in: Uwe Flick, Ernst von Kardoff, Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Hamburg 2000, 187-194.
  • Eröffnungsfeier 1902: Anhang zum IX. Jahresbericht des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main, Frankfurt am Main.
  • Hanauer, Wilhelm 1914: Festschrift zur Einweihung des neuen Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde zu Frankfurt am Main.
  • Helmerichs, Jutta 1992: Krankenpflege im Wandel (1890 bis 1933). Dissertation Universität Göttingen.
  • Levinsohn Wolf 1996: Stationen einer jüdischen Krankenschwester. Deutschland – Ägypten – Israel, Frankfurt am Main.
  • Seemann, Birgit / Bönisch, Edgar 2011: „…sei er arm oder reich, Jude, Christ oder Araber.“ In: Kozon, Vlastimil; Seidl Elisabeth; Walter, Ilsemarie (Hrsg.): Geschichte der Pflege – Der Blick über die Grenze. Wien, 51-74.
  • Seemann, Birgit / Bönisch, Edgar 2019: Das Gumpertz’sche Siechenhaus – ein „Jewish Place“ in Frankfurt am Main. Geschichte und Geschichten einer jüdischen Wohlfahrtseinrichtung. Frankfurt am Main.
  • Steppe, Hilde 1997: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre…“.
  • Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1920: Rechenschaftsbericht für die Jahre 1913 bis 1919, Frankfurt am Main.

 

Internetquellen

Die genutzten Internetquellen sind an den betreffenden Stellen des Textes in den Fußnoten angegeben oder als Link hinterlegt, sie wurden im Lauf des Julis und Augusts 2020 abgerufen und überprüft. Viele der Fußnoten und Internetquellen beziehen sich auf Einträge und Artikel der Datenbank: www.juedische-pflegegeschichte.de, dort sind weiterführende Angaben zu Literatur und Archivmaterial verzeichnet.

Lage Schwesternhaus, Plan 1902

Die Schwesternschülerinnen des Frankfurter Vereins, 1903-1913

Zeit und Ort, eine Einordnung

Wie im Artikel „Die Schwesternschülerinnen im „Verein für jüdische Krankenschwestern zu Frankfurt am Main 1893 bis 1902“ beschrieben, möchte ich auch hier eine Schülerinnengeneration, diesmal die in den Jahren 1903 bis 1913 ausgebildeten, vorstellen. Sie eint ein „gemeinsames Präge- und Wirkungserlebnis“ (Bude 2000: 188), sie ergriffen in derselben Zeit den gleichen Beruf und lebten und arbeiteten in einer gemeinsamen Umgebung als Angehörige des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen.

Die zeitliche Festlegung für diese Gruppe auf die Ausbildungsjahre 1903 bis 1913 begründet sich einerseits durch den Umzug der Schwesternschaft in das neue Schwesternhaus in der Königswarter Str. 20 neben dem Hospital der Israelitischen Gemeinde. Und andererseits durch den Umzug in das nächstgrößere Schwesternhaus in der Bornheimer Landwehr 85, neben dem ebenfalls neu erbauten Gemeindehospital in der Gagernstr. 36. im Jahr 1914.

Mit den Ausführungen zum Zeitabschnitt von 1893 bis 1902 und von 1903 bis 1913 folge ich einer Einteilung, die bereits die Pflegewissenschaftlerin Hilde Steppe für ihre Arbeit traf (Steppe 1997: 204). Um das Leben der auszubildenden Schwesternschülerinnen zu beschreiben, beginne ich mit der Darstellung der zu dieser Zeit herrschenden politischen Verhältnisse.

Das Deutsche Reich, Politik

Die Verfassung des 1871 gegründeten Deutschen Reichs basierte auf vier Organen, dem Kaiser, dem Reichkanzler, dem Bundesrat und dem Reichstag. Nach dem monarchischen Prinzip hatten Fürsten und Stände die Staatsmacht inne, sie saßen als Vertreter der Mitgliedsstaaten im Bundesrat (22 Einzelstaaten und drei freie Städte). Bei Ihnen lag die Souveränität, nicht beim Volk. Geführt wurde der Bundesrat vom Reichkanzler, der wiederum vom Kaiser direkt ernannt wurde.

Der Reichskanzler koordinierte mit dem Einverständnis und gestützt auf das Vertrauen des Kaisers die Richtlinien der Politik und vertrat sie gegenüber dem Reichstag (vgl. Ziemann, Benjamin 2016a: 4-15). Ohne den Reichstag (397 Abgeordnete), gemeinsam mit dem Bundesrat, konnte kein Gesetz und kein Haushalt (inkl. des Militärhaushalts) beschlossen werden (vgl. Deutscher Bundestag). Der Reichstag wurde demokratisch gewählt, wobei das Wahlrecht lediglich Männer über 25 Jahren ausüben durften (vgl. ebd.).

Reichskanzler waren von (vgl. Liste Deutscher Reichskanzler):

  • 1871 bis 1890 Fürst Otto von Bismarck (1815-1898)
  • 1890 bis 1894 Graf Leo von Caprivi (1831-1899)
  • 1894 bis 1900 Fürst Chlodwig zu Hohnlohe-Schillingsfürst (1819-1900)
  • 1900 bis 1909 Fürst Bernhard von Bülow (1849-1929)
  • 1909 bis 1917 Theobald von Bethmann Hollweg (1856–1921)
  • 1917 Georg Michaelis (1857–1936).

Die Außenpolitik des Reichskanzlers Otto von Bismarck (1815-1898) strebte auf den Ausgleich der Kräfte und suchte Bündnisse in Europa (vgl. Ziemann 2016b: 46). Ab 1890 verfolgte Leo von Caprivi eine Blockbildung unterschiedlicher Länder. Mitte der 1890er Jahre verfolgten Kaiser Wilhelm II und der jeweilige Reichskanzler eine „Weltmachtpolitik“ mit Hilfe der Marine. Noch als Staatssekretär prägte Bernhard von Bülow, der Reichskanzler ab 1900, den Begriff, dass auch Deutschland seinen „Platz an der Sonne“ beanspruchen könne und müsse. So wurde die Zeit um 1900 eine Zeit der „weltweite[n] kommunikativen Vernetzung in allen Bereich der Gesellschaft“ (ebd.: 45), was zu einem „wichtigen Element des kollektiven Erfahrungsraumes der Deutschen“ (ebd.) wurde. Wirtschaftlich schlug sich diese Globalisierung in der weltweiten Vernetzung im Ex- und Import und dessen ständigem Wachstum nieder. Auch der weltweite Arbeitsmarkt wuchs, in den deutschen Kolonien ließ man „Kulis“ in den Phosphatminen schuften und leiden; Arbeitsmigranten aus Norditalien, Österreich-Ungarn und russisch-Polen kamen ins Deutsche Reich, offiziell nur für die Sommermonate, inoffiziell wurde die Regel oft umgangen (ebd.: 46). Kolonialpolitisch führte die Weltmachtpolitik zum Völkermord der Deutschen an den Herero und Nama in den Jahren von 1904 bis 1908.

Innenpolitische wurde „Sammlungspolitik“ betrieben, die Parteien und Machtträger sollten sich zu Gunsten der „Weltpolitik“ (Stärkung von Marine und Kolonialismus) sammeln und sich gegen die erstarkende Sozialdemokratie wenden. Es hatten sich seit Ende des 19. Jahrhunderts Gewerkschaften gebildet, Vereine und Verbände meldeten sich zu Wort, die Bedeutung der öffentlichen Meinung nahm mit Hilfe der auflagenhohen Pressemedien zu. Vor allem die Sozialdemokratie wuchs, jedoch auch das völkisch-nationale Lager, welches verschiedene Gruppierungen verband, allerdings nicht Juden und Migranten (vgl. Ziemann 2016a: 51). Generell zeigt sich die Politisierung in den Wahlergebnissen zum Reichstag. Für die SPD wirkte sich die Entwicklung in den Wahlen zum Reichstag folgendermaßen aus. 1890 lag sie bei ca. 20% der Stimmen, 1903 bei ca. 30% und 1912 ca. bei 35% (vgl. Osterhammel 2012: 57). Das Wahlrecht war jedoch eingeschränkt auf Männer ab 25 Jahren und war in den Einzelstaaten unterschiedlich, z.B. das Dreiklassenwahlrecht im preußischen Landtag (vgl. Ziemann 2016a: 53-54). Das Frauenwahlrecht in Deutschland galt erst ab November 1918 (vgl. Altenmüller 2021).

Das Deutschen Reich, Wirtschaft

Das Deutschen Reich, Antisemitismus

Zu den Themen Wirtschaftslage sowie Antisemitismus im Deutschen Reich verweise ich auf den Artikel über die jüdischen Schülerinnen der Krankenpflege der Jahre 1893 bis 1902. Dort wird das deutsche Wirtschaftswunder vor dem ersten Weltkrieg beschrieben und auch die langsam stärker werdenden antisemitischen Äußerungen. In dieser Atmosphäre lebten die Schwesternschülerinnen der hier besprochenen Ausbildungsjahrgänge 1903 bis 1913. Ich führe einige Stichworte auf: erste Automobile und deren fabrikmäßige Produktion, Nutzung von Erdöl, erste Flugzeuge und ölbetriebene Schiffe. Andererseits herrschte Wohnungsnot, im Gegensatz zur Belle Époque, die für das gehobene Bürgertum galt und sich besonders in den überall entstehenden Luxusvillen zeigte. Um 1900 gab es in der Oberschicht die neue Gruppe der Manager oder leitenden Angestellten. Ohne Besitzer zu sein hatten sie ein hohes Einkommen. Die Situation im Deutschen Reich zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschreibt zusammenfassend Joachim Käppner: „Ja, es gab Gutes darin [in der Kaiserzeit]: den Parlamentarismus, die Frauenbewegung, die Selbstbehauptung der Arbeiterschaft, den Aufschwung von Kultur, Literatur, Wissenschaft, die neue Urbanität… Aber das meiste davon entstand trotz des erdrückenden Gesellschaftssystems und nicht seinetwegen, gewiss ist es nicht dessen Verdienst.“ (Käppner 2021)

Jüdisches Leben in Frankfurt

Nach der bürgerlichen Gleichstellung der Juden im Jahr 1864 wohnten diese nach und nach auch außerhalb des Ghettos in anderen Frankfurter Stadtteilen. 1895 waren ca. 8,5 % der Frankfurter Bevölkerung jüdischen Glaubens, d.h. ca. 19.500 von 230.000. Im Jahr 1920 machten die Juden ca. 6,3% der EinwohnerInnen aus, das waren 26.220 von 414.500 (vgl. Krohn 2000: 22).

Auf den Internetseiten der Frankfurt Jüdischen Gemeinde in Frankfurt heißt es über die Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts: „Neben zahlreichen kleinen Gebetshäusern gab es die Hauptsynagoge in der Judengasse, die Synagoge am Börneplatz sowie die Synagoge an der Friedberger Anlage, die 1907 für die Austrittsorthodoxie gebaut wurde und die 1910 erbaute liberale Westend-Synagoge. Der freigeistige Charakter der Stadt spiegelte sich auch in der Frankfurter Jüdischen Gemeinde wider. Zahlreiche Gemeindemitglieder nahmen wichtige Funktionen in der städtischen Kultur und Politik ein. Viele Institutionen, wie die Johann Wolfgang Goethe-Universität oder die Frankfurter Allgemeine Zeitung, gehen auf jüdische Stiftungen beziehungsweise Gründungen zurück. Bekannte Rabbiner aller religiöser Richtungen haben in Frankfurt gewirkt. Darunter Samson Raphael Hirsch, Markus Horovitz, Nehemia Anton Nobel, Ceasar Seligmann und Georg Salzberger.“ (Jüdische Gemeinde Frankfurt/M)

Der Beruf der Krankenpflegerin zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Die bisherigen Beschreibungen der Außen- und Innenpolitik des Deutschen Reichs geben das Umfeld wieder, in welchem die Pflegeschülerinnen ihren Beruf erlernten. Da sie im Umfeld der medizinischen Entwicklung arbeiteten, im Folgenden ein Blick darauf.

Medizinische Entwicklung

Emil von Behring, Paul Ehrlich und Erich Wernicke gelang eine Immunisierung gegen Diphterie (Cornynebacerim diphtheriae). Der erste Diphterieimpfstoff wurde in den 1920er Jahren entwickelt.

Paul-Ehrlich-Arbeitszimmer
Paul Ehrlich in seinem Arbeitszimmer im Frankfurter Georg-Speyer-Haus, 1910
(Titzenthaler 1910)

Hinweis: Die Tabelle wird aktuell aus technischen Gründen überarbeitet

Entwicklungsstand des Berufs der Krankenpflegerinnen

Im Jahr 1898 wurden 26.427 Krankenpflegerinnen gezählt (vgl. Helmerichs 1992). Davon in katholischen Mütterhäusern: 12.427, in evangelischen Mütterhäusern: 7.576 und weitere 3.613. Freie Schwestern gab es 2.398. Die Tätigkeit der Krankenpflegerinnen entwickelte sich immer weiter zum Beruf, einem Beruf für Frauen aller Klassen (vgl. Mühlberger 1966/67). Im Rahmen der sozialen Absicherung bildeten sich unterschiedliche Schwesternverbände und es gab Ansätze zur Gründung einer Gewerkschaft. Alle arbeiteten daran eine gute und geregelte Ausbildung zu formulieren umzusetzen und ihre Mitglieder wirtschaftlich abzusichern.

Beispielhaft für die Arbeitsbedingungen seien die freien Schwestern genannt. Sie arbeiteten zwischen 14 und 18 Stunden am Tag, mussten ohne Urlaub oder freie Tage auskommen, mit der Folge einer hohen Sterblichkeit, häufigen Krankheiten und hohen Selbstmordzahlen (vgl. Betzien 2018: 54). Die Bedingungen der Ordensschwestern werden am Beispiel der jüdischen Krankenschwestern weiter unten beschrieben. 1903 gründete Agnes Karll (1868-1927) die Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschland (B.O.K.D.). Zu dieser Zeit, 1903, gehörten noch rund die Hälfte aller Krankenpflegerinnen zu katholischen Orden, Kongregationen oder zu evangelischen Diakonissenmutterhäusern (vgl. Nolte 2020: 120-132). Ziele des B.O.K.D. waren die Ausbildung inklusive einer staatlichen Prüfung und Anerkennung sowie „die Hebung des Ansehens und die wirtschaftliche und moralische Sicherung der freiberuflichen Krankenschwestern“ (Mühlberger 1966/67: 25). 1912 richtete Agnes Karll Fortbildungslehrgänge an der privaten Hochschule für Frauen in Leipzig ein. Obwohl sie über keinen akademischen Titel verfügte hielt sie unter anderem freitags und sonnabends jeweils von 19:30 Uhr bis 21 Uhr Vorlesungen zur Geschichte der Krankenpflege. Grundlagen für sie waren Lehrmaterialien wie „A History of Nursing“ der US-amerikanischen Pflegehistorikerinnen Mary Adelaide Nutting und Lavinia Dock, dessen erste drei Bände sie ins Deutsche übersetzte (vgl. Hochschule für Frauen zu Leipzig).

1907 erließ Preußen landesrechtliche Vorschriften über die staatliche Prüfung von Krankenpflegepersonen nach einjähriger Ausbildung. Auch Männer konnten nun ausgebildet werden (vgl. Vom gottgefälligen Dienen zur Profession). Das war ein wichtiger Schritt hin zu einem Beruf mit Bezahlung einer Ausbildung mit Vermittlung spezieller Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen (vgl. Ulmer 2009). In Anlehnung an die Vorschriften von Preußen folgten die einzelnen Länder zu verschiedenen Zeitpunkten: Württemberg, Hessen und Lippe 1908, Sachsen und Bremen 1909, Mecklenburg-Schwerin 1915, Baden 1919, Hamburg 1921, Thüringen 1922, Bayern 1924 (vgl. Krankenpfleger).

Die Frankfurter Vereinsschwestern, ihr Lebensraum, ihr Arbeitsraum

Mit den Vereinsgründungen für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt und in Berlin im Jahr 1893 und später in anderen Orten, sowie Gründungen durch weitere Initiativen wie dem Deutsch-Israelitischen Gemeindebund und der Logenvereinigung Unabhängiger Orden Bne Briss, hatte die jüdische Krankenpflege mehr und mehr Bedeutung und Anerkennung gewonnen (vgl. Bönisch 2015). Der innerjüdische Konflikt darüber, ob es überhaupt eine jüdische Krankenpflege geben sollte oder könnte hatte sich gelegt (vgl. Seemann/Bönisch unveröffentlicht). Auf den Delegierten-Versammlungen der Vereinigung zur Ausbildung jüdischer Krankenpflegerinnen in Deutschland, 1904 in Frankfurt am Main und 1905 in Berlin, kam zum Ausdruck mit wie vielen Vorurteilen gegenüber Jüdinnen im Beruf der Krankenpflegerin geherrscht hatte und wie sich dies geändert hat. Dr. Simon Kirchheim, Chefarzt der Inneren Station des Frankfurter Gemeindehospital, Vereinsvorsitztender des Frankfurter Krankenpflegerinnenvereins und 2. Vorsitzender der Versammlung, die im neuen Schwesternheim in der Königswarterstr. 20 stattfand, betonte, dass er selbst, angesichts des nicht ausgebildeten Personals im Israelitischen Gemeindehospital im Jahr 1889 seinen Glaubensgenossinnen nicht zugetraut hatte sich für den Beruf als Krankenpflegerinnen zu qualifizieren (vgl. Delegierten-Versammlung 1904). Doch heute, 1904, betont er, dass das Experiment mit den seit 1893 ausgebildeten Schwestern sehr glücklich und erfolgreich war und sehr positiv weiter verlaufen würde. Auch Louis Sachs ein Förderer des Berliner Vereins der Krankenpflegerinnen und Leiter des Berliner Jüdischen Hospitals gab zu, dass er noch 1894 große Bedenken geäußert hatte, ob die Frauen physisch stark genug wären, den Beruf auszuüben, ob Jüdinnen den nötigen Gehorsam zeigen könnten und ob jüdische Patienten jüdische Krankenpflegerinnen akzeptieren würden (vgl. Delegierten-Versammlung 1905). Doch auch er gab 1905 eine sehr positive Bewertung des Ausbildungsstandes ab.

Der Verein

Vorsitzender des Vereins jüdischer Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main war bis in die 1930er Jahre Dr. Simon Kirchheim. Die Entwicklung des Vereins zu Beginn des 20. Jahrhunderts fasst Hilde Steppe zusammen (vgl. Steppe 1997: 208): Das Mitspracherecht der Frauen im Verein besserte sich durch die Gründung eines Schwesternrates. Der Abschluss der Schwesternausbildung erfuhr durch eine staatliche Krankenpflegerinnenprüfung, wie oben bereits erwähnt, auch in der Ausbildung der jüdischen Krankenpflegerinnen, eine weitere Aufwertung. Dazu berichtete der Vorstand des Vereins für 1908, dass der Deutsche Verband Jüdischer Krankenpflegerinnenvereine voraussetzte, dass alle Schwestern der zugehörigen Vereine die staatliche Approbation besitzen mussten. Auf Nachfrage des Vereins in Wiesbaden bei der Königlichen Regierung wurde allen gegenwärtigen Mitgliedsschwestern in Frankfurt diese Approbation erteilt, worauf man sehr stolz war und eine Anerkennung der geleisteten Arbeit des Vereins sah. Künftige, auch die drei Schülerinnen, die zum Zeitpunkt des Berichts kurz vor der Prüfung standen, müssten dann die staatliche Prüfung ablegen (vgl. Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1908: 4). Weiter, so Steppe, wurde die Ausbildungszeit auf anderthalb Jahre erweitert, auf Fortbildungsmöglichkeiten für die ausgebildeten Schwestern wurde stärker geachtet. Durch Kooperationen und Entsendung von Vereinsschwestern kamen Einsatzorte wie Hannover und Basel hinzu. Zusätzliche Arbeitsbereiche wie die Säuglingsmilchküche im Schwesternhaus entstanden. Zum Ende der hier besprochenen Periode (1913) waren im Verein 37 Schwestern und 14 Lehrschwestern aktiv (vgl. Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1920: 60) und 1914 konnte der Verein mit seinen Schwesternschülerinnen und Schwestern in das neue Schwesternhaus in der Bornheimer Landwehr 85 umziehen (vgl. Steppe 1997: 208).

Einen der wenigen Einblicke in das Leben der Vereinsschwestern, abseits ihrer Arbeit, erhält man durch die Bemerkung des Vereinsvorstandes im Jahresbericht für 1902 über Vergünstigungen durch Dritte: „Die Königliche Eisenbahn-Direktion ermäßigte die Fahrpreise bei Erholungs- und Urlaubsreisen unserer Schwestern; auch das Städtische Bahn- und Elecricitäts-Amt, sowie die Schwimmbad-Commission erfreute uns mit Freikarten. Ebenso genossen unsere Schwestern dankenswerthe Vergünstigungen von Seiten des Palmengartens, des Zoologischen Gartens und des Kaufmännischen Vereins.“ (Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1902: 7)

Das Schwesternhaus

Oberin der Vereinsschwestern war von 1893 bis 1914 Minna Hirsch. Bereits 1899 waren die Schwestern im Haus Untere Atzemer 16 eingezogen, hatte der Verein ein Grundstück neben dem Königswarter Hospital gekauft. Nach einem Ausschreibungsverfahren erhielt der Architekt Max Seckbach den Zuschlag für einen Neubau des Schwesternhauses (vgl. Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1900: 4). Die Aktiengesellschaft für Hoch- und Tiefbauten wurde mit dem Bau beauftragt. 1902 schließlich zogen die Schwestern in das neue Gebäude in der Königswarterstraße 20 ein (vgl. Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1899: 4). Der Vereinsvorstand Dr. Simon Kirchheim sagte anlässlich der Eröffnungsfeier: „seit Jahren hatten wir eingesehen, daß unser bisheriges Schwesternheim, – ein kleines ermiethetes Häuschen – nach allen Richtungen ungenügend war und den geringsten billigen Forderungen der Schwestern keineswegs entsprechen konnte […]. Bisher waren nicht einmal genügend Schlafräume für die stets wachsende Zahl unsrer Schwestern vorhanden und ein gemüthliches Zusammenleben der Schwestern war durch die Enge des Hauses unmöglich gemacht.“ (Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1902, Anhang: 9). Weiter gab Dr. Kirchheim in der Eröffnungsrede eine Beschreibung des neuen Hauses: „Im Parterrestock des Hauses finden Sie außer den Zimmern der Oberin das Speise- und das Aufenthaltszimmer der Schwestern, sowie ein geräumiges Sitzungszimmer. Während im Souterrain die Küchen- und Haushaltungsräume, sowie die Heizungsanlage enthalten sind, vertheilen sich in den übrigen Stockwerken die Schlafräume der Schwestern und Schülerinnen. Auf eine besonders wichtige Einrichtung erlaube ich mir noch Ihre Aufmerksamkeit zu lenken. Für Schwestern die aus der Pflege von ansteckenden Kranken nach Hause kommen, ist nicht nur ein getrennter Eingang, sondern auch besondere Badezimmer und Räume zum Ausruhen geschaffen worden, so daß eine Uebertragung von ansteckenden Krankheiten auf andere Schwestern innerhalb des Hauses wohl gänzlich unmöglich ist. Auch für alle übrigen sanitären Einrichtungen ist in weitem Umfange Sorge getragen […] und wenn auch unsere Schwestern nur einen Theil der vorhandenen Zimmer in Anspruch nehmen, so werden im kommenden Jahre neue Schwestern hinzukommen. Zweifellos werden wir mit der Zeit in das Kleid, das uns heute noch zu weit ist, hineinwachsen…“ (ebd.: 10-11).

Lage Schwesternhaus, Plan 1902
Das neue Schwesternhaus in der Königswarterstr. 2
© Institut für Stadtgeschichte/Stadtvermessungsamt. Stadtgrundkarte 1902

Das Hospital

Chefarzt waren 1877 bis 1908 Dr. Simon Kircheim und ab 1909 bis 1914 Dr. Alfred Otto Günzburg. Oberin der Pflege im Hospital war Minna Hirsch von 1893 bis 1914.

Zeichnung des Königswarter Hospitals
Aus: Israelitische Gemeinde Frankfurt am Main 1876: Beschreibung der am 27. Juni 1875 stattgefundenen Feierlichkeiten zur Einweihung des Hospitals der israel[itischen] Gemeinde in Frankfurt am Main Grüner Weg 26: Erbaut von der Familie Königswarter. Frankfurt a.M.

1875 errichtete die jüdische Gemeinde in Frankfurt am Main ein erstes Gemeindekrankenhaus. Es lag im Grünen Weg, der später nach dem Stifter des Hospitals in Königswarter Straße umbenannt wurde. Auch das Hospital selbst wurde oft als Königswarter Hospital bezeichnet. Es beherbergte 80 Pflegeplätze (vgl. Hanauer 1914: 45). Für weitere Informationen zum Königswarter Hospital verweise ich auf den Artikel Schwesternschülerinnen in den Jahren 1893 bis 1902.

Hier noch eine Vorausschau auf den Neubau des Hospitals in der Gagernstr. 36, welches im Jahr 1914 eröffnet wurde. Bereits etliche Jahre zuvor lebten die Schwestern des Vereins und die Schülerinnen mit der Diskussion und Vorbereitung auf das neue Krankenhaus und das neue Schwesternhaus. Im Jahr 1901 wurde das erste Mal eine Erweiterung oder ein Neubau des Hospitals erörtert. Nachdem der Polizeipräsident das Fehlen von Tageräumen im alten Hospital in der Königswarterstraße angemahnt hatte und mit Schließung drohte, war der Gemeindevorstand im Zugzwang und gründete eine Kommission zur Prüfung des Ausbaus des alten Hospitals oder der Möglichkeit eines Hospitalneubaus. Die Kommission bestand neben Mitgliedern des Vorstands des Gemeindeausschusses und des städtischen Pflegeamts aus den Hospitalärzten Dr. Kirchheim und Dr. Hirschberg. 1904 folgte die Empfehlung für einen Neubau, der zehn Jahre später, 1914, eingeweiht wurde (ebd.). So lernten die Schülerinnen der Krankenpflege ihr Handwerk im Königswarter Hospital bereits seit 1901 in einem als ungenügend empfunden Hauses und mit dem Bewusstsein des geplanten Neubaus des Krankenhauses und des Schwesternhauses, die 1914 eingeweiht wurden.

Die Schwesternschülerinnen des Vereins der Jahre 1903 bis 1913

Tabellarische Aufzeichnung
Daten aus: Hilde Steppe: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre…“, Frankfurt am Main1997: 225-232. Beachten Sie bitte weitere Quellen und Ergänzungen in den angegebenen Verlinkungen zur Datenbank www.juedische-pflegegeschichte.de.

Lfd. Nr. NameAusbildungsjahrGeburtTodGeburtsortSterbeortStichworte
37Ruth?1903    tätig in der Privatpflege, pensioniert 1910
38Ella?1903    Tätig in der Privatpflege, ausgeschieden wegen Heirat 1909
39Wolf, Dina190418761942Krudenburg (Crudenburg), heute Hünxe AuschwitzPrivatpflege, Krankenhaus Frankfurt und Hamburg, um 1914-18 Oberschwester der Inneren Abteilung im Krankenhaus Gagernstr., seit 1919 Säuglingsfürsorge Frankfurt, 1924-32 Oberin des jüdischen Krankenhauses in Köln, 1942 Flucht nach Amsterdam und Deportation nach Auschwitz
40Perl, Recha1904    ausgeschieden 1906
41Bargebuhr, Henny1904    ausgeschieden 1907
42Amram, Frieda190518851942Zwesten (Bad Zwesten, Schwalm-Eder)AuschwitzPrivatpflege in Hamburg und Heilbronn, im ersten Weltkrieg im Feld, ab 1913 Oberin des Kinderhaus der Weiblichen Fürsorge. Deportiert nach Ravensbrück und Auschwitz
43Kochmann, Henriette1905    Privatpflege, in Heilbronn und „in der Etappe“ im ersten Weltkrieg
44Hortense?1905    ausgeschieden wg. Heirat 1909
45Kochmann, Dorothea1905    Privatpflege, Dürrheim, Arbeit im Frankfurter „Königswarter Hospital“
46Spiro, Rosa190618851977Prostken, Kreis lyck (Prostki)New YorkPrivatpflege Hamburg, Krankenschwester am Israelitischen Spital Straßburg, Lazarett „Krankenhaus Ost“ im ersten Weltkrieg und in der Etappe, 1919 in Davos, 1921 zurück aus Oberstedten OP- Schwester in Frankfurt. Emigration nach New York 1941, weiter als Krankenschwester tätig, 1977 starb sie in New York
47Fincke, Lina1906 in Hamburg  Hamburg ausgeschieden 1908
48Schönfeld, Bertha190618831941Kesselbach (Ldk. Giessen)Frankfurt a.M.tätig in der Privatpflege, in Straßburg, im ersten Weltkrieg im Lazarett in Frankfurt „Krankenhaus Ost“, danach als Operationsschwester im Krankenhaus, lebt 1934 bis 1938 in Frankfurt außerhalb des Schwesternhauses, kehrt 1938 dorthin zurück, begeht Selbstmord, um der Deportation zu entgehen.
49Hodenberg, Martha1906    ausgeschieden 1912 oder 1913
50De Jong, Rebekka1906    ausgeschieden 1908. Eine Verwandte von Rebecca De Jong könnte Isi De Jong sein, die seit 1946 in den Räumen des Krankenhauses in der Gagernstr. arbeitete.
51Oppenheim, Rita1906    ausgeschieden wg. Heirat 1909
52Müller, Flora1907    ausgeschieden 1910
53David, Käthe1908 1941Oberpleis, SiegkreisFort IX, Kowno, Litauenausgeschieden wg. Heirat 1911, Heirat und Sohn, Rückkehr im ersten Weltkrieg, Kriegskrankenpflege in Frankfurt, Geburt der Tochter, Umzug nach Dessau. Deportation nach Kowno
54Unger, Doris1908    Schwester von Else Unger, Privatpflege, 1910-13 Frankfurter Verband für Säuglingsfürsorge, 1914-1918 Oberschwester der Chirurgischen Abteilung im Krankenhaus Gagernstr., ab 1919 wieder in der Säuglingsfürsorge in Frankfurt
55Unger, Else19081880 Schildberg, Posen Schwester von Doris Unger, Privatpflege, Lazarettpflege, Lazarettzug P.I, 1914-1918 Oberschwester der Poliklinik im Krankenhaus Gagernstr., 1933 bis 39 Berlin. 1940 wieder in Berlin
56Landau, Betty (Bettina)1908    ausgeschieden 1912 oder 13
57Heilbrunn, Henriette (Henni)1908    1919 Ausbildung in Marburg zur Hebamme
58Plaat, Josephine1908    ausgeschieden 1912 oder 13
59Schragenheim, Sara (Sitta)1908    ausgeschieden 1912, 1914 Rückkehr zur Kriegskrankenpflege
60Zucker, Babette19091881Kühlsheim (Baden)  seit 1913 in der Säuglingsfürsorge. Ab 1919 Pflege im Israelitischen Altenheim zu Aachen
61Brück, Blondine (Blandina)19091878 Alsenz, Rheinland-Pfalz um 1910 Pflege im Hospital der Israelitischen Gemeinde und Privatpflege. Ca. 1911 und 1914, Pflege im Israelitischen Krankenhaus Straßburg, 1914-18 Lazarett Straßburg, 1919 Oberschwester Privatabteilung im Frankfurter jüdischen Krankenhaus
62Ehrenreich, Rebekka1909    ausgeschieden 1912 oder 13
63Wieseneck, Rachel (Recha))19091888 Frankfurt a.M. um 1910 Pflege Israel. Krankenhaus Frankfurt a.M. und Privatpflege, 1911-1914 Israelitisches Krankenhaus Straßburg, 1914-18 Lazarett Straßburg, 1919 Frankfurt Gagernstr., 1938 aus Wiesbaden, bis 1942 Frankfurt Gagernstr, vermutlich 1942 „evakuiert“.
64Hirsch, Josephine (Irma)1910    pensioniert 1917
65Seligmann, Grete, verh. Adelsheimer191018861944WandsbekAuschwitz1910-14 „Königswarter Hospital“.
Lazarettdienst. Lazarettzüge, besonders Bulgarien. Bis 1925 am Krankenhaus Gagernstr., danach Heirat, ca. 1942-1944 Leiterin einer Krankenstation in Theresienstadt. 1944 Auschwitz.
66Spier, Lina1910    im ersten Weltkrieg in der deutschen Sanitätsstation für Bulgarien
67Cahn, Jenny1911    ab 1913 Israeltisches Krankenhaus Straßburg. 1914-18 Lazarett Straßburg. 1919 in Frankfurt Gagernstr.
68Heimberg, Erna191118891944Madfeld, Stadt Brilonvermutlich Auschwitz1914-18 OP-Schwester im Frankfurter Lazarett 27, später jüdische Gemeindeschwester. 1936 Rückkehr aus Mannheim in das jüdische Schwesternheim Frankfurt. 1940-41 Rothschild‘sches Hospital. Sie war die letzte Oberin des Gagernkrankenhauses. Deportation 1942 nach Theresienstadt, 1944 nach Auschwitz
69Sachs, Martha Mirjam191118851945Tarnowitz, Oberschlesien (Tarnowskie Góry)Auschwitz1914-18 „im Felde, in der Etappe“. Bis 1942 im Zentrallabor des Gagernkrankenhauses. 1942 Deportation nach Theresienstadt, 1944 nach Auschwitz
70Berger, Beate (Berta, Beth)191218861940Niederbreisig, (Bad Breisig, Ahrweiler)Kirjat Bialik (Palästina)Lehrling und Verkäuferin in Düsseldorf, ab 1910 im „Königswarter Hospital“. Im ersten Weltkrieg in Bulgarien, eine
von vier Vereinsschwestern im Alexanderspital in Sofia. Danach in Pforzheim. 1922-34 Leiterin jüdisches Kinderheim Beit Ahawah in Berlin. 1934-1940
Aufbau eines Kinder- und Jugenddorfes in Palästina. Rettung vieler Kinder aus Deutschland. Sie starb in Palästina.
71Jacobsohn, Meta1911 1918  pensioniert 1915
72Glaser, Gertrud19121884 Hindenburg, Oberschlesien 1913-1918 Krankenhaus und Lazarettdienst in Straßburg. Privatpflege in Frankfurt. 1919 bis 1939 Bornheimer Landwehr 85, Schwesternhaus. 1939 Flucht nach Santiago de Chile
73Bender, Clara1913    1914-1918 Frontkrankenschwester
74Grünebaum, Emmy1913    1914-1918 Frontkrankenschwester
75Lehmann, Regine19131881 Würzburg seit 1923 in Bad Nauheim. 1925 bis 1930 Leiterin des Israeltischen Frauenheims in Bad Nauheim. Aus Bad Nauheim verzog sie 1937, unterschiedliche Aussagen zu ihrem Schicksal

Biografien einiger Schwesternschülerinnen

Frieda Amram (1885-1942)

Oberin Frieda Amram
Oberin Frieda Amram mit einem Schützling, Frankfurter Kinderhaus der ,Weiblichen Fürsorge‘, um 1939
Nachweis: Aus dem Poesiealbum von Inge Grünewald (Ines Ariel), Bl. 32R, in: Volker Mahnkopp, Dokumentation zu vom NS-Staat verfolgten Personen im Frankfurter Kinderhaus der Weiblichen Fürsorge e. V. Hans-Thoma-Straße 24. Frankfurt a.M., Stand: 23.03.2019, https://www.platz-der-vergessenen-kinder.de [12.08.2020]

Frieda Amram kam 1905 als Schwesternschülerin zum Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main. Anschließend arbeitete sie in der Privatpflege in Frankfurt, dann in Hamburg und Heilbronn. Im ersten Weltkrieg diente sie in der Etappe, ab 1913 war sie Oberin des Kinderhaus der Weiblichen Fürsorge. Sie wurde in Auschwitz ermordet. Ausführliche Informationen: „Deine Dir gute Obeli“ und  Chronologie zu Schwester Frieda Amram.

Bertha Schönfeld (1883-1941)

Schwester Bertja
Schwester Bertha im Operationssaal des Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde in der Gagernstraße 36, 1931
Aus: Thea Levinsohn-Wolf, Stationen einer jüdischen Krankenschwester. Deutschland – Ägypten – Israel, Frankfurt am Main 1996: 28

Bertha Schönfeld erhielt ihre Ausbildung im Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main im Jahre 1906. Sie war in der Privatpflege tätig, kam dann in das israelitische Spital nach Straßburg und arbeitete während des ersten Weltkriegs im Frankfurter Lazarett des Vereins. Nach dem Krieg war sie Operationsschwester im Krankenhaus in der Gagernstraße. Sie konnte sich in den Jahren 1934 bis 1938 eine Wohnung außerhalb des Schwesternhauses leisten. 1938 kehrte sie ins Schwesternhaus zurück. 1941 nahm sie sich 1941 das Leben. Ausführliche Informationen: Frankfurter Grabsteine als letzte Zeugen – die Krankenschwestern Bertha Schönfeld und Thekla Dinkelspühler und in der Chronologie zu Bertha Schönfelds Leben.

Beate Berger (1886-1940)

Beate Berger
Oberin Beate Berger, ohne Jahr (um 1924)
Credit: United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Ayelet Bargur

Beate Berger war Verkäuferin in Düsseldorf und lernte im einem Manufakturwarengeschäft bevor sie 1910 ihre Arbeit im „Königswarter Hospital“ in Frankfurt am Main begann. Eine Schwesternausbildung erhielt sie 1912 im Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main. Im ersten Weltkrieg leistete sie ihren Dienst im Lazarett des Vereins und nahm von 1916-1918 an der „Deutschen Sanitätskolonne für Bulgarien“, als eine von vier Vereinsschwestern, teil. Seit 1918 war sie Oberschwester in Frankfurt und auch in Pforzheim. 1922-34 hatte sie die Leitung des jüdisches Kinderheims Beit Ahawah in Berlin inne. Ab 1934 half sie ein Kinder- und Jugenddorf in Palästina aufzubauen und konnte viele der Kinder aus Deutschland retten. Sie starb 1940 in Palästina. Ausführliche Informationen: „Ausdauer, Energie und Opferbereitschaft“ und unter Chronik.

Rosa Spiro (1885-1977)

Rosa Spiero / In New York.
Aus: Thea Levinsohn-Wolf 1996: Stationen einer Krankenschwester. Frankfurt a.M.: 139

Rosa Spiro (auch Rosalie Spiero) wurde am 12.03.1885 in Prostkren, Kreis Lyck (heute Prostki, Polen) geboren. Ihre Ausbildung zur Krankenschwester erhielt sie 1906 im Verein für Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main, anschließend arbeitete sie in der Privatpflege in Frankfurt und in Hamburg (vgl. Steppe 1997: 228). Seit 1911 pflegte sie im Israelitischen Krankenhaus in Straßburg, in der Clinique Adassa. Über die Zeit in Straßburg informiert ausführlich der Artikel Frankfurter jüdische Krankenpflege in Straßburg (Elsass)

Zur Modernisierung des Klinikbetriebs in Straßburg entsandte der Verein am 1. Juli 1911 drei Schwestern, Operationsschwester Bertha Schönfeld, Narkoseschwester und Oberschwester Rosa Spiro und als Oberin Julie Glaser. Rosa Spiro wurde Oberschwester, also Bertha Schönfelds Vorgesetzte. Im selben Jahr folgten die Frankfurter Krankenschwestern Blondine Brück und Rahel (Recha) Wieseneck. Weitere ‚Frankfurterinnen‘ im Israelitischen Krankenhaus Straßburg waren die zwischen 1911 und 1914 ausgebildeten Jenny Cahn, Gertrud Glaser, Ricka Levy und Bella Peritz (vgl. Verein für jüdischen Krankenpflegerinnen 1920: 40-49).

Krankenhaus Strassburg
Israelitisches Krankenhaus Straßburg, Hagenauer Platz (Place de Haguenau), um 1894
Aus: Architekten und Ingenieur-Verein für Elsass-Lothringen (Hg.): Strassburg und seine Bauten, Strassburg 1894: 523

Über den Beginn des 1. Weltkriegs und seine Auswirkungen im Krankenhaus in Straßburg zeugt ein Bericht einer nicht namentlich genannten Schwester: „Uns Schwestern traf die Nachricht vom Krieg überraschend und niederschmetternd. Schwester Oberin war noch auf Urlaub. In Straßburg herrschte die größte Erregung. Niemand dort zweifelte, daß die Stadt in den nächsten Tagen von den Franzosen besetzt oder mindestens eingeschlossen und belagert würde. Das bis auf das letzte Bett besetzte Krankenhaus entleerte sich in wenigen Stunden. Die meist aus der Umgebung stammenden Kranken wurden, selbst in schwersten Zuständen, von den kopflosen Angehörigen nach Hause abgeholt. Uns Schwestern fragte der Krankenhausarzt, Herr Dr. Bloch, ob wir nicht nach Frankfurt abreisen wollten, oder was wir sonst beabsichtigten. Aber wir erklärten ihm einstimmig, daß wir den Posten, auf dem man uns gestellt, nicht verlassen würden. Bald darauf kam noch die Depesche aus Frankfurt, die uns die gleichlautende Anordnung des Mutterhauses brachte. Dann waren wir von Frankfurt abgeschlossen. Von unserem Verein wie von unseren Angehörigen hörten wir lange nichts mehr.“ (Ebd.: 38-39).

Rosa Spiro war zu diesem Zeitpunkt wohl schon zurück in Frankfurt wo der Verein und die Schwestern beschlossen hatten möglichst viele Schwestern für den Dienst im Feld freizustellen. Rosa Spiro gehörte zu einer ersten Gruppe von sechs Schwestern, die im Oktober 1914 mit dem Kriegslazaretttrupp 126 an die Westfront abrückten. Es waren die Schwestern Rosa Spiro, Frieda Amram, MiriamSachs, Clara Bender, Ella ? und Hilde Rewalt. Die Schwestern Frieda und Hilde wurde 1915 durch Emmy und Susanne ersetzt. Sie pflegten an den östlichen Kriegsschauplätzen und wieder in Belgien und Frankreich: „Im Western pflegten unsere Schwestern nacheinander in Kriegslazaretten zu Deynze, Roulers, Emelghem, Iseghem. Im August 1916 kam der Trupp nach dem Osten. Ostrolenka, Bialystock, Grodno, Lida in Rußland, Plewna, das gerade eroberte Bukarest waren die Stationen. Dann ging es wieder nach Belgien (Chimay, Montmigny), nach Frankreich (Monthermé, Pesches, Rochefort, Jemelle). So haben sie den meisten blutigen Schauplätzen dieses unerhört schweren und langen Kampfes tätig nahe gestanden…“ (ebd.: 41).

1919 wurde Rosa Spiro Oberschwester an der Israelitischen Lungenheilanstalt in Davos, in der Schweiz. Genauer im Haus „Ethania“. Überliefert ist ein Lawinenunglück welches sich dort ereignete, Schwester Rosa wird ebenfalls erwähnt (Das Lawinenunglück in Davos):Beim ersten Sturz wurde schon unser Küchenmädchen im Saal begraben. Herr Dr. Oeri, die Schwester und Herr Jurowitsch hatten sie gerade ausgegraben, sie und sich selbst in die Südzimmer des Hauses gerettet, als schon die zweite Lawine kam. Es wurde ganz dunkel. Frl. K. saß bei mir auf dem Bette und sagte: ‚Wir wollen doch zusammen sterben!‘ – Als dann alles vorbei war, mussten sich die Hilfsmannschaften erst einen Weg bahnen. Die Nordzimmer sind eingestürzt und die Treppen auch. Dr. Oeri ist vom dritten Stocke den Terrassen entlang auf die Straße hinuntergeklettert und musste unten vor dem Hause erst die Verschütteten ausgraben. Dann sind alle, die gehen konnten, durch die geschaffene Bahn gerutscht und sind zum Teil in einem Hotel und im ‚Neuen Sanatorium‘ in Davos-Dorf untergebracht. Wir waren drei Personen, die man tragen, vielmehr ziehen musste. Nun wir sind auch hinausgekommen. ‚Wie‘ ist ja ganz egal, die Hauptsache ist, dass wir in Sicherheit sind. Wir waren dann bis 10 Uhr abends in einem Hotel, wo man uns sehr freundlich aufgenommen hatte. Um 10 Uhr wurden wir mit Schwester Rosa, die am ganzen Körper blaue Flecken hat, und bis zuletzt aufopferungsvoll auf dem Platze arbeitete, nach dem neuen Sanatorium gebracht. Wir waren so glücklich, als wir endlich in ein Bett kamen. Die anderen Patienten waren schon seit 7 Uhr in diesem Sanatorium. Am anderen Morgen kamen auch alle Insassen der ‚Etania‘ [sic] in mein Zimmer, und Ihr könnt Euch kaum denken, wie glücklich wir alle waren, uns gesund wiederzusehen…“ (ebd.).

Von 1920 bis 21 pflegte Rosa Spiro im Genesungsheim der Eduard und Adelheid Kann-Stiftung in Oberursel in der Nähe von Frankfurt. Anschließend war sie im Jüdischen Krankhaus der Frankfurter jüdischen Gemeinde in der Gagernstr.36 in der chirurgischen Abteilung tätig. Kolleginnen waren hier unter anderen Thea Wolf und auch Bertha Schönfeld (s.o.).

Am 24.03.1941 konnte Rosa Spiro aus Deutschland entkommen und emigrierte nach New York wo sie weiter als Krankenschwester arbeitete. Laut Schiffsliste aus Ellis Island kam sie am 1. Januar 1941 auf der Nyassa dort an. Im März 1977 starb sie in New York (vgl. U.S. Social Security Death Index).

Margarete (Grete) Seligmann, verheiratete Adelsheimer (1886-1944)

Margarete Seligmann (vgl. Heuss-Czisch/Lauxmann) wurde am 31. Mai 1886 in Wandsbek (heute Stadtteil von Hamburg) geboren. 1910 erhielt sie ihre Ausbildung zur Krankenschwester im Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main und pflegte bis 1914 im „Königswarter Hospital“. Während des ersten Weltkriegs diente sie im Lazarettdienst, in Lazarettzügen und besonders in Bulgarien wohin sie ab 1916 im Rahmen der Deutschen Sanitätsmission für Bulgarien beordert worden war. Mit ihren Kolleginnen Sara Adelsheimer, Beate Berger und Lina Spier war sie im Krankenhaus in Jamboli und darauf im Alexander-Spital zu Sofia, einem Großkrankenhaus mit 1000 Betten und einer internationalen Patientenschaft. „Bei ihrer Stationierung im damaligen Bulgarien zog sie sich Malaria zu. Dafür erhielt sie eine Rente. Auf ihre Orden und Ehrenabzeichen aus dieser Zeit war sie sehr stolz.“ (Ebd.)

Eine besondere Leistung des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main war die Beteiligung am Frankfurter Lazarettzug P.I. (vgl. Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1920: 54-56). Für den vom Frankfurter Roten Kreuz betriebenen Lazarettzug P.I wurden sechs neue Wagen im Auftrag des Vereins eingerichtet. Unterstützung gab es durch die Frankfurt-Loge, die Frankfurter Frauen-Vereinigung, die Weibliche Fürsorge und viele einzelne Spender. Neben dem Stammpersonal des Roten Kreuzes schlossen sich ab dem 1. März 1915 vom Verein „Dr. Deutsch als leitender Arzt sowie Schwester Ida [Holz] und Schwester Grete [Seligmann] dem alten Personal des Zuges an.“ (Ebd.: 57). Der Zug war vier Jahre und einen Monat lang in Betrieb. Tätigte 147 Transporte mit 177.000 km Fahrleistung und beförderte nahezu 30.000 Personen.“ (Ebd.: 54) Er war jedoch auch Angriffen ausgesetzt, Fliegerangriffe gab es z.B. 1916 und 1918 bei Cambrai und in Péronne. Der Bericht erwähnt sechs Tote (davon ein Pfleger), weitere Verletzte und Verluste von mehreren Wagen (ebd.: 56).

Im Jahresbericht des Vereins von 1920 für 1913-1919 fasst der Autor zusammen: „49 Schwestern erhielten im ganzen 78 Auszeichnungen, die meisten die Rote-Kreuz-Medaille III. Kl., einige auch II. Kl., und die Frankfurter Schwestern-Medaille. Im ganzen waren im Laufe der Jahre sämtliche Schwestern für den Heeresdienst verwendet worden, die weitaus meisten die ganz Kriegszeit hindurch. Als kleinste Zahl waren 56 Schwestern gleichzeitig in der Soldatenpflege tätig.“ (Ebd.: 56) Der Autor begegnet auch Nachfragen, warum denn nicht mehr der Schwestern ihrer Aufgabe im zivilen Bereich nachgekommen waren, indem er betonte, dass dort geholfen werden sollte, wo die Hilfe am nötigsten war „Und der unwiderstehliche innere Trieb, der uns als Deutsch hinzwang zum kämpfenden Vaterlande und seinen blutenden Besten…“ (edb.).

Grete Seligmann arbeitete anschließend bis 1925 im Jüdischen Krankenhaus in der Gagernstraße bis zu ihrer Heirat mit Alexander Adelsheimer (1880-1933), dem Bruder der Kollegin Sara Adelsheimer, der späteren Oberin des Frankfurter Schwesternvereins (vgl. Steppe 1997: 229). Ihr Ehemann war Religionsoberlehrer beim Oberrat der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs in Stuttgart. Er starb am 27. Dezember 1933 in Stuttgart. Alexander Adelsheimer brachte zwei Töchter mit in die Ehe. In der NS-Zeit flüchteten beide, möglicherweise zusammen mit ihrer Tante Sara Adelsheimer, nach Palästina.

Anfang der 1940er Jahre wurde Margarete Adelsheimer nach Eschenau „evakuiert“.  Am 22. August 1942 folgte ihre Deportation nach Theresienstadt (vgl. Gedenkbuch BA Koblenz). Am 19.10.1944 wurde sie in das Vernichtungslager Auschwitz transportiert und dort ermordet (vgl. ebd.). Margarete Adelsheimers nach Tel Aviv geflüchtete Töchter erfuhren später von einer Überlebenden, dass „ihre Mutter auch In Theresienstadt als Krankenschwester tätig war und eine Krankenstation leitete“ (vgl. Heuss-Czisch/Lauxmann).

Glaser, Gertrud (1884-?)

Gertrud Glaser wurde am 07.02.1884 in Hindenburg (Oberschlesien) geboren (heute Zabrze, Polen) (vgl. Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, Hausstandsbuch, Bornheimer Landwehr 85: 22). 1912 erhielt sie ihre Ausbildung zur Krankenschwester im Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main. Um 1913 pflegte sie im Straßburger Israelitischen Krankenhaus. Während des ersten Weltkriegs blieb sie in Lazaretten in Straßburg. Nach dem Krieg arbeitete sie in der Privatpflege. Sie wohnte im Schwesternhaus in der Bornheimer Landstraße 85 bis zum August 1939, in dem Monat, in dem sie nach Santiago de Chile ausreisen konnte (vgl. Steppe 1997: 230).

Edgar Bönisch, April 2021

Quellen

Archivmaterial

  • Yad Vashem, Jerusalem (Gedenkblätter)
  • Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Entschädigungsakten, Personen
  • Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Entschädigungsakten, Institutionen
  • Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, HB 655, Bornheimer Landwehr 85
  • Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, HB 686 und 687, Gagernstraße 36
  • Gedenkbuch BA Koblenz
  • Stadtarchiv Bad Nauheim

Literatur, Bilder und Internetquellen

  • Altenmüller, Irene 2021: Wie Frauen sich ihr Wahlrecht erkämpft haben. https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Frauenwahlrecht-in-Deutschland-Die-Geburtsstunde,frauenwahlrecht110.html (29.03.2021)
  • Betzien, Petra 2018: Krankenschwestern im System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Selbstverständnis, Berufsethos und Dienst an den Patienten im Häftlingsrevier und SS-Lazarett. Frankfurt am Main
  • Bönisch, Edgar 2015: Die Ausbildung von Krankenpflegerinnen durch die Logenvereinigung Unabhängiger Orden Bnei Briss (UOBB). https://www.juedische-pflegegeschichte.de/die-ausbildung-von-krankenpflegerinnen-durch-die-logenvereinigung-unabhaengiger-orden-bnei-briss-uobb/# (19.03.2021)
  • Bude, Heinz 2000: Qualitative Generationsforschung, in: Uwe Flick, Ernst von Kardoff, Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Hamburg: 187-194
  • Das Lawinenunglück in Davos. In: Der Israelit vom 15. Januar 1920, zitiert nach https://www.alemannia-judaica.de/davos_juedgeschichte.htm (15.02.2020)
  • Delegierten-Versammlung 1904: Delegierten-Versammlung der Vereinigung zur Ausbildung jüdischer Krankenpflegerinnen in Deutschland im September 1904 zu Frankfurt a. M. im Schwesternheim Königswarterstraße 20. Frankfurt a. M. o. J. [1904]
  • Delegierten-Versammlung 1905: Delegierten-Versammlung der Vereinigung zur Ausbildung jüdischer Krankenpflegerinnen in Deutschland zu Berlin 1905 […]. Berlin o. J. [1905]
  • Deutscher Bundestag: Kaiserreich (1871 – 1918). https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/parlamentarismus/kaiserreich (25.03.2021)
  • Hanauer, Wilhelm 1914: Festschrift zur Einweihung des neuen Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde zu Frankfurt am Main. Frankfurt am Main
  • Helmerichs, Jutta 1992: Krankenpflege im Wandel (1890 bis 1933). Dissertation Universität Göttingen
  • Heuss-Czisch, Barbara/Lauxmann, Jennifer: Margarete Adelsheimer. In: Gegen das Vergessen. Stolpersteine in Stuttgart. https://www.stolpersteine-stuttgart.de/index.php?docid=530 (30.03.2021)
  • Hochschule für Frauen zu Leipzig. https://de.wikipedia.org/wiki/Hochschule_f%C3%BCr_Frauen_zu_Leipzig (17.03.2021)
  • Jüdische Gemeinde Frankfurt/M: Die Geschichte der Jüdischen Gemeinde Frankfurt. https://www.jg-ffm.de/de/gemeinde/geschichte (29.03.2021)
  • Käppner, Joachim 2021: Des Kaisers alte Kleider. Das Wilhelminisch Reich war nicht besser als sein Ruf. Im Gegenteil. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 63, 17. März 2021, München
  • Krankenpfleger. https://de.wikipedia.org/wiki/Krankenpfleger (17.03.2021)
  • Krohn, Helga 2000: Ein „Gruss aus Frankfurts schönstem Stadtteil“ – Blick in die Frankfurter Stadtentwicklung. In: Krohn, Helga: Ostend. Blick in ein jüdisches Viertel (Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung), Frankfurt am Main
  • Liste Deutscher Reichskanzler. https://www.science-at-home.de/wiki/index.php/Liste_deutscher_Reichskanzler (25.03.2021)
  • Mühlberger, Martina 1966/67: Geschichte der Krankenpflege. http://www.carolusbrevis.de/martina/KPflege/Krankenpflege.pdf (17.03.2021)
  • Nolte, Karen 2020: Sorge für Leib und Seele. Krankpflege im 19. und 20. Jahrhundert. In: Bundeszentrale für politische Bildung: Pflege. Praxis – Geschichte – Politik. APuZ (Aus Politik und Zeitgeschichte) Schriftenreihe Band 10497, Bonn
  • Osterhammel, Jürgen 2012: Das 19. Jahrhundert. 1880 bis 1914. In: Informationen zur Politischen Bildung (Heft 315). https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/informationen-zur-politischen-bildung/142156/das-19-jahrhundert (01.09.2020)
  • Seemann, Birgit/Bönisch, Edgar unveröffentlicht: Conflicts during the Institutionalisation of German-Jewish Nursing (1880-1910)
  • Steppe, Hilde 1997: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre …“. Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt/M.
  • Titzenthaler, Waldemar Franz Hermann 1910: Paul Ehrlich Arbeitszimmer. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Paul_Ehrlich_Arbeitszimmer.jpg (29.03.2021)
  • Ulmer, Eva-Maria 2009: Der Beginn der beruflich ausgeübten Pflege im 19. Jahrhundert. https://www.juedische-pflegegeschichte.de/der-beginn-der-beruflich-ausgeuebten-pflege-im-19-jahrhundert/ (17.03.2021)
  • U.S. Social Security Death Index. https://www.ancestry.com/search/collections/3693/
  • Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1899: 6. Jahresbericht des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main
  • Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1900: 7. Jahresbericht des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main
  • Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1902: 9. Jahresbericht des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main: Anhang
  • Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1908: 15. Jahresbericht des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main
  • Verein für jüdische Krankenpflegerinnen 2020: Rechenschaftsbericht für die Jahre 1913 bis 1919 des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main
  • Vom gottgefälligen Dienen zur Profession: Gesundheits- und Krankenpflege https://www.diakonie.de/soziale-berufe (17.03.2021)
  • Zeittafel medizinischer Entwicklung. https://de.wikipedia.org/wiki/Zeittafel_medizinischer_Fortschritte (29.03.2021)
  • Ziemann, Benjamin 2016a: Das Kaiserreich als Nationalstaat. In: Bundeszentrale für politische Bildung, Informationen zur politischen Bildung, Nr. 329, 1/2016
  • Ziemann, Benjamin 2016b: Deutschland in der Welt. In: Bundeszentrale für politische Bildung, Informationen zur politischen Bildung, Nr. 329, 1/2016