Wer nach den Ursprüngen jüdischer Krankenpflege forscht, stößt auf den hebräischen Begriff „Bikkur Cholim“ (deutsch: Krankenbesuch): Widmet sich ein Mitglied der jüdischen Gemeinde einem erkrankten Mitmenschen, erfüllt es gleich mehrere Gebote der Tora. Der Krankenbesuch ist von dem Gebot der Nächstenliebe (Lev. 19, 18, vgl. auch Lewkowitz 1987) nicht zu trennen und für alle jüdischen Gläubigen eine heilige Pflicht (Mitzwa). Sie „gilt nicht nur für Israeliten […], der Besuch ist auch bei Nicht-Israeliten auszuführen, um gute gesellschaftliche Beziehungen zu bewahren. Ein Erwachsener hat die Pflicht auch kranke Kinder zu besuchen, ein Gelehrter soll auch einfache Leute, ein Frommer auch Unfromme besuchen“ (Kottek 2010, S. 35). Es entsprach den Traditionen der jüdischen Sozialethik, dass sich die nach der Auflösung des Judenghettos gegründeten jüdischen Krankenhäuser zu Frankfurt am Main allen Heilung Suchenden öffneten.
In Deutschland existierte vor und neben der christlichen (künftig wohl auch islamischen und interkulturellen) stets auch eine jüdische Krankenpflege. In den beengten Verhältnissen der europäischen Ghettos Europas, in die die christliche Mehrheitsbevölkerung ihre jüdischen Nachbarn pferchte, waren gesundheitliche Selbsthilfe und Vorsorge gegen ansteckende Krankheiten unumgänglich. Mit der Errichtung des Judenghettos 1462 entstand in Frankfurt am Main das erste dort nachweisbare jüdische Spital. Jahrhunderte später endete Frankfurts jüdische Pflegegeschichte in der organisierten Vernichtung des Nationalsozialismus. Wie die Pflegeforscherin Hilde Steppe in ihrem Standardwerk zur jüdischen Pflegegeschichte hervorhebt, ergibt sich auch aus den „vielfältigen Erwähnungen des Krankenbesuchs in den talmudischen Schriften … die hohe Bedeutung, die dem Krankenbesuch im Judentum beigemessen wird“ (Steppe 1997: 82f.; siehe auch Probst (Hg.) 2017). Daher muss vor der Bikkur Cholim keine Bracha (deutsch: Segen) gesprochen werden (Ahren 2001).
Über den Ursprung des jüdischen Krankenbesuchs informierte der Sozialmediziner Dr. Wilhelm Hanauer 1914 anlässlich der Einweihung des neuen Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde zu Frankfurt am Main: „In vielen Städten befanden sich zur Zeit des Tempels [= altisraelitisches Heiligtum in Jerusalem, B.S.] fromme Brüderschaften, die Chaberim, die neben der Armenpflege und der Totenbestattung auch die Krankenpflege ausübten. Diese Brüderschaften sind vielleicht die Vorläufer der noch heute in fast allen jüdischen Gemeinden bestehenden Chewra Kadischa [= Beerdingungsgesellschaften, B.S.]“ (Hanauer 1914: 7). Während die Männervereinigungen sich um männliche Kranke kümmern, betreuen entsprechende Frauenvereinigungen die weiblichen Patienten. Die Bikkur Cholim bleibt dabei nicht auf die Körperpflege und Reinigung des Krankenzimmers beschränkt: „Man solle ferner den Kranken auch psychisch beeinflussen, ihn unterhalten und trösten, für seine Genesung beten. Es war ferner Sitte, dass auch Gebete für die Kranken in der Synagoge verrichtet wurden“ (ebd.). Dem einflussreichen „Schulchan Aruch“ zufolge – das erstmals 1565 in Venedig gedruckte Handbuch des Rabbiners Josef Karo überliefert und kommentiert das Gesetzeswerk (Halacha) des Judentums – gehört zu einer umfassenden Pflege auch die materielle Unterstützung bedürftiger Kranker.
Bikkur Cholim und die interkulturelle Pflege Die Einhaltung jüdischer Feiertage und die koschere Speisezubereitung sind Teil der jüdischen Pflege. Nahezu jedes jüdische Krankenhaus verfügte und verfügt über eine eigene Haussynagoge. Größere Einrichtungen setzen am Sabbat nichtjüdisches Pflegepersonal ein. Den autobiographischen Aufzeichnungen der während der NS-Zeit nach Ägypten emigrierten Krankenschwester Thea Levinsohn-Wolf verdanken wir einen lebendigen Einblick in die Pflegeethik des Jüdischen Krankenhauses von Alexandria: „[…] wir nahmen uns vor, das Krankenhaus so zu führen, wie wir es vom Krankenhaus der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main her gewohnt waren: hohes medizinisches Niveau, gute Pflege, menschliche Wärme und Verständnis den Patienten gegenüber, gegenseitige Hilfsbereitschaft und enge Zusammenarbeit des gesamten Personals zum Wohle der Kranken, Behandlung jedes Pflegebedürftigen, der an unsere Pforte klopfte, egal welcher Hautfarbe und Nationalität, sei er arm oder reich, Jude, Christ oder Araber. […] Wir hatten einen Hausrabbiner, dessen Hauptaufgabe u.a. darin bestand, neben den sterbenden Patienten zu sein, mit ihnen zu beten, auch bei den Toten bis zu deren Bestattung zu bleiben und die religiösen Waschungen der Verstorbenen zu begleiten. Selbstverständlich konnte jeder Kranke einen Priester seiner Religion zu sich bitten. So lernten wir Priester sämtlicher Religionen kennen. Sie alle wurden von uns immer mit der ihnen gebührenden Ehrerbietung empfangen“ (Levinsohn-Wolf 1996, S. 38, S. 40). Die jüdischen Diaspora- und Migrationserfahrungen formten die Bikkur Cholim zu einer Vorreiterin interkultureller Pflege. Bis heute kommen das Personal und die Patientinnen und Patienten aus den verschiedensten Ländern und Regionen; ihre religiösen und politischen Anschauungen sind vielfältig.
Zur Aktualität von Bikkur Cholim und der jüdischen Krankenpflege in Deutschland Während der sozioökonomischen Umbrüche in Osteuropa nahm dort seit Beginn der 1990er Jahre der Antisemitismus zu; etwa 100.000 Betroffene wanderten als Kontingentflüchtlinge in die Bundesrepublik ein. Mit den gewachsenen oder neu gegründeten jüdischen Gemeinden entstanden in vielen Städten und Gemeinden Chewra Kaddischa- und Bikkur Cholim-Initiativen. Zur Gründung neuer jüdischer Krankenhäuser kam es bislang (Stand: 2017) noch nicht. Einzig das Jüdische Krankenhaus Berlin hatte die NS-Zerstörung des jüdischen Pflegewesens überlebt und konnte 2006 sein 250-jähriges Bestehen feiern. Auch in Frankfurt am Main bleiben jüdische Kranke weiterhin auf städtische und christliche Kliniken angewiesen. Ansprechpartner/innen finden sie bei der Frankfurter „Bikkur Cholim“, einer Unterabteilung der hiesigen traditionellen Beerdigungsbrüderschaft Chewra Kadischa.
Außerhalb Deutschlands tragen jüdische Krankenhäuser wie das Bikur Cholim Hospital in Jerusalem den Namen Bikkur (oder: Bikur) Cholim. So findetdie Tradition des jüdischen Krankenbesuchs ihre aktuelle Fortsetzung.
Epstein, Sharon Selib 1999: Visiting the sick. The mitzvah of bikur cholim. Northvale, N.J. (Jason Aronson)
Hanauer, Wilhelm 1914: Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Frankfurt am Main. In: Festschrift zur Einweihung des neuen Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde zu Frankfurt. Frankfurt/M., S. 7
Herlitz, Georg/ Kirschner, Bruno (Begr.) 1987 [1927]: Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden […] unter red. Mithilfe v. Ismar Elbogen […]. Frankfurt/M., Bd I: A-C, S. 1038
Kottek, Samuel S. 2010: Wohlfahrtspflege in der jüdischen Gemeinde: der Krankenbesuch. In: Heidel, Caris-Petra (Hg.) 2010: Jüdische Medizin – Jüdisches in der Medizin – Medizin der Juden? Frankfurt/M., S. 33-38 – [Siehe auch die Beiträge von Gerhard Baader und Caris-Petra Heidel in diesem Band]
Levine, Aaron 1987: Bikkur Cholim. How to perform the great mitzvah of visiting the sick, Toronto, Kanada (Zichron Meir Publications) 1987
Levinsohn-Wolf, Thea 1996: Stationen einer jüdischen Krankenschwester. Deutschland – Ägypten – Israel. Frankfurt/M.
Lewkowitz, Julius 1987 [1927]: Nächstenliebe. In: Herlitz/ Kirschner, Bd IV/1, S. 374f.
Lewy, Wilhelm 1987 [1927]: Bikkur Cholim. In: Herlitz/ Kirschner, Bd I, S. 1038
Probst, Stephan M. (Hg.) 2017: Die Begleitung Kranker und Sterbender im Judentum. Bikkur Cholim, jüdische Seelsorge und das jüdische Verständnis von Medizin und Pflege. Berlin
Ryzhik, Arkady 2011: „Wie Er die Kranken besuchte, sollst auch du sie besuchen.“ Bikkur Cholim – Die Stunden eines Seminars. In: Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V., Frankfurt am Main: ZWST informiert, Dez. 2011, Ausg. 4, S. 11 (online: http://www.zwst.org/de/home/)
Steppe, Hilde 1997: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre …“. Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt/M.
Zwebner, Bat Tova/ Shofnos, Chana 1989: The healing visit. Insights into the mitzvah of bikur cholim. Southfield, Mich., USA (Targum Press)
Käppeli, Silvia 2004: Die Anfänge der jüdischen Krankenpflege. In: dies.: Vom Glaubenswerk zur Pflegewissenschaft. Geschichte des Mit-Leidens in der christlichen, jüdischen und freiberuflichen Krankenpflege. Bern u.a., S. 117-126
Trabert, Brigitte 2005: Patienten jüdischen Glaubens und die Krankenpflege in deutschen Kliniken. Soziale Repräsentationen pflegerischen Handelns. Münster
Im Mittelalter fungierte ein Siechenhaus vor allem als Seuchenspital (etwa für Leprakranke). Dort wurden die ‚Insassen‘ von der gesunden Bevölkerung abgesondert und gleich Häftlingen teils ‚lebenslänglich‘ ‚verwahrt‘. Im Zuge der Industrialisierung wandelte sich das Siechenhaus zum Asyl für Bedürftige mit Gebrechen, chronischen Leiden und Behinderungen: Infolge des Zerreißens familiärer und dörflicher Netze durch Abwanderung in die Städte sowie der zunehmenden Spezialisierung der Hospitäler auf heilbar Kranke konnten sie nicht mehr versorgt werden und vegetierten dahin. Auch Betagte fanden Zuflucht: Vor der Einrichtung der „ersten reinen Alters- und Siechenheime“ im 19. Jahrhundert waren sie noch „in Armen- und Arbeitshäusern untergebracht worden, in denen auch ‚Personen mit schlechtem Leumund‘, ‚Schwachsinnige‘, ‚unverbesserliche Alkoholisten‘, ‚Arbeitsscheue‘ und Straffällige lebten“ (Graber-Dünow 2013: 245). Gebrechliche mussten für ihren Unterhalt arbeiten, Anstaltskleidung tragen und sogar körperliche Misshandlungen fürchten. Hier galt es Abhilfe zu schaffen: Professionelle „Unheilbarenhäuser“ (Stolberg 2011: 71) wurden zu Vorläufern der heutigen modernen Alten- und Pflegeheime und stationären Hospize. In Frankfurt am Main gehörten hierzu außer dem Gumpertz´schen Siechenhaus das städtische Armen- und Siechenhaus Sandhöfer Allee (später Krankenhaus Sandhof), das Schmidborn-Rückersche Siechenhaus, das vom Diakonissenverein betriebene Karl und Emilie Jaegersche Kindersiechenhaus und seit 1922 auch das jüdisch gegründete Krankenhaus Rödelheim (vgl. Aktenbestand im ISG Ffm).
Die beschleunigte Industrialisierung im Wilhelminischen Kaiserreich stellte auch die jüdischen Gemeinden vor neue Herausforderungen. So stieg etwa im Frankfurter Stadtteil Ostend, wo einkommensschwache Jüdinnen und Juden wohnten und seit den 1880er Jahren immer wieder antisemitisch Vertriebene aus Osteuropa eintrafen, der Pflegebedarf. Die Israelitische Religionsgesellschaft (konservative Austrittsgemeinde, die die größere liberale Israelitische Gemeinde zu Frankfurt am Main verlassen hatte) sorgte sich zudem um die angemessene rituelle Betreuung jüdischer Pflegebedürftiger. Ergebnis dieser Überlegungen war eine eigenständige stationäre Einrichtung für gebrechliche, unheilbar kranke und bettlägerige Bedürftige jüdischen Glaubens: das Gumpertz´sche Siechenhaus, das gemäß der Bestimmungen von Bikkur Cholim (jüdische Pflicht zum Krankenbesuch bzw. zur Krankenpflege) aber auch Nichtjuden offen stand. Nach bescheidenen Anfängen vereinte das Siechenhaus unter einem Dach eine professionelle Kranken-, Schwerbehinderten-, Alten- und Armenpflege. Bald entwickelte es sich zu einem wichtigen Akteur des lokalen jüdischen Wohlfahrtssystems. Beeindruckend sind Zahl und Umfang der Zustiftungen und Spenden durch Angehörige beider Frankfurter jüdischen Gemeinden: für Freibetten, Geräte zur medizinischen Behandlung und Pflege, Bücher und kulturelle Aktivitäten, die Ausrichtung der religiösen Feiern, die Errichtung und Instandhaltung der 1911 eingeweihten Haussynagoge (vgl. GumpSiechenhaus 1909 u. 1913ff.). Die große Bedeutung der Synagoge für die Bewohner/innen des Heims zeigt sich u.a. darin, dass das Siechenhaus mit Salomon Wolpert einen eigenen Hausrabbiner beschäftigte.
Die Anfänge
1888 initiierte die Frankfurter jüdische Stifterin Betty Gumpertz den nach ihr benannten Verein Gumpertz´sches Siechenhaus, um „unbemittelten, dauernd kranken, siechen Personen beiderlei Geschlechts, Unterkunft und Pflege zu gewähren“ und ihnen anstatt bloßer Verwahrung eine kompetente „ärztliche Fürsorge“ angedeihen zu lassen (GumpStatut 1895: 3). Laut Statut war die Absicht „darauf gerichtet, dass bei den Leistungen des Vereins das Religionsbekentniss ausser Betracht bleibe. Da dieses Ziel jedoch mit Rücksicht auf die […] Mittel des Vereins nicht erreichbar ist, so sollen nur Kranke israelitischer Religion berücksichtigt werden. Wenn solche jedoch nicht vorhanden sind, so dürfen auf Beschluss des Vorstands auch Nichtjuden aufgenommen werden“ (ebd.: 4). Die Antragsteller/innen sollten „gut beleumdet“ – dem prüfenden Vorstand war ein Zeugnis über ihr „sittliches“ Verhalten vorzulegen – und mindestens zwei Jahre in Frankfurt „ortseingesessen“ sein. Aufnahme und Betreuung erfolgten in der Regel unentgeltlich. Satzungsgemäß bestand im Siechenhaus „ein Raum für die Verrichtung der Andacht nach streng israelitischem Ritus“ (ebd.: 5), wo nach deren Ableben der Stifterin Betty Gumpertz selbst und verstorbenen Angehörigen ihrer Familie gedacht werden sollte. Im Jahre 1895 bestand der Vorstand des Vereins Gumpertz´sches Siechenhaus aus dem bekannten Sozialreformer und Vorsitzenden Charles L. Hallgarten sowie Michael Moses Mainz (stell. Vors.), Julius Goldschmidt (Schriftführer, später Präsident), Joseph Holzmann (Gegenschreiber), Direktor Hermann Rais (Kassierer), Hermann Schott (Oeconom), Raphael Ettlinger(stellv. Schriftführer u. stellv. Oeconom), dem Bankier Otto Höchberg (Beisitzer) sowie Rechtsanwalt Dr. Julius Plotke. Vermutlich deshalb, weil Frauen laut Preußischem Vereinsgesetz im Deutschen Kaiserreich bis 1908 keinen Verbänden oder Vereinen vorstehen durften, gestaltete Betty Gumpertz ihre Stiftung als Ehrenmitglied und „Ehrendame“ (ebd.: 8); sie war zudem befugt, eine zweite Ehrendame zu benennen. Am 11. Mai 1895 erhielt das Gumpertz´sche Siechenhaus den Status als juristische Person.
Die Standorte
Das Gumpertz´sche Siechenhaus startete 1888 als kleine stationäre Einrichtung in der Rückertstraße (Arnsberg 1983 Bd. 1: 764 u. Bd. 2: 120; Cohn-Neßler 1920: 174; Schiebler 1994: 135, 282). Die Aufnahmekapazitäten waren schnell erschöpft. Betty Gumpertz´ Großspende von 60.000 RM ermöglichte den Erwerb des Grundstücks Ostendstraße 75, wo 1892 ein Gebäude mit anfangs 20 Betten eröffnet wurde (ISG Ffm: Wohlfahrtsamt Sign. 877). Als offizielles Gründungsdatum des Gumpertz´schen Siechenhauses legte der Vorstand des Vereins den 10. Oktober 1892 fest. Im September 1893 stellte eine weitere großzügige Stifterin, Träutchen Höchberg, dem immer stärker nachgefragten Siechenhaus 50.000 RM zur Verfügung (vgl. Schiebler 1994: 135). Dennoch stießen die Räumlichkeiten angesichts des anhaltenden außerhäuslichen Pflegebedarfs wieder an ihre Grenzen. 1898 (vgl. GumpBericht 1899: 894-895) erwarb der Gumpertz’sche Verein das Grundstück Röderbergweg 62-64. Noch im gleichen Jahr bezogen die ersten Bewohner/innen zusammen mit Oberin Thekla Mandel die dortige alte Villa (von der Gumpertz’schen Verwaltung später als ‚Hinterhaus‘ bezeichnet). Der Standort Ostendstraße 75 wurde parallel weitergeführt, bis das jüdische Pflegeheim 1899 ganz in den Röderberweg wechselte und die Liegenschaft verkaufte. Unter der neuen Adresse „Röderbergweg 62“ war das Gumpertz’sche Siechenhaus erstmals 1900 in Mahlau’s Frankfurter Adressbuch (32. Jg. 1900 für das Jahr 1899) erwähnt.
1905 erfolgte die Angliederung der (unselbständigen) Minka von Goldschmidt-Rothschild-Stiftung an den Verein Gumpertz´sches Siechenhaus: Dank der von Mathilde von Rothschild in die Wege geleiteten umfangreichen Schenkung von etwa 1 Million Mark entstand im Röderbergweg62-64 ein Neubau mit mindestens 60 Betten, der mitunter „Rothschild´sches Siechenhaus“ genannt wurde. „[…] durch diesen mitten in dem alten Park liegenden Prachtbau“ wurde das israelitische Kranken- und Siechenheim, wie dessen langjähriger Verwalter Hermann Seckbach hervorhob, „in die Lage versetzt, seine Kranken bei erforderlichen Operationen und dergl.[eichen] selbst behandeln und verpflegen zu können, denn das Stiftungsgebäude enthält Operationssäle, Röntgeneinrichtung, Laboratorium und die verschiedenartigsten elektrischen und sonstigen Bäder“ (Seckbach 1917). Neben dem neu errichteten ‚Vorderhaus‘ umfasste die Liegenschaft Röderbergweg 62-64 noch ein kleineres altes ‚Hinterhaus‘ (Gebäude des Vereins des Gumpertz´schen Siechenhauses), das dem leitenden Arzt Dr. Alfred Günzburg einige Sorge bereitete: „In die neue Stiftung sind gemäß dem ausdrücklichen Wunsch der Stifterin [Mathilde von Rothschild für ihre 1903 verstorbene Tochter Minka, B.S.] nur Frauen aufgenommen worden, während die Männer im alten Hause – einer notdürftig zu Krankenhauszwecken umgewandelten alten Villa – verpflegt werden. Hier fehlt es an Bädern, an Closets und an Spülküchen. Es ist kein Aufenthaltsraum vorhanden! Ein Personenaufzug ist dringend nötig, um Schwerbewegliche in den Garten bringen zu können. Jetzt tritt an den Vorstand die dringende Aufgabe heran, das Männerhaus derartig umzubauen, dass es den wichtigsten Anforderungen der modernen Gesundheitspflege entspricht“ (GumpSiechenhaus 1909, S. 7f.).
Die dringend notwendigen Umbaumaßnahmen fanden statt, und auch das große ‚Vorderhaus‘ wurde weiter modernisiert. Die Unterteilung in ein ‚Männerhaus‘ (Hinterhaus) und ein ‚Frauenhaus‘ (Vorderhaus) bestand noch während des Ersten Weltkrieges. Neben der Krankenpflege im Rothschild´schen Spital und der Kinderkrankenpflege im Rothschild´schen Kinderspital war das auf Behinderten-, Siechen- und Altenpflege spezialisierte Gumpertz´sche Siechenhaus der dritte Pfeiler des Pflegeangebots im Röderbergweg (siehe hierzu auch Eckhardt 2006; Krohn 2000). Alle drei Einrichtungen standen der konservativ-jüdischen Religionsgesellschaft nahe und untereinander im engen Austausch.[
Lazarett im Ersten Weltkrieg
Gleich nach Beginn des Ersten Weltkriegs beteiligte sich das Gumpertz´sche Siechenhaus 1914 an der Frankfurter Kriegskrankenpflege. Als Lazarett 33 geführt, richtete es im ersten Stock des Vorderhauses eine Schwerkrankenstation für Offiziere und Mannschaften mit bis zu 40 Betten ein. Dort kamen Soldaten aller Konfessionen unter, so dass im Lazarett neben den jüdischen Feiern auch das Weihnachtsfest abgehalten wurde. „Es war von der Mobilmachung bis zum 12. Dezember 1918 belegt, verpflegte 671 Soldaten, darunter 434 Verwundete. Außerdem wurden dort 154 Militärpersonen ambulant behandelt“ (Jüdischer Schwesternverein Ffm 1920, S. 36). Der Verwalter Hermann Seckbach nahm auch das Lazarett unter seine bewährte Fittiche. Unter der Leitung seiner späteren Frau, Thekla (Mandel) Isaacsohns Nachfolgerin Oberin Rahel Spiero, pflegten dort einige ihrer Kolleginnen vom Verein jüdischer Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main, deren Namen bisher leider nicht überliefert sind. Auch die Bewohner/innen des Siechenhauses blieben nicht untätig: Einige männliche Patienten errichteten eine Jahrzeitstiftung für Gefallene, „und zwar wird täglich in unserer Anstalts-Synagoge während des Trauerjahres und am Todestage für alle Zeiten ein Licht gebrannt und abwechselnd von den Patienten das Kaddischgebet verrichtet“ (Rechenschaftsbericht 1914 u. 1915 (1916, S. 7), vgl. GumpSiechenhaus 1913ff.).
Neben dem Lazarett musste der laufende Pflegebetrieb weitergeführt werden: „Am 1. Januar 1916 waren in unseren Anstalten 35 Frauen und 22 Männer. In den drei Jahren kamen neu hinzu 24 Frauen und 20 Männer. Es starben, bzw. wurden entlassen, 28 Frauen und 25 Männer, sodaß am 1. Januar 1919 31 Frauen und 17 Männer sich in unseren Anstalten befanden“ (Rechenschaftsbericht 1916, 1917 u. 1918 (1919, S. 4), vgl. GumpSiechenhaus 1913ff.). Anlässlich des 25jährigen Jubiläums des Gumpertz´schen Siechenhauses betonte der Verwalter und Autor Hermann Seckbach, der auch publizistisch für seine Schützlinge eintrat, 1917 in den ‚Frankfurter Nachrichten‘: „[…] so hat man schon seit Jahren es als wichtigste Aufgabe betrachtet, die mit [sic!] einer längeren Krankheit Befallenen nicht einfach hindämmern zu lassen. So finden wir […] eine Anzahl Fälle, die dem Leben und ihrer Familie wieder zurückgegeben werden konnten, oder die innerhalb der Anstalt selbst als Mitarbeiter sich betätigen“ (Seckbach 1917). Nach Kriegsende halfen Mathilde von Rothschild und die Familie ihrer verstorbenen Tochter Minka – deren Ehemann Max von Goldschmidt-Rothschild und die gemeinsamen Kinder Albert, Rudolf, Lili, Lucy und Erich sowie aus Paris Minkas Schwester Adelheid de Rothschild –, das Gumpertz´sche Siechenhaus durch die schwierigen Inflationsjahre zu bringen. 1923 ließ der deutsch-argentinisch-jüdische Getreidemillionär und Frankfurter Stifter Hermann Weil dem Siechenhaus eine Million Mark zukommen.
Die 1920er Jahre
In Fanny Cohn-Neßlers auch heute noch lesenswerten Zeitungsbericht „Das Frankfurter Siechenhaus“ von 1920 heißt es lobend: „Die Minka-von Goldschmidt-Rothschild-Stiftung, ein stattliches langgestrecktes Gebäude im roten Sandstein und Ziegelbau, in der Nähe des Ostbahnhofes (Hanauer Bahn) und eines schönen Parks gelegen, richtet ihre Front nach dem Röderbergweg. Das Siechenhaus, aus einem Legat der Frau Gumpertz herstammend […] hat nunmehr ein eigenes großes Haus im Garten des obengenannten Stifts erhalten. Diese beiden Anstalten erfreuen sich eines besonderen guten Rufes unter den Wohlfahrtsanstalten der alten Reichsstadt. […] es ist in Frankfurt stehende Redensart: die beste Verpflegung und das beste Einvernehmen unter den Anstaltsbewohnern findet man in diesen beiden Häusern, die doch eins sind; denn beide Anstalten sind für dauernd kranke, sieche Personen eingerichtet“ (Cohn-Neßler 1920: 174 [Hervorheb. im Orig.]). Die Autorin gewährt uns auch Einblicke in die innere Architektur und Ausstattung: „Beim Eintritt in das Stift gelangt man in das vornehm wirkende Vestibül. Marmorbekleidung, abwechselnd mit gelb polierten Holzflächen, die Wände Spiegel, breite Treppen aus Holz mit geschnitztem Geländer“ (ebd.). Im Parterre des hier geschilderten Vorderhauses der Minka von Goldschmidt-Rothschild-Stiftung befanden sich u.a. das Ärztezimmer, das Zimmer der Hausschwester, Untersuchungs- und Operationsräume, das Röntgenzimmer sowie der bei Feierlichkeiten genutzte Speisesaal. Besonders beeindruckte die Besucherin Fanny Cohn-Neßler ein Raum, der ganz von einem riesigen Schabbesofen (Backofen zum Warmhalten der Speisen für den Schabbat) ausgefüllt war: „Das Haus wird in streng ritueller Weise geführt. Der Schabbesofen hält die Speisen und Getränke während des gesamten Samstags in gleichmäßig heißer (hoher) Temperatur. Für eine Personenzahl von etwa hundert – die Verwaltung, Pflege, Bedienung mit einbegriffen. Eine Tunnelbahn verbindet beide Grundstücke [Vorder- und Hinterhaus, B.S.]. Der Speisenzug (Lowrywagen) fährt hin und her und befördert die Speisen samt dem nötigen Geschirr, Bestecks [sic] usw. in die verschiedenen Aufzüge, die sich in allen Etagen befinden. Die große Küche, mit allen Einrichtungen der Neuzeit versehen, ist im Souterrain; auch eine Pessachküche. […] Im zweiten Stock ist die Waschanstalt mit Dampfbetrieb, ganz nach dem Muster großer Dampfwäschereien in Berlin und anderen Städten eingerichtet“ (ebd.). Die Zimmer der Männer- und der Frauenabteilung waren in Weiß gehalten. Ein großes Konversationszimmer förderte die Kommunikation der noch bewegungsfähigen Bewohner/innen.
Infolge der spätestens seit dem Lazarettbetrieb verstärkten Spezialisierung des Gumpertz´schen Siechenhauses auf die medizinische Behandlung Langzeitkranker bezeichnete es sich im Namenszusatz zeitweilig als „Israelitisches Krankenheim“. Um seine finanziellen Nöte zu beheben – wie fast alle sozialen und Pflegeinstitutionen kämpfte das Siechenhaus in den 1920er Jahren mit wirtschaftlichen Problemen – strebte der Vorstand dessen Aufwertung zum Krankenhaus an, doch wurde es, da Kurzzeitpflege und Ambulanz fehlten, von Amts wegen weiterhin als Siechen- bzw. Pflegeheim eingestuft. Wohl aus diesem Grund schränkte es 1922 den Betrieb seines Krankenheims zugunsten der Altenpflege ein. 1929 musste das Gumpertz´sche Siechenhaus sein Hauptgebäude (Vorderhaus) mit 90 Betten (mit Aufstockungskapazität mit bis zu 120 Betten) für zunächst 20 Jahre an die Stadt Frankfurt am Main vermieten, die, zum Beispiel im Hinblick auf Epidemien, eine Erweiterung der städtischen Krankenversorgung anstrebte. Das Siechenhaus selbst zog sich in sein zweites Gebäude (Hinterhaus), eine Villa mit 30 Betten, zurück. Am Hinterhaus setzte die Stadt Frankfurt zwischen 1929 und 1932 unter Leitung des Architekten Max Cetto vertraglich festgelegte Neubaumaßnahmen um: ein größerer Anbau, ein Waschhaus und ein Pförtnerhäuschen. Für das Vorderhaus übernahm die Stadt Frankfurt als Mieterin Instandhaltungs- und Renovierungsarbeiten, auch plante sie Erweiterungsbauten mit integrierten Schwesternwohnungen. Am 27. Juli 1931 wurde das Vorderhaus laut Magistratsbeschluss dem Stadtgesundheitsamt als Krankenanstalt zugewiesen, die Verwaltung übernahm das Pflegamt des Hospitals zum Heiligen Geist. Aus verschiedenen Gründen, zu denen die stark fluktuierende Belegung der Frankfurter Krankenhausbetten zählte, blieb das Hinterhaus jedoch bis zur NS-Zeit ungenutzt (ISG Ffm: Wohlfahrtsamt Sign. 877; Magistratsakten Sign. 8.957).
Die NS-Zeit
Nach der NS-Machtübernahme beabsichtigte die Stadt Frankfurt die Untervermietung des Gumpertz´schen Vorderhauses an die Feldjägerei-Abteilung bei der Obergruppe V (Frankfurt am Main) der Sturmabteilung (SA) der NSDAP für deren Feldjägerinspektion, was sich zunächst nicht realisieren ließ. Deshalb kündigte die Stadt im Mai 1933 kurzerhand den Mietvertrag. Die Gumpertz´sche Stiftung, vertreten durch ihren Vorsitzenden Dr. Richard Merzbach, ging gerichtlich gegen die unvermittelte Vertragsaufhebung vor: Sie bedeute für das Gesamtprojekt den finanziellen Ruin und gefährde die Arbeitsplätze des langjährigen (vorwiegend christlichen) Pflegepersonals. Die SA-Feldjägerei-Abteilung machte in rüder Manier ihr Interesse auf Einzug geltend: Sollte die Stadt nicht entsprechenden Druck auf den jüdischen Vermieter ausüben, würde die Feldjägerinspektion gegebenenfalls ohne Erlaubnis einziehen, sie rückte das Siechenhaus sogar in die Nähe von Sabotage (ISG Ffm: Magistratsakten Sign. 8.957: Schreiben des Oberbürgermeisters Krebs v. 02.10.1933). Letztlich musste das Siechenhaus der Stadt das Vorderhaus zu ermäßigtem Mietzins und ohne die Auflage, das Gebäude nur für Krankenhauszwecke zu nutzen, überlassen. Nach einem Magistratsbeschluss vom 16. Oktober 1933 erfolgte am 4. November 1933 der Einzug der SA-Feldjägerei-Abteilung in das Vorderhaus, im April 1934 wohnten dort 65 Personen. So erhielt das Gumpertz´sche Siechenhaus, jetzt mit Anschrift Danziger Platz 15, auf eigenem Grundstück nationalsozialistische Nachbarn. Obendrein stand es weiter in Mietauseinandersetzung mit der Stadt, die ihre Zahlungen inzwischen eingestellt hatte. Offizieller Untermieter für das SA-Feldjägerkorps war von 1934 bis 1936 (mit Verlängerungsoption bis 1944) der ‚Preußische Fiskus‘, der sich mit der Stadt Frankfurt die Renovierungs- und Instandhaltungskosten teilen sollte, aber hierüber mit der Stadt stritt, zumal die Feldjägerei ihre Mietzahlungen herauszögerte. Nach deren Auszug wurden 1936/37 im Vorderhaus bis zu deren Verlegung in die Gutleutkaserne die 1. Polizeihundertschaft der Frankfurter Schutzpolizei Frankfurt am Main untergebracht, danach (1937) vorübergehend ‚Hitler-Urlauber-Kameradschaften‘, die sich aus älteren ‚verdienten‘ Nationalsozialisten – politischen Leitern, SA- und SS-Männern – zusammensetzten.
Seit Herbst 1937 sollte das Vorderhaus infolge verstärkter Nachfrage wieder als Alten- und Siechenheim genutzt und diesmal von der Gumpertz´schen Stiftung möglichst ‚preisgünstig‘ erworben werden. Eine Etage nutzte bereits seit 1936 die Frankfurter Abteilung des in Wiesbaden von dem Chirurgen und bekannten Luftfahrtmediziner Prof. Dr. em. Ludolph Brauer gegründeten ‚Forschungsinstituts für Arbeitsgestaltung, für Altern und Aufbrauch e.V.‘; in Kooperation mit der Deutschen Arbeitsfront (DAF) stellte sich das Institut in den Dienst der Optimierung der ‚arischen‘ Arbeitskraft, erforschte berufsbedingte Alterskrankheiten, führte Leistungsprüfungen (inklusive ‚Erbanlagen‘) durch und entwickelte Präventionsmaßnahmen. 1937 befanden sich im Untergeschoss des Vorderhauses Küche, Hauptanrichte für Speiseverteilung, Speise- und Umkleideräume für die Bediensteten, Räume zur Aufbewahrung von Krankenkleidung und gebrauchter Wäsche, Heizungs- und Warmwasserbereitungsanlagen, im Erdgeschoss eine Krankenabteilung mit 13 Betten, ein Zimmer für den ärztlichen Leiter besagten Forschungsinstituts nebst einem Schreibzimmer, einen Raum für den Herztätigkeitsschreiber, ein chemisches Untersuchungszimmer, zwei physikalische Untersuchungszimmer, die Röntgendiagnostik-Abteilung mit Dunkelkammer und das Pförtnerzimmer, im ersten und zweiten Obergeschoss je eine Krankenabteilung mit 38 Betten und Nebenräumen. Im Dachgeschoss lagen die Wohnräume für einen Arzt, eine Oberschwester, 15 Schwestern und 14 Hausangestellte. 1938 bezog die Stadt ihre Kaufabsicht bereits auf die Gesamtliegenschaft, die sich in Richtung Ostbahnhof bis zum Danziger Platz und an die Henschelstraße erstreckte, was der Gumpertz´sche Verein noch abwehren konnte. Im April 1938 musste er aber dem Verkauf seines Vorderhauses zustimmen, welches nun den Namen ‚Alters- und Siechenheim Röderbergweg‘, kurz Röderbergheim, erhielt. Die Betriebsführung übernahm das Hospital zum Heiligen Geist, das umfangreiche Umbau- und Renovierungsarbeiten vornehmen ließ. Das Röderbergheim wurde nach seiner offiziellen Eröffnung am 21. November in Übereinkunft mit dem Fürsorgeamt mit 26 (nichtjüdischen) Dauerkranken und Schwersiechen belegt (ISG Ffm: Magistratsakten Sign. 8.958). Die (unselbständige) ‚Gumpertz´sches Siechenhaus und Minka von Goldschmidt-Rothschild-Stiftung‘ wurde am 28. September 1940 in den Zwangsverband ‚Reichsvereinigung der Juden in Deutschland‘ eingegliedert (ISG: Stiftungsabt.: Sign. 146). Am 7. April 1941 drängten die NS-Behörden die 46 Betreuten und ihre Pflegenden aus dem Hinterhaus und wiesen sie in das Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde (Gagernstraße 36) ein. Ihre biographischen Daten und ihr weiteres Schicksal sind noch unerforscht: Wurden sie wie Siegmund Keller und die Oberin des Gumpertz´schen Siechenhauses, Rahel Seckbach, in das Ghetto Theresienstadt deportiert? Fielen einige nicht nur der Schoah, sondern auch dem eugenischen NS-Behindertenmassenmord (T4) zum Opfer (hierzu Lilienthal 2009)? Nach den Hausstandsbüchern für die Gagernstraße 36 (ISG Ffm: Teil 2, Sign. 687) verstarben viele aus dem Haus Danziger Platz 15 Verschleppte noch im Krankenhaus, das für die Versorgung unheilbar Kranker gar nicht ausgestattet war. Hinsichtlich des Personals verzeichnet die ‚Deportiertendatenbank‘ der Gedenkstätte Börneplatz (Jüdisches Museum Frankfurt/M.) unter der Anschrift Danziger Platz 15 außer der langjährigen Hausangestellten Rachel Kaplan Edith Appel (Schwesternpraktikantin), Leopold Lion (Pförtner) und Zilla Reiss (Köchin, Lehrschwester), die Hausstandsbücher (ISG Ffm: Teil 2, Sign. 687) zudem Cornelie (Cornelia) Butwies (kfm. Angestellte, Pflegerin, S. 16, 18) und Klara Strauß (Köchin, S. 341). Anfang 1942 ‚verkaufte‘ die Reichsvereinigung der Juden unter NS-Bedingungen die Restliegenschaft Danziger Platz 15, wo die Kommandantur Frankfurt am Main sogleich ihre Frontleitstelle und eine Lehrküche der Luftwaffe einrichtete. 1944 erreichten die alliierten Luftangriffe auch die Liegenschaft des ‚arisierten‘ Gumpertz’schen/ Rothschild’schen Siechenhauses im Röderbergweg. Die (nichtjüdischen) Betreuten waren bereits vor den Bombardierungen verlegt worden: die chronisch Kranken in die Lange Straße (Hospital zum Heiligen Geist), die Siechen in das Waldkrankenhaus Köppern bei Friedrichsdorf (Taunus). Gerieten sie in das Räderwerk des eugenischen NS-Massenmordes (vgl. für Hessen u.a. Daub 1992; Hahn 2001; Leuchtweis-Gerlach 2001; Sandner 2003; siehe auch Graber-Dünow 2013)?
1956 wurde auf dem Gelände des Röderbergwegs 72-92 (bald darauf geändert in Nr. 82) das August-Stunz-Zentrum, eine Altenpflegeeinrichtung der Arbeiterwohlfahrt, errichtet. Das ‚Vorderhaus‘ des ehemaligen Gumpertz’schen Siechenhauses im Röderbergweg 62-64 kam erst 1981 zum Abriss. Dort entstand ein größerer (1983 fertiggestellter) Anbau an das August-Stunz-Zentrum – es dient, wie zuvor das Siechenhaus, pflegebedürftigen Menschen. Seit dem 25. Juni 2015 erinnert im Eingangsbereich des August-Stunz-Zentrums eine Gedenktafel an das Gumpertz’sche Siechenhaus.
Für wichtige Hinweise danke ich Simone Hofmann (B’nai B’rith Frankfurt Schönstädt Loge e.V.), Felicitas Gürsching † („Bibliothek der Alten“ des Historischen Museums Frankfurt a.M.), Hanna und Dieter Eckhardt (beide Geschichtswerkstadt der AWO (Arbeiterwohlfahrt) Frankfurt a.M.), Annette Handrich und Dr. Siegbert Wolf (beide Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a.M.), Michael Lenarz (stellv. Direktor des Jüdischen Museums Frankfurt a.M.).
Birgit Seemann, 2013, aktualisiert 2019
Ungedruckte Quellen
ISG Ffm: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main:
Magistratsakten: Sign. 8.957: Städtische Krankenanstalten: Ermietung des Gumpertzschen [sic] Siechenhauses zur Unterbringung von Kranken und Weiterverpachtung an die Feldjägerei (1930–1938)
Stiftungsabteilung: Sign. 157: Verein Gumpertz´sches Siechenhaus
Stiftungsabteilung: Sign. 146: Minka von Goldschmidt-Rothschild-Stiftung (1939-1940) Wohlfahrtsamt: Sign. 877 (1893–1928): Magistrat, Waisen- und Armen-Amt Frankfurt a.M.
Ausgewählte Literatur
Andernacht, Dietrich/ Sterling, Eleonore (Bearb.) 1963: Dokumente zur Geschichte der Frankfurter Juden 1933-1945. Hg.: Kommission zur Erforschung der Geschichte der Frankfurter Juden. Frankfurt/M.
Anonym. 1909: [Rubrik ‚Vermischtes‘: Zeitungsnotiz Gumpertz´sches Siechenhaus.] In: Der Israelit, Nr. 50, 16.12.1909. Online-Ausg. Univ.-Bibliothek Frankfurt/M.: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:30:1-151202.
Arnsberg, Paul 1983: Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution. Darmstadt, 3 Bände.
Cohn-Neßler, Fanny 1920: Das Frankfurter Siechenhaus. Die Minka-von-Goldschmidt-Rothschild-Stiftung. In: Allgemeine Zeitung des Judentums 1920, H. 16 (16.04.1920), S. 174-175 [Online-Ausg: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/judaica/].
Daub, Ute 1992: „Krankenhaus-Sonderanlage Aktion Brandt in Köppern im Taunus“ – Die letzte Phase der „Euthanasie“ in Frankfurt am Main. In: Psychologie und Gesellschaftskritik 16 (1992) 2, Online-Ausg. 2011: http://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/26651.
Eckardt, Hanna 2006: Der Röderbergweg, einst beispielhafte Adresse jüdischer Sozialeinrichtungen. In: Zu Hause im Ostend. 50 Jahre August-Stunz-Zentrum. Festschrift zum 50-jährigen Jubiläum. Hg. von der Geschichtswerkstatt der AWO Frankfurt am Main. Frankfurt a.M., S. 10-13.
Graber-Dünow, Michael 2013: Zur Geschichte der „Geschlossenen Altersfürsorge“ von 1919 bis 1945. In: Hilde Steppe (Hg.): Krankenpflege im Nationalsozialismus. 10., aktualis. u. erw. Aufl. Frankfurt/M., S. 245-255
GumpBericht 1899: Gumpertz’sches Siechenhaus [Bericht von der Hauptversammlung des Vereins]. In: Der Israelit 40 (1899) 46, S. 894-895
GumpSiechenhaus 1909: Sechzehnter Rechenschaftsbericht des Vereins „Gumpertz`sches Siechenhaus“ in Frankfurt a.M. für das Jahr 1908. Frankfurt/M.: Slobotzky.
GumpSiechenhaus 1913ff.: Rechenschaftsbericht des Vereins „Gumpertz`sches Siechenhaus“ und der „Minka von Goldschmidt-Rothschild-Stiftung“. Frankfurt/M.: Slobotzky, 1913ff. [Online-Ausg.: Univ.-Bibl. Frankfurt/M. 2011: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:30:1-306391].
GumpStatut 1895: Revidirtes Statut für den Verein Gumpertz´sches Siechenhaus zu Frankfurt am Main. Frankfurt/M.: Druck v. Benno Schmidt, Stiftstraße 22. [ISG Ffm: Sammlung S3/N 5.150].
Hahn, Susanne 2001: Köppern als Alten- und Siechenheim in der Trägerschaft zum Heiligen Geist in Frankfurt am Main seit 1934 und die „Aktion Brandt“. In: Vanja, Christina/ Siefert, Helmut (Hg.) 2001: „In waldig-ländlicher Umgebung“. Das Waldkrankenhaus Köppern: Von der agrikolen Kolonie der Stadt Frankfurt zum Zentrum für Soziale Psychiatrie Hochtaunus. Kassel, S. 196-219.
Jüdischer Schwesternverein Ffm 1920: Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt a.M.: Rechenschaftsbericht 1913 bis 1919. Frankfurt/M.
Kallmorgen, Wilhelm 1936: Siebenhundert Jahre Heilkunde in Frankfurt am Main. Frankfurt/M.
Kingreen, Monica (Hg.) 1999: „Nach der Kristallnacht“. Jüdisches Leben und antijüdische Politik in Frankfurt am Main 1938 – 1945 Frankfurt/M., New York.
Krohn, Helga 2000: „Auf einem der luftigsten und freundlichsten Punkte der Stadt, auf dem Röderberge, sind die jüdischen Spitäler“. In: dies. [u.a.]: Ostend. Blick in ein jüdisches Viertel. [Begleitbuch zur Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt/M.]. Mit Beitr. v. Helga Krohn […] u. e. Einl. v. Georg Heuberger. Erinnerungen von Wilhelm Herzfeld [u.a.]. Frankfurt/M., S. 128-143.
Leuchtweis-Gerlach, Brigitte 2001: Das Waldkrankenhaus Köppern (1901 – 1945). Die Geschichte einer psychiatrischen Klinik. Frankfurt/M.
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Otto, Arnim 1998: Juden im Frankfurter Osten 1796 bis 1945. 3., bearb. u. veränd. Aufl. Offenbach/M., S. 220f.
Sandner, Peter 2003: Verwaltung des Krankenmordes. Der Bezirksverband Nassau im Nationalsozialismus. Gießen.
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Seckbach, Hermann 1917: Fünfundzwanzig Jahre Siechenhaus. Von Verwalter H. Seckbach. In: Frankfurter Nachrichten, 20.09.1917.
Seemann, Birgit 2014: „Glück im Hause des Leids“. Jüdische Pflegegeschichte am Beispiel des Gumpertz’schen Siechenhauses (1888-1941) in Frankfurt/Main. In: Geschichte der Pflege. Das Journal für historische Forschung der Pflege- und Gesundheitsberufe 3 (2014) 2, S. 38-50
Seemann, Birgit 2017: Judentum und Pflege: Zur Sozialgeschichte des orthodox-jüdischen Gumpertz’schen Siechenhauses in Frankfurt am Main (1888–1941). In: Nolte, Karin/ Vanja, Christina/ Bruns, Florian/ Dross, Fritz (Hg.): Geschichte der Pflege im Krankenhaus. Historia Hospitalium. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Krankenhausgeschichte, Band 30. Berlin, S. 13-40
Seemann, Birgit/ Bönisch, Edgar (im Erscheinen): Das Gumpertz’sche Siechenhaus – ein „Jewish Place“ in Frankfurt am Main. Geschiche und Geschichten einer jüdischen Wohlfahrtseinrichtung. Einleitung von Eva-Maria Ulmer und Gudrun Maierhof. Frankfurt am Main
Seide, Adam 1987: Rebecca oder ein Haus für Jungfrauen jüdischen Glaubens besserer Stände in Frankfurt am Main. Roman. Frankfurt a.M.
Steppe, Hilde 1997: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre …“. Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt/M.
Stolberg, Michael 2011: Fürsorgliche Ausgrenzung. Die Geschichte der Unheilbarenhäuser (1500–1900). In: Stollberg, Gunnar u.a. (Hg.): Krankenhausgeschichte heute. Was heißt und zu welchem Ende studiert man Hospital- und Krankenhausgeschichte? Berlin, Münster = Historia hospitalium; Bd. 27, S. 71-78
Zenker, Dinah 2013: Spiritualität in der Pflege. Ein Ansatz und ein Plädoyer aus der Perspektive der jüdischen Orthodoxie. In: Dachs, Gisela (Hg.): Alter. Jüdischer Almanach der Leo Baeck Institute. Hg. im Auftr. des Leo Baeck Instituts Jerusalem. 2. Aufl. Berlin, S. 127-134
Internetquellen in Auswahl (Aufruf aller Links im Beitrag am 20.10.2017)
Alemannia Judaica: Alemannia Judaica – Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Geschichte der Juden im süddeutschen und angrenzenden Raum: www.alemannia-judaica.de.
Im 19. Jahrhundert erfolgte eine Weichenstellung hin zur Bildung eines Berufs Krankenpflege. Die Verberuflichung der Krankenpflege ist nach Hilde Steppe (1997) gebunden an das Vorhandensein einer geplanten und organisiert durchgeführten Ausbildung verbunden mit einer Bezahlung für die Ausübung dieser Tätigkeit. Da in diesem Prozess der Ausformung spezifischer Qualifizierungsmuster externe Faktoren einen maßgeblichen Einfluss hatten, spricht sie konsequent von einer Berufskonstruktion. Die Entwicklung der Krankenpflege zum Beruf im 19.Jahrhundert in deren Kontext auch die Gründung der jüdischen Krankenpflegevereine zu sehen ist, ist das Ergebnis unterschiedlicher Einflussfaktoren und Machtkonstellationen:
Die Industrialisierung Durch die Industrialisierung kam es zu einer Trennung von Arbeit und familiärem Leben, zu einer Trennung zwischen öffentlichem und privatem Raum. Diese Trennung war zugleich geschlechtsspezifisch organisiert, im Bürgertum war die Frau zu Hause verantwortlich, der Mann war außer Haus und sorgte für die Ernährung der Familie. (Gilt manchmal heute noch). Dieses Modell ließ sich natürlich für Arbeiterhaushalte nicht aufrechterhalten, da dort auch die Frauen zur Sicherung der Existenz außerhalb des Hauses arbeiten mussten. Die Verelendung der proletarischen Schichten führte nicht zuletzt aufgrund der schlechten Wohnverhältnisse zum Auftreten von Epidemien (z. B. Cholera). Das hatte dann im Einzelfall eine Überfüllung und Überlastung der Krankenhäuser zur Folge. Zurück zur bürgerlichen Familie: Dort war das Bild der Frau auf Haushalt und Familie festgelegt, als Gattin sollte sie ihren Mann unterstützen, als Mutter die Kinder pflegen und erziehen. Vor diesen eigentlichen „Beruf“ konnte nun ganz praktisch eine pflegerische Ausbildung geschaltet werden. Unterstützt wurde die Berufswahl Krankenpflege durch die Tatsache, dass interessierten gebildeten bürgerlichen Frauen im 19. Jahrhundert noch kein Zugang zur Universität gestattet war. Krankenpflege war die Alternative zum Studium der Medizin und zugleich eine Vorbereitung auf die „eigentliche Bestimmung“ der Frau.
Die Durchsetzung nationalstaatlicher Interessen durch Kriege
Die vielen Kriege im 19. Jahrhundert lösten jeweils einen Schub in der Entwicklung der Pflege aus. Durch diese Kriege wurde die Notwendigkeit der Organisation eines effektiven Sanitätswesens deutlich. Es wurde klar, dass die pflegerische Versorgung von entscheidender Bedeutung für Sieg oder Niederlage sein würde. Florence Nightingale war durch ihren Einsatz in Krimkrieg (1854) zutiefst beeindruckt und konnte, zurückgekehrt nach England, eine moderne Pflegeausbildung auf den Weg bringen. Auch der Schweizer Henri Dunant ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Unter dem Eindruck der Schlacht von Solferino initiierte er die Gründung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Zu Friedenszeiten sollte Personal ausgebildet werden, das im Kriegsfalle die Verwundetenpflege übernehmen sollte. Die z. T. seit Beginn des Jahrhunderts bestehenden vaterländischen „[…] Frauenvereine stellten ihre Tätigkeit nun in den Dienst des Roten Kreuzes.“ (Hummel 1986, S. 18)
Die bürgerliche Frauenbewegung Um die Jahrhundertmitte entstand fast zeitgleich in den meisten europäischen Ländern eine Frauenbewegung, die sich aus unterschiedlichen Gruppen zusammensetzte. Es lassen sich die gemäßigten bürgerlichen, die radikalen bürgerlichen, die konfessionellen und die sozialdemokratisch-kommunistischen Frauenbewegungen unterscheiden. Sie verfolgten jeweils unterschiedliche Ziele: Recht auf Berufstätigkeit, Recht auf Bildung oder Recht auf innerkirchliche oder politische Mitbestimmung stand im Vordergrund, je nach politischer Selbstdefinition. Die gemäßigten bürgerlichen Frauen waren zahlenmäßig die größte Gruppe und bei ihnen stand die Debatte um die Berufstätigkeit der bürgerlichen Frau im Mittelpunkt. Sie forderten die außerhäusliche Betätigung der Frauen allerdings in dem ihnen „natürlicherweise“ vorgegebenen Rahmen. Letztlich, so Hilde Steppe (1997), bedeutete dies die Übertragung familialer Strukturen auf das öffentliche Leben, es wurden also typisch weibliche Berufsfelder identifiziert, sodass die ehemals häuslichen Funktionen Pflege oder Erziehung nun im öffentlichen Leben als Beruf ausgeübt werden sollten. Die radikalen bürgerlichen Frauen hingegen vertraten das Recht auf gleiche Allgemeinbildung und Möglichkeit des Zugangs zu allen Berufen und Ausbildungsstätten, außerdem die politische Gleichberechtigung mittels des Frauenwahlrechts. Für die Krankenpflege war „[…] vor allem die gemäßigte bürgerliche Frauenbewegung von Bedeutung, da deren Vorstellungen von Frauen-berufen mit dem sich entwickelnden Selbstbild des Frauenberufs Pflege weit gehend übereinstimm(t)en“ (Steppe 1997, S. 42).
Die Entwicklung in der Medizin Infolge des medizinischen Fortschritts entwickelte sich im 19. Jahrhundert das alte Hospital von einer Aufbewahrungsstätte für mittellose Kranke, Alte und Gebrechliche zu einem medizinischen Zentrum, in dem nur noch Kranke sein sollten. Durch diese rasant verlaufende Entwicklung, die mit der Selbstdefinition der Medizin als Naturwissenschaft einherging, wurde das Krankenhaus auch für begüterte Bevölkerungsgruppen attraktiv. Auch die Ärzte, die bisher in den alten Hospitälern wenig verloren hatten, sahen in den Krankenhäusern neuen Typs eine Möglichkeit der Forschung und Lehre. Sie verlangten nun nicht mehr nur religiös gebundene Schwestern oder „Wartepersonal“, proletarische, nicht ausgebildete Frauen und Männer, sondern gebildete Frauen, die die notwendige Betreuung während der Abwesenheit der Ärzte sicherstellen konnten. Die Medizin differenzierte sich aus, die Fächer, die für uns heute selbstverständlich sind, entstanden. Ausgehend vom naturwissenschaftlichen Paradigma kam es zu ungeheuren Fortschritten, z. B. bei der Erforschung der Infektionskrankheiten.
Welche Organisationsformen entstanden nun aufgrund dieser Machtkonstellationen? Grob gesprochen lassen sich vier große Gruppen an Pflegeverbänden unterscheiden. Die katholische Ordenspflege, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts über Frankreich und die besetzten linksrheinischen Gebiete nach Deutschland kam und sich bald im ganzen Reichsgebiet ausbreitete. Die nächste große Gruppe stellen die Organisationen der evangelischen Diakonie dar. Die Diskussionen hatten schon in den 20er Jahren begonnen, aber erst 1836 kam es zur Gründung der Diakonissenanstalt in Kaiserswerth. Ihr Gründer Theodor Fliedner übernahm Teile des katholischen Modells, die Abgeschiedenheit und die karitativ-christliche Auffassung der Krankenpflege. Andererseits springt die Orientierung am bürgerlichen Modell der Familie ins Auge, der Theologe und die Oberin an der Spitze, darunter die „Kinder“ (Diakonissen), für die gesorgt wird, alle in einem Haus. Dieses als Mutterhaus beschriebene System ist eine typisch deutsche Entwicklung, in der persönliche Unfreiheit mit sozialer Absicherung verbunden war. Es wurde auch von den Schwesternschaften vom Roten Kreuz übernommen, die die dritte große Gruppe darstellten. Auch die jüdischen Krankenpflegevereine organisierten sich als Mutterhäuser (Steppe 1997). Als vierte Gruppe sind die freien, ungebundenen Schwestern zu nennen, die nicht mehr an das Mutterhaus gebunden arbeiten wollten. Agnes Karll, eine ehemalige Rot Kreuz Schwester gründete 1903 die Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands (B.O.K. D.). Dieser Schritt geschah in engem Kontakt und mit Unterstützung der bürgerlichen Frauenbewegung. Ende der neunziger Jahre des 19.Jahrhunderts bildeten sich die ersten freigewerkschaftlichen Pflegeorganisationen (vgl. Wolff/Wolff 1994). Einen Überblick über die zahlenmäßige Entwicklung in der Krankenpflege bietet die folgende Tabelle:
Wie und durch wen wurden die pflegerischen Inhalte definiert? Nicht Krankenschwestern definierten, was im Krankenhaus zu passieren hatte, die enorm expansive Medizin hatte Bedarf an guten Krankenschwestern, die sie während ihrer Abwesenheit vom Krankenbett dort vertreten konnten. Die Forderungen nach einer von Orden unabhängigen Krankenpflegeausbildung unter Einbezug der Erkenntnis der Medizin mehrten sich. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die Einführung des Krankenversicherungsgesetzes im Rahmen der Sozialgesetzgebung im Jahre 1883, die mit einer Zunahme der Krankenhausbetten und der Patientenzahlen einherging. Auch aus der Frauenbewegung heraus kamen Forderungen nach einer Ausbildung. Sie sollte über die „natürliche Bestimmung“ der Frauen hinausgehen. Die Bedingung für einen Beruf, der neben der Bezahlung eine Ausbildung mit Vermittlung spezieller Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen voraussetzt, war im 19. Jahrhundert noch nicht gegeben, erst im beginnenden 20.Jahrhundert wurde mit dem ersten Krankenpflegegesetz 1907 ein wichtiger Schritt in diese Richtung unternommen. Vorher hatte es lediglich in einzelnen Mutterhäusern Festlegungen für bestimmte Ausbildungsinhalte gegeben (Hummel 1986).
Alle die oben beschriebenen Kräfte beeinflussten auch die Bildung der jüdischen Krankenpflegevereine und führten zu deren spezifischer Ausprägung.
Eva-Maria Ulmer, 2009
Literatur
Helmerichs, Jutta 1992: Krankenpflege im Wandel (1890 bis 1933). Dissertation Universität Göttingen
Hummel, Eva 1986: Krankenpflege im Umbruch (1876-1914). Freiburg i. Br.
Steppe, Hilde 1997: „…den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre…“. Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt/M.
Steppe, Hilde 2003: „Die Vielfalt sehen, statt das Chaos zu befürchten.“ Ausgewählte Werke.
BernWolff, Horst-Peter; Wolff, Jutta 1994: Geschichte der Krankenpflege. Basel