Gewidmet Dr. phil. Claus Canisius (1934–2020),
Enkel von Oberin Thekla (Mandel) Isaacsohn
Thekla (Mandel) Isaacsohn (1867–1941) hat die berufliche deutsch-jüdische Pflege mitbegründet: 1893 initiierte sie mit ihren Kolleginnen Klara Gordon, Lisette Hess, Minna Hirsch und Frieda (Brüll) Wollmann den Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main.
Seit 1893/94 leitete Oberin Thekla die Pflege im Frankfurter orthodox-jüdischen Kranken- und Altenheim Gumpertz‘sches Siechenhaus auf dem Röderberg (ihre Nachfolgerin wurde Oberin Rahel (Spiero) Seckbach). Familienpflichten führten sie 1907 in das westfälische Holzminden: In einer „Leviratsehe“ mit dem Witwer ihrer Schwester Betty kümmerte sie sich um die drei hinterbliebenen Kinder, die sie zärtlich „Muttchen“ nannten. 1932 übernahm sie – als Witwe und bereits im Rentenalter – die Co-Leitung des von Frankfurt a.M. aus gegründeten orthodox-jüdischen Kurheims für mittellose erholungsbedürftige Frauen zu Baden-Baden – wie das Gumpertz‘sche Siechenhaus ein von der Stifterin Mathilde von Rothschild und der Frankfurt-Loge Bne Briss (B’nai B’rith) getragenes Projekt. Im Oktober 1940 wurde Oberin Thekla durch die berüchtigte ,Wagner-Bürckel-Aktion‘ gegen die jüdischen Bürgerinnen und Bürger Badens und der Saarpfalz in das südfranzösische Lager Gurs deportiert. In der „Vorhölle von Auschwitz“ erlosch am 3. Mai 1941 das Leben einer Persönlichkeit, die sich unermüdlich für die Ärmsten der Armen engagierte und besonders für benachteiligte Frauen einstand.
Der größere Beitrag erinnert an eine facettenreiche Frauenbiografie und gibt Einblick in eine jüdische Familiengeschichte, die bis in unsere Gegenwart reicht. Am Beginn der Recherchen zu diesem Artikel war von Oberin Thekla lediglich bekannt, dass sie von 1893 oder 1894 bis zu ihrer Heirat 1907 die Pflege im Frankfurter orthodox-jüdischen Kranken- und Altenheim Gumpertz’sches Siechenhaus leitete (vgl. Steppe 1997: 225; Seemann/Bönisch 2019). Doch hier erwiesen sich – anders als bei den allermeisten in der Shoah ermordeten oder vertriebenen deutsch-jüdischen Pflegenden – die Forschungsbedingungen als ungewöhnlich fruchtbar: Ein in Deutschland lebender Enkel Oberin Theklas begab sich auf die Spuren seiner beeindruckenden mütterlichen jüdischen Familiengeschichte. Fotografien und rituelle Gegenstände konnten vor der nationalsozialistischen Zerstörung bewahrt werden.
Eine Westfälin aus orthodox-jüdischer Familie: Herkunft und Sozialisation
Gleich ihren Mitstreiterinnen aus den Anfängen der professionellen jüdischen Krankenpflege hat sich auch Thekla Isaacsohn als eine ausgewiesene Führungskraft bewährt, die Strenge und Selbstdisziplin mit Fürsorglichkeit und Empathie verband. Die in ihrer Familie vorgelebte Zedaka – Gerechtigkeit durch sozialen Ausgleich – war Leitmotiv ihres von jüdischer Frömmigkeit geprägten pflegerischen Handelns. Geboren wurde sie als drittes Kind und dritte Tochter von Leopold und Julie Mandel in Lippstadt (heute: Kreis Soest, Regierungsbezirk Arnsberg, Nordrhein-Westfalen) – nicht 1868 oder 1869, wie bisher angenommen, sondern bereits am 22. Juli 1867 (LA NRW: Geburtseintrag Mandel, Thekla; siehe auch StAF: Personalakte Isaacsohn, Thekla. Vgl. zur Familiengeschichte Mandel: Rings/Rings 1992; Thill 1994; Kieckbusch 1998; Kommunalarchiv Minden Datenbank (https://juedischesleben.kommunalarchiv-minden.de/index.php). Auskünfte erteilten die Stadtarchive Holzminden, Linz am Rhein und Lippstadt). Ähnlich wie in den anderen Regionen Deutschlands bewegte sich die jüdische Minderheit auch im vorwiegend katholischen Westfalen, wo Thekla Mandel zunächst aufwuchs, im Spannungsfeld von Antijudaismus/Antisemitismus, religiöser Selbstbehauptung und Integration (vgl. in Auswahl Handbuch 2008–2016, 4 Bde; Herzig 1973 u. 2012).
Oberin Theklas Vater, der jüdische Religionspädagoge Leopold Mandel, wurde am 12. Dezember 1828 als Sohn von Sara geb. Loeb und Josef Mandel zu Rhens (heute: Landkreis Mayen-Koblenz, Rheinland-Pfalz) geboren. Den Rheinländer verschlug es nach Westfalen in die materiell ungesicherte und zudem mit häufigen Ortswechseln verbundene Existenz eines Lehrers an jüdischen Elementarschulen: Vielen kleineren jüdischen Gemeinden fehlten die Mittel, um den Lebensunterhalt ihrer Lehrkräfte – welche mangels eines Rabbiners oft noch zusätzlich das Amt des Kantors/Chasan (Vorbeter, Vorsänger) und Schochet (Schächters) versahen – und deren kinderreichen Familien ausreichend zu finanzieren. Konflikte schienen ‚vorprogrammiert‘, so auch bei Leopold Mandel, welcher trotz seiner prekären wirtschaftlichen Lage standhaft auftrat. Seine Ausbildung hatte er an der angesehenen Lehrerbildungsanstalt der Marks-Haindorf-Stiftung zu Münster, gegründet von den jüdischen Reformern Elias Marks und Alexander Haindorf zur Förderung armer jüdischer und christlicher Waisen und zur Qualifizierung künftiger jüdischer Schullehrer absolviert und 1863 am Katholischen Lehrerseminar in Büren abgeschlossen (vgl. Rings/ Rings 1993: 32). Leopold Mandel unterrichtete u.a. in Teltge bei Münster, in Hausberge (heute Stadtteil von Porta Westfalica) bei Minden, in Wattenscheid (Ruhrgebiet) und schließlich in Lippstadt, Oberin Theklas Geburtsort. Er war bereits Mitte Dreißig, als er am 21. April 1864 in Minden die dort am 15. Juli 1842 geborene Julie Blaustein heiratete, die Tochter des aus Posen zugewanderten Schneiders und Handelsmannes Moritz Blaustein und seiner Frau Sophie geb. Norden. Im Jahr 1865 (als Geburtsjahr wird auch 1864 genannt, vgl. Kommunalarchiv Minden Datenbank) kam in Wattenscheid ihr erstes Kind Betty – mit zweitem Vornamen ‚Breinle‘ – zur Welt (vgl. Canisius 2016: 608).
Nächste berufliche Station wurde die Industrie- und Handelsstadt Lippstadt, wo die stark angewachsene jüdische Gemeinde im Jahr 1871 240 Mitglieder zählte (vgl. Alicke 2017: Lippstadt (Nordrhein-Westfalen); siehe auch ders. 2008, Band 2). Die jüdische Elementarschule war im Synagogengebäude untergebracht. In Lippstadt konnte sich das Ehepaar Mandel für einige Zeit einrichten. Nach Betty Breinle Isaacsohn geb. Mandel (03.10.1864/1865 Wattenscheid – 05.10.1905 Minden) und der 1867 geborenen Thekla vergrößerte sich die Familie um:
- Alma Feist (02.04.1866 Lippstadt – 08.02.1943 Ghetto Theresienstadt), Handarbeitslehrerin, verheiratet mit Abraham gen. Adolf Feist (Hannover), beide wurden 1943 in Theresienstadt ermordet (BAK Gedenkbuch; Theresienstadt Opferdatenbank mit Todesfallanzeigen);
- Hanna Wolff (1870 Lippstadt – 1931 Hamburg, genaue Lebensdaten unbekannt), verheiratet mit Benno Wolff aus Hamburg;
- Rosa van der Walde (13.07.1872 Lippstadt – 13.05.1942 Vernichtungslager Kulmhof/Chelmno), verheiratet mit Wolf Wilhelm „Willy“ van der Walde, wohnhaft in Minden, Emden und zuletzt Berlin, beide wurden 1942 in Kulmhof ermordet;
- Josef (Joseph) Mandel (10.06.1874 Lippstadt – 14.03.1938 Berlin [Suizid]), Theklas einziger Bruder, 2. Ehe mit Johanna (Chana) geb. Goldsand (15.03.1882 Krakau (Krakow), Galizien (Polen) – 10.05.1942 Vernichtungslager Kulmhof/ Chelmno), jüdischer Religionslehrer, unter der NS-Verfolgung zuletzt Handelsvertreter in Berlin;
- Hermine Norden (07.02.1876 Lippstadt – 09.02.1959 Bad Homburg v.d.H.), genannt „Mins“, verheiratet mit Julius Norden, vor dem Ersten Weltkrieg in Hampstead/Greater London (GB), danach Berlin, überlebte im Exil, zwei Kinder (vgl. Geni).
Das ruhigere Leben in Lippstadt währte nur kurz: Wegen eines eskalierenden Streits mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde verlor Leopold Mandel 1872 seine Lehrerstelle (vgl. Mühle 1985a: 60-61). Für einige Jahre musste der fähige und engagierte Pädagoge seine Familie als „Agent“ (Handelsmann) durchbringen (Stadtarchiv Lippstadt: Auskunft v. Claudia Becker per Mail v. 05.02.2018).
Thekla war ungefähr zehn Jahre alt, als sie zusammen mit ihren Eltern und Geschwistern Lippstadt und Westfalen verließ und 1877 in das Rheinland übersiedelte, woher ihr Vater stammte. Dort hieß die Synagogengemeinde des Städtchens Linz am Rhein (vgl. Alemannia Judaica Linz am Rhein) bei Neuwied ihren neuen Lehrer und Kantor willkommen. Linz wurde Leopold Mandels letzte und wichtigste Wirkungsstätte. In der jüdischen wie in der christlichen Einwohnerschaft fand er endlich die verdiente Anerkennung seiner aufklärerischen pädagogischen Bemühungen, u.a. als Lehrbeauftragter für jüdische Religion am Progymnasium Linz. Die private jüdische Elementarschule, an der er unterrichtete, wurde 1881 zur öffentlichen Schule, wodurch Leopold Mandel den ungesicherten Status des Privatlehrers verließ. Ein Jahr zuvor hatte der auch publizistisch tätige Pädagoge öffentlich gegen die antisemitische Hetze und Herabwürdigung des Judentums durch den evangelischen Theologen und ‚Hofprediger‘ Adolf Stöcker protestiert, was ihm nicht nur Lob einbrachte.
Mit erst 60 Jahren verstarb Leopold Mandel am 3. November 1889 und wurde drei Tage später unter großer Anteilnahme jüdischer und christlicher Bürger/innen auf dem Jüdischen Friedhof zu Linz beerdigt. Am 18. November 1889 veröffentlichte das orthodox-jüdische Periodikum Der Israelit einen Nachruf aus der Neuwieder Zeitung (vgl. Mandel 1889):
„Seine Gemeinde, die in ihm einen edlen, hoch geschätzten Lehrer, einen geliebten, hochgeachteten Kultusbeamten verloren [sic!], folgte seiner Bahre. Die Gymnasiasten unter Führung ihrer Lehrer […] und seine Schüler zogen voran. Viele Collegen [sic!] und Freunde von nah und fern waren gekommen […]. 12 Jahre hat der Verblichene in seinem Amte hier gewirkt und weit über die Grenzen unserer Stadt hinaus sich Liebe, Vertrauen und Achtung zu verschaffen gewusst. Ein edler, lauterer Charakter, ein treuer Freund und Berather [sic!], ein liebevoller, munterer Gesellschafter, ein erfahrener Schulmann, ein hoch gelehrter jüdischer Theologe, – so lebte er, von Vielen geliebt, von Allen geachtet, von Niemanden [sic!] gering geschätzt.“
Neben dem jähen Verlust von Ehemann und Vater markierte das Jahr 1889 für die Familie Mandel eine weitere Zäsur: Sie musste aus der für Leopold Mandels Nachfolger vorgesehenen Lehrerwohnung ausziehen. Noch im gleichen Jahr kehrte die Witwe Julie Mandel in ihren westfälischen Geburtsort Minden zurück. Auch die 22-jährige Thekla Mandel verließ Linz – in Richtung Frankfurt am Main mit dem Ziel, eine jüdische Krankenschwester zu werden.
Mitbegründerin des jüdischen Schwesternvereins und erste Oberin des Gumpertz’schen Siechenhauses in Frankfurt am Main
Die Handels- und Messestadt Frankfurt am Main mit ihrem ökonomisch, sozial und kulturell herausragenden jüdischen Bürgertum trug in der jüdischen Welt den Ehrentitel einer „Muttergemeinde und Hauptstadt in Israel“ (ir wa-em be-Yisrael) (zit. n. Hopp 1997: 14). Fast zwei Jahrzehnte lang sollte sie zu Thekla Mandels Wohn- und Wirkungsstätte werden, und auch danach riss die Verbindung zu Frankfurt nie ganz ab. Wie sie zum Pflegeberuf fand, lässt sich mangels autobiografischer Quellen nicht rekonstruieren. Keineswegs entsprach es den orthodox-jüdischen Geschlechterrollen, dass Thekla Mandel als einzige ihrer Schwestern zunächst unverheiratet blieb. Sollte die pflegerische Ausbildung bis zum Auftritt eines geeigneten Ehepartners auf eine spätere Familiengründung vorbereiten? Oder mochte sich die selbstbewusste und unabhängige junge Frau nicht in das im wilhelminischen Deutschland patriarchalisch angelegte ,Ehejoch‘ fügen? Strebte die gebildete Lehrerstochter anfangs gar den Zugang zu einer Universität an, der ihr aber als Frau und Jüdin doppelt verwehrt blieb? „Krankenpflege war die Alternative zum Studium der Medizin und zugleich eine Vorbereitung auf die ‚eigentliche Bestimmung‘ der Frau“ (Beitrag von Eva-Maria Ulmer, 2009).
Was die Krankenpflege im Kaiserreich selbst anbetraf, hielt sie selbst der jüdische Teil der Bevölkerung für ein christliches Projekt – trotz der hohen Bedeutung des Pflegens in der hebräischen Bibel als religiös-jüdischer Pflicht (Mitzwa) zum Krankenbesuch (vgl. den Beitrag Bikkur Cholim). Die Pflege wurde gleichgesetzt mit Gehorsam, Opferbereitschaft und Selbstaufgabe. Im Deutschen Kaiserreich dominierte das evangelisch-diakonische Hierarchiemodell eines von der Oberin straff geführten ‚Mutterhauses‘. Gleichwohl eröffnete die moderne Krankenpflege, die sich zum ,Frauenberuf‘ professionalisierte, ein qualifiziertes und abwechslungsreiches Aufgabengebiet – zumal eines der wenigen, das auf sich allein gestellten Frauen Existenz- und Aufstiegsperspektiven bot. Für eine fromme Jüdin kam allerdings die Bewerbung bei christlichen oder (vermeintlich) säkularen Einrichtungen, die mancherorts sogar die Taufe verlangten, nicht in Frage. Thekla Mandel wollte nicht allein den Anweisungen von Autoritäten gehorchen, sondern gemeinsam mit Gleichgesinnten lernen – in einem jüdischen Umfeld, das es jedoch erst zu schaffen galt: Die Modernisierung des durch Ghettoisierung jahrhundertelang beeinträchtigten jüdischen Pflegewesens befand sich noch im Aufbau; eine staatlich anerkannte jüdische Krankenpflegeschule existierte nicht. So war es für Thekla Mandel ein Glücksfall, dass sie ihre Ausbildung an einer der fortschrittlichsten jüdischen Kliniken starten konnte: im Hospital der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main, 1875 im jüdisch geprägten Stadtteil Ostend eröffnet und nach dem Namen des Stifterehepaares als „Königswarter Hospital“ bekannt.
Auch im Königswarter Hospital hatten anfangs angelernte Wärter/innen die Kranken versorgt, doch wurde dort bereits 1881 mit Rosalie Jüttner die wohl erste jüdische Krankenschwester in Deutschland ausgebildet. Mit Minna Hirsch (1889 ausgebildet), Lisette Hess, Klara Gordon und Frieda (Brüll) Wollmann gehörte Thekla Mandel (alle vier vor 1893 ausgebildet, vgl. Steppe 1997: 225) zu den ‚Pionierinnen‘ der beruflichen jüdischen Krankenpflege in Deutschland: In einer Zeit, in der das 1850 erlassene ‚Preußische Vereinsgesetz‘ Frauen noch immer die Aktivität in politischen Parteien und Organisationen verbot und damit auch ihr Engagement in privaten Vereinen hemmte, gründeten die fünf Frankfurterinnen zwecks qualifizierter Ausbildung und sozialer Absicherung 1893 ihren eigenen Verband jüdischer Krankenpflegerinnen (ebd.: 200).
Die Initiative des selbstbewussten und füreinander einstehenden Pflegeteams gab vermutlich den Anstoß für die erste deutsch-jüdische Schwesternorganisation Verein für jüdische Krankenpflegerinnen Frankfurt a.M. Den Verein errichteten ihre Vorgesetzten und Ausbilder am Königswarter Hospital, Chefarzt Dr. Simon Kirchheim und Dr. Alfred Günzberg, sowie weitere männliche Förderer des in den jüdischen Gemeinden im Kaiserreich durchaus kontrovers diskutierten jüdischen ‚Frauenberufs‘ Pflege. Die Gründung wurde vorangetrieben durch die Frankfurt-Loge Bne Briss (heute: B‘nai B‘rith), einer den jüdischen Zusammenhalt durch Wohlfahrt, Bildung und Kultur fördernden Vereinigung. Der Verband jüdischer Krankenpflegerinnen ging in dem am 23. Oktober 1893 errichteten und von einem rein männlichen Vorstand geleiteten Verein auf. Der Frankfurter jüdische Schwesternverein avancierte zu einem Erfolgsmodell und damit zum Vorbild für viele weitere Gründungen im gesamten Kaiserreich. Untergebracht wurden die Frankfurter jüdischen Schwestern und Schülerinnen zunächst in einer angemieteten Wohnung („Häuschen“) direkt neben dem Hospital, danach bezogen sie ein provisorisches Schwesternhaus inder Unteren Atzemer 16 (vgl. ebd.). Als 1902 ein neues Schwesternhaus in der Königswarterstraße eröffnet wurde, wohnte Thekla Mandel bereits in ihrer Arbeitsstätte, dem Gumpertz’schen Siechenhaus auf dem Röderberg. Doch blieb sie, die Mitbegründerin, für den Frankfurter jüdischen Schwesternverein aktiv: Um 1905 führte die Lehrerstochter, selbst pädagogisch begabt, gemeinsam mit Sanitätsrat Dr. med. Adolf Deutsch Fortbildungskurse „in Ernährungslehre und Kochen“ für die Schwestern und Schülerinnen durch (vgl. Steppe 1997: 208).
Der Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt a.M. verfügte über ein höchst effektives Karrierenetzwerk, das seine Absolventinnen auf Anfrage jüdischer Gemeinden bis nach Basel und Straßburg schickte, um dort in leitender Funktion eine moderne jüdische Pflege aufzubauen. Während Thekla Mandel, Minna Hirsch, die Oberin der Schwesternschaft wie auch des Königswarter Hospitals, und ihre zeitweilige Stellvertreterin Lisette Hess in Frankfurt a.M. die ‚Stellung‘ hielten, wurden Frieda (Brüll) Wollmann und Klara Gordon Oberinnen der jüdischen Krankenhäuser in Köln und Hamburg. Auch Thekla Mandel wurde um 1894 – nur kurze Zeit nach ihrer Ausbildung – als Oberin des Gumpertz’schen Siechenhauses in eine Leitungsfunktion berufen. Das orthodox-jüdische Pflegeheim für chronisch kranke und gebrechliche Bedürftige beiderlei Geschlechts und aller Altersgruppen trug den Namen seiner Stifterin Betty Gumpertz (vgl. Seemann/Bönisch 2019). Der Vorstand des Vereins Gumpertz’sches Siechenhaus bestand aus Brüdern und Schwestern der Frankfurt-Loge des Unabhängigen Ordens Bne Briss ( B’nai B’rith: Söhne des Bundes); als Präsident amtierte in der Nachfolge des Gründungsvorsitzenden Ferdinand Gamburg der Bankier, Philanthrop und Sozialreformer Charles L. Hallgarten. Dem Vorstand empfohlen hatte Thekla Mandel vermutlich der Gründungs- und Chefarzt des Gumpertz‘schen Siechenhauses, ihr früherer Ausbilder Dr. Alfred Günzburg, der ebenfalls der Frankfurt-Loge angehörte. Eine Oberin wurde dringend benötigt: Der 1892 im Haus Ostendstraße 75 gestartete Pflegebetrieb war in wenigen Jahren von sechs auf zuletzt 20 Plätze angewachsen. Trotz Erweiterungs- und Modernisierungsmaßnahmen konnten im Jahr 1895 von 27 pflegebedürftigen Bewerber/innen nur 13 aufgenommen werden.
1898 erwarb der Verein Gumpertz’sches Siechenhaus eine größere Liegenschaft im Röderbergweg 62-64. Gegenüber lagen das Rothschild’sche Hospital und das Rothschild’sche Kinderhospital, zwei Kliniken, die anders als das Gumpertz’sche Projekt nicht der orthodoxen Minderheit innerhalb der liberalen Israelitischen Gemeinde nahestanden, sondern der neo-orthodoxen Israelitischen Religionsgesellschaft (Austrittsgemeinde). Ein Teil der Gumpertz‘schen Gepflegten kam aus Kostengründen zunächst in der „notdürftig zu Krankenhauszwecken umgewandelte[n] alte[n] Villa“ (Günzburg 1909: 7), später das ,Hinterhaus‘ genannt, unter; parallel wurde der Heimbetrieb am alten Standort Ostendstraße 75 noch eine Weile fortgeführt. Insgesamt versorgte das Heim 1898 bereits 37 Gepflegte. Nach dem 1899 erfolgten Verkauf des Anwesens Ostendstraße 75 bezogen auch die restlichen Bewohner/innen gemeinsam mit Oberin Thekla Mandel das ,Hinterhaus‘ mit bis zu 30 Plätzen; im Mahlau’s Frankfurter Adressbuch (33. Jg., S. 253) war 1901 erstmals „Mandel, Thekla Krankenschw. Röderbergw. 62“ eingetragen. Unterstützt wurde die Oberin durch die 1902 eingestellte evangelische Krankenschwester Frieda Gauer, ebenso seit 1904 durch den neuen Verwalter Hermann Seckbach, der sich weit über seine Stellung hinaus wie ein Hospitalvater um die Belange der Pflegebedürftigen kümmerte. Sowohl Thekla Mandel als auch Hermann Seckbach verstanden ihren Dienst an den jüdischen „Aermsten der Armen“ (ein Zitat von Rabbiner Leopold Neuhaus aus seinem Nachruf auf Thekla Mandels Nachfolgerin Oberin Rahel Seckbach, abgedruckt in der Exilzeitschrift AUFBAU 15 (23.09.1949) 38, S. 41) als religiöse Verpflichtung und Beitrag zur sozialen Stärkung der jüdischen Gemeinde und ihres nichtjüdischen gesellschaftlichen Umfelds. Ebenfalls 1904 konkretisierten sich angesichts der beengten Verhältnisse im ‚Hinterhaus‘ erste Pläne für einen Neubau, die durch die Angliederung der 1905 errichteten Minka von Goldschmidt-Rothschild-Stiftung an den Verein Gumpertz´sches Siechenhaus finanziell umgesetzt werden konnten. Die beiden Stifterinnen – Mathilde von Rothschild und ihre bereits 1903 verstorbene Tochter Minna Caroline („Minka“) – hat Oberin Thekla sehr wahrscheinlich auch persönlich kennengelernt; mit ihnen teilte sie die Aufmerksamkeit für die besonders prekäre Versorgungslage mittelloser pflegebedürftiger Frauen und Mädchen. Es war Mathilde von Rothschilds ausdrücklicher Wunsch, dass in die 1907 eingeweihte und hochmodern ausgestattete neue Villa (das Gumpertz’sche ‚Vorderhaus‘, zugleich Krankenheim mitOperationssaal) vorerst nur weibliche Bewohner einzogen.
Die Anfänge des ‚Vorderhauses‘ gestaltete Thekla Mandel noch mit, doch musste sie ihren geliebten Pflegeberuf bald verlassen. Bereits im Oktober 1905 hatte sie aus Holzminden (Niedersachsen) die traurige Nachricht vom Tod ihrer ältesten Schwester erreicht: Betty Breinle Isaacsohn hinterließ drei kleine Kinder und einen tief trauernden Witwer.
Hier zeigte sich einmal mehr der Familienzusammenhalt der Mandels: Nach reiflicher Überlegung gab die inzwischen 40jährige und bislang alleinstehende Oberin ihre leitende Position auf, um am 24. Oktober 1907 ihren Schwager Iwan Isaacsohn zu heiraten (Angabe per Mail v. Claus Canisius, 26.05.2018: Familientafel Isaacsohn). Schweren Herzens, aber mit festem Blick auf ihre neue Aufgabe als Ehefrau, Mutter und Erzieherin musste Thekla Mandel ihr Frankfurter Leben – Freundinnen, Kolleginnen und ihre Schützlinge im Gumpertz’schen Siechenhaus – zurücklassen.
„Leviratsmutter“ und Lazarett-Oberschwester in Holzminden (Niedersachsen)
Im November 1907 traf Thekla Mandel – nunmehr Isaacsohn –in der niedersächsischen Mittelstadt an der Weser ein. Die jüdische Gemeinde zu Holzminden, der sie nun angehörte, umfasste nach den Angaben des Lokalhistorikers Klaus Kieckbusch (vgl. ders. 1988) bis zu 130 Mitglieder, zumeist selbständige Kaufleute und Handwerker. Die jüdischen Holzmindener/innen waren bestens in das städtische Vereinsleben integriert. Doch trübten insbesondere nach dem für Deutschland verlorenen Ersten Weltkrieg antisemitische Vorfälle das gute Einvernehmen mit der christlichen Mehrheitsbevölkerung.
Theklas Ehemann, der Schuhkaufmann Iwan Isaacsohn (geb. 23.01.1866 in Hamburg), wohlhabend, gebildet und gut aussehend, stammte aus einer Hamburger orthodox-jüdischen Familie. Zu seinen Vorfahren zählten angesehene jüdische Gelehrte wie Rabbi Jitzhak (geb. um 1780 in Hamburg) und Rabbi Chaver Nehemia Ben Jitzhak (geb. 1810 in Hamburg), welcher an einer Jeschiwa (Tora-Talmud-Hochschule) gelehrt hatte (vgl. Canisius 2015: 318). Möglicherweise hätte auch Iwan Isaacsohn gern diesen Weg beschritten. Angesichts der Frömmigkeit der Isaacsohns und der Mandels verwundert es kaum, dass der Musikwissenschaftler Dr. Claus Canisius in der zweiten Ehe seines Großvaters auch eine religiös-kulturelle Tradition erkannte:
„Starb in einer jüdischen Familie ein kinderloser junger Ehemann, so wurde eine altorientalische Rechtssitte wirksam: die Schwagerehe, beziehungsweise das Levirat oder Jibbum. Um das Geschlecht der Familie zu erhalten, ehelichte ein heiratsfähiger Schwager die Witwe, damit die erbberechtigte Nachkommenschaft der betroffenen israelitischen Familie erhalten blieb. Bei der Familie Iwan Isaacsohns wurde insofern eine Variante des Levirats wirksam, als nach Betty (Mandel) Isaacsohns frühem Tod jetzt Thekla Mandel, ihre Schwester[,] in die Familie an die Seite Iwans kam und gewissermaßen als Leviratsmutter die Erziehung [von] dessen drei Kinder[n], Werner, Leoni und Gretel übernahm […].“
In der Tat kam von den Schwestern der verstorbenen Betty nur die unverheiratete Thekla in Betracht. Obgleich zwei selbstbewusste Persönlichkeiten aufeinandertrafen und offenbar keine Liebesheirat ‚vorlag‘, soll die ‚Leviratsehe‘ den Familieninformationen Claus Canisius‘ zufolge geglückt sein.
Thekla Isaacsohn, die ohne eigene Kinder geblieben war, konnte ihre Mütterlichkeit verwirklichen und erntete dafür die Liebe und Anerkennung der ihr anvertrauten Halbwaisen‘, deren Tante sie zugleich war. Leoni (geb. 16.02.1896), Gretel (Greta) (geb. 31.07.1899) und Werner (geb. 17.04.1904), alle drei in Holzminden zur Welt gekommen, waren zum Zeitpunkt der zweiten Heirat ihres Vaters erst elf, acht und drei Jahre alt; Gretel war ihrer Stiefmutter besonders zugetan. Neben ihren Familienaufgaben engagierte sich die pflichtbewusste und tatkräftige Thekla Isaacsohn im Ersten Weltkrieg für den Holzmindener „Rotkreuz- und Bahnschutzdienst“ und organisierte als Oberschwester den Lazarettdienst mit (vgl. Kieckbusch 1998: 349). Nach dem Krieg wurde sie Witwe: Iwan verstarb im Jahr 1919, ebenso ihre zuletzt bei der Schwester Rosa in Emden lebende Mutter Julie Mandel. Die Grabmäler von Iwan Isaacsohn und seiner ersten Frau Betty Breinle auf dem Jüdischen Friedhof Holzminden sind bis heute erhalten, obwohl in der NS-Zeit viele Gräber – darunter auch Iwans – geschändet wurden. Seine Grabstätte war vermutlich als „Doppelgrab“ (Claus Canisius) angelegt, damit seine Witwe Thekla dort ihre letzte Ruhestätte fände (vgl. Fotografien in Canisius 2016 sowie B. Putensen, 2015, bei Genealogy.net: https://grabsteine.genealogy.net/tomb.php?cem=3887&tomb=24&b=&lang=de).
Nach Iwans Tod zog sich Thekla Isaacsohn nicht in ihre Trauer zurück, sondern setzte ihr soziales Engagement in der jüdischen Gemeinde fort: In Holzminden „florierte über lange Jahre ein 1906 gegründeter“ israelitischer Frauenverein, dem sie 1924/25 sogar vorstand (vgl. Kieckbusch 1998: 311). Zuvor hatte ein antisemitisches Ereignis die Stadt erschüttert, das vor allem Theklas ältere Stieftochter traf: Leoni Isaacsohn hatte 1920 Siegmund Salomon geheiratet und führte mit ihm gemeinsam das Schuhhaus Feist & Co. (offenbar ein überregionales Unternehmen der Familie Feist mit Hauptsitz in Hannover, in die Theklas Schwester Alma eingeheiratet hatte). Am 10. August 1923 griffen demonstrierende Arbeitnehmer/innen das Schuhhaus Feist an. Die aus sozialer Not entstandene Erhebung gegen Holzmindens Unternehmerschaft bekam durch die Plünderung ausschließlich jüdischer Geschäfte einen „stark antisemitischen Aspekt“ (ebd.: 358): Die Demonstranten drangen in das Schuhhaus Feist ein, zerschlugen Türen, Vitrinen und Einrichtungsgegenstände und raubten fast den gesamten Warenbestand. Das Ehepaar Salomon musste sein Geschäft vorläufig schließen, erkämpfte sich aber vom Deutschen Reich und dem Land Braunschweig eine Teilentschädigung – die die Stadt Holzminden mit der Begründung verweigerte, mögliche weitere judenfeindliche Exzesse vermeiden zu wollen (ebd.: 360). 1925 musste Thekla Isaacsohn vom Tod ihrer erst 29-jährigen Stieftochter Leoni Salomon in Höxter erfahren. Leonis jüngere Schwester Gretel wurde danach von ihrer Tante Alma (Mandel) Feist und deren Ehemann Abraham gen. Adolf Feist im Erwachsenenalter adoptiert – vermutlich auch aus erbrechtlichen Gründen, da das Ehepaar Feist keine eigenen Kinder hatte. Am 1. Februar 1933, kurz nach der NS-Machtübernahme, verkaufte Leonis Witwer Siegmund Salomon das Schuhhaus Feist & Co. in Holzminden an seinen nichtjüdischen Prokuristen (ebd.: 421).
Spätestens 1938 erreichte die gezielte NS-‚Arisierung‘ von Grundbesitz auch Holzmindens jüdische Bürger/innen. Nach dem Wegzug ihres Schwiegersohns Siegmund Salomon ging das Haus Fürstenberger Straße 26 in den Besitz von Thekla Isaacsohns Stiefkindern Gretel und Werner über. Gretel lebte inzwischen im westfälischen Minden (Herkunftsort ihrer Großmutter Julie Mandel)
„in einer Ehe mit dem nichtjüdischen Regierungsbaurat Peter Canisius und wollte unter Zustimmung ihres Bruders im Dezember 1938 das Haus ihren beiden Söhnen als Schenkung überschreiben. Auf diese Weise erhofften sich die Beteiligten eine etwas größere Sicherheit für den Besitz. Landrat Knop bezog dem Genehmigungsantrag gegenüber sofort eine ablehnende Position: Es würden schließlich ‚Halbjuden‘ Eigentümer, ‚was ich für unerwünscht halte‚“ (ebd.: 423-424 [Hervorhebung im Original]).
Auf Intervention des braunschweigischen Innenministeriums kam die Schenkung am 24. März 1939 dann doch zustande: Zusatzregelungen der 1935 erlassenen ‚Nürnberger Rassegesetze‘ ließen eine Übertragung des Vermögens der jüdischen Mutter auf ihren nichtjüdischen Ehemann oder die gemeinsamen Kinder zu. Dennoch lebte Gretel Canisius – nach ihrer katholischen Taufe längst kein Mitglied der jüdischen Gemeinde mehr – in ständiger Angst, führte sie doch aus Sicht der NS-Behörden mit dem Ingenieur Peter Anton Canisius (1898–1978) eine „Mischehe“; die gemeinsamen Söhne Peter Paul (geb. 1929 in Peine) und Claus Heinrich (1934 Kolberg – 2020 Leutershausen) waren als „Mischlinge I. Grades“ der NS-Verfolgung ausgesetzt. Antisemitische Ausschreitungen in Minden und die nachfolgenden Deportationen spitzten die Lage weiter zu (vgl. Alicke 2017: Minden (Nordrhein-Westfalen)). Dem enormen Druck des Regimes, sich scheiden zu lassen, hat Peter Canisius widerstanden. Die „arische“ Herkunft des männlichen Ehepartners und ‚Familienoberhaupts‘ ersparte Gretel Canisius und den Kindern die Einweisung in ein Ghettohaus (NS-Jargon: „Judenhaus“). 1940 wurde der jüngere Sohn Claus „im Alter von sechs Jahren während der Shoah auf dem Land in der Nähe von Hameln versteckt“(Altenburg 2015; vgl. auch Gensch/Grabowsky 2010). Im Rückblick schildert Claus Canisius (2015: 329) eine weitere traumatische Erfahrung, die nur dank eines ‚Judenretters‘ nicht in der Katastrophe endete: 1944 informierte der Kriminalbeamte Heinrich Flessner „meine Mutter in Minden an der Haustür in der Gartenstraße 8 über einen bevorstehenden zweiten Abtransport der dort übrig gebliebenen deutschen Juden und gab ihr indirekt den für ihn selbst höchst riskanten Rat, sich ärztlich für transportunfähig erklären zu lassen […]“.
Thekla Isaacsohns Stiefsohn Werner, Gretels Bruder, riss die NS-Verfolgung aus seiner Laufbahn an der berühmten Kunstschule „Bauhaus“ in Weimar: als Grafiker und Mitarbeiter von Walter Gropius und László Moholy-Nagy, mit einem eigenen Atelier für Fotografie und Werbegrafik (vgl. den Wikipedia-Artikel zu Werner (Isaacsohn) Jackson mit weiteren Literaturangaben: https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Jackson [21.09.2020]). 1939 flüchtete er nach England und baute sich als „Marionettenbauer und Spielzeugentwerfer“ (NL 2 Jackson; siehe auch NL 1 Jackson) eine neue Existenz in Oxford auf. Vermutlich aus Sorge, im Zweiten Weltkrieg als gebürtiger Deutscher ausgewiesen zu werden, änderte er seinen Familiennamen in ‚Jackson‘. Werner (Isaacsohn) Jackson verstarb am 3. Juli 1984 im Exil. Dass er seinen künstlerischen und schriftlichen Nachlass zu großen Teilen der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz und dem Bauhaus-Archiv e.V./ Museum für Gestaltung (Berlin) übertrug, dokumentiert seine starke Bindung an die deutsche Herkunft. Werners Schwester Gretel Canisius verstarb am 31. Dezember 1993 hochbetagt im badischen Weinheim. Nach der Shoah hatten Thekla Isaacsohns Stiefkinder um Entschädigung und die Rückerstattung ihres NS-geraubten Erbes gekämpft.
Letzte Oberin des Frankfurter Stiftungsprojekts ‚Erholungsheim für israelitische Frauen Baden-Baden E.V.‘
Nach Iwans Tod am 24. September 1919 wohnte Thekla Isaacsohn zunächst weiterhin in Holzminden. Laut Meldeunterlagen zog sie dreimal für mehrere Monate – erstmals vom 18. April bis zum 1. Oktober 1923 (danach 8. Mai bis 6. Dezember 1926 und 13. Juni bis 30. Oktober 1928) – nach Baden-Baden (Stadtarchiv Holzminden: Auskunft v. Dr. Matthias Seeliger per Mail v. 13.02.2018). In das berühmte Heilbad im Schwarzwald kam sie sehr wahrscheinlich nicht als Kurgast, sondern half im Erholungsheim für israelitische Frauen Baden-Baden E.V. aus, das sie wenige Jahre später selbst leiten sollte. In Baden-Baden sollte sich der Kreis von Oberin Theklas pflegerischem Engagement für hilfsbedürftige Glaubensgenossinnen schließen: Die Gründerin des im Juni 1913 „in Anwesenheit hochrangiger Repräsentanten aus Stadt und Land Baden“ (Schindler 2013: 79; vgl. auch Anonym. 1913; Plätzer 2012) feierlich eröffneten orthodox-jüdischen Frauenkurheims war, mit Unterstützung ihres bewährten Beraters Michael Moses Mainz und der Frankfurt-Loge Bne Briss – Mathilde von Rothschild, welche bereits die ‚Vorderhaus‘-Villa des Frankfurter Gumpertz’schen Siechenhauses, Thekla Isaacsohns früherer Arbeitsstätte, gestiftet hatte. Der Verein Erholungsheim für israelitische Frauen Baden-Baden E.V. mit Sitz in Frankfurt a.M. „hatte den Zweck, mittellosen Frauen und Mädchen, die aufgrund ärztlicher Anordnung nach überstandener Krankheit oder Überarbeitung einer Kur bedurften oder einen Erholungsurlaub benötigten, eine (vierwöchige) Kur in der Anstalt des Vereins in Baden-Baden unentgeltlich oder gegen Ersatz eines Teils der Selbstkosten zu ermöglichen“ (Schiebler 1994). Das in einer parkähnlichen Gartenlandschaft mit Blick auf die Schwarzwaldberge gelegene Heim öffnete seine Pforten saisonal zwischen Frühjahr und Spätherbst. Insbesondere im und nach dem Ersten Weltkrieg fanden auch Frauen mit Doppelbelastung durch Beruf und Familie Aufnahme. Hinzu kamen in den nachfolgenden Inflationsjahren viele weibliche Kurgäste aus der verarmten Mittelschicht.
Im August 1931 meldete sich Thekla Isaacsohn endgültig aus Holzminden ab und kehrte zunächst nach Frankfurt am Main zurück (Auskunft v. Klaus Kieckbusch, Holzminden, per Mail v. 13.02.2018). Ob sie dort ihren früheren Wirkungsort, das Gumpertz’sche Siechenhaus, besuchte oder gar vorübergehend dort wohnte? Gewiss traf sie Rebecka Cohn, langjährige ‚Ehrendame‘ im Vorstand des Vereins sowie Co-Leiterin des Erholungsheims für israelitische Frauen Baden-Baden E.V. Die Frankfurter Aufenthalte währten nur kurz: So war Thekla Isaacsohn seit dem 8. März 1933 im Frankfurter jüdischen Schwesternhaus (Bornheimer Landwehr 85) gemeldet, kehrte aber bereits am 22. März 1933 wieder nach Baden-Baden zurück (ISG Ffm, HB 655, Bl. 35). Auch später besuchte sie wiederholt Frankfurt und wohnte dort vermutlich bei Bekannten, da sie in den Frankfurter Adressbüchern der 1930er Jahre nicht namentlich aufgeführt ist.
Nach einem Bericht im Frankfurter Israelitischen Gemeindeblatt (Anonym. 1933) wurde Thekla Isaacsohn bereits 1932 Oberin des jüdischen Frauenkurheims zu Baden-Baden, das im gleichen Jahr „nahezu 150 Erholungsbedürftige aufnehmen und ihnen eine erfolgreiche Kur darbieten“ konnte. Zuvor war das stark nachgefragte Heim „durch den Bau einer neuen Liegehalle sowie eines neuen Speisesaals nach den Vorschlägen unserer Ärzte erweitert und verschönt worden“ (Anonym. 1930). Obgleich bereits im Rentenalter, stellte sich Thekla einer fordernden Aufgabe. In der NS-Zeit war sie im Angesicht des eskalierenden Antisemitismus bemüht, das Kurheim als Refugium für gesundheitlich geschwächte jüdische Frauen zu erhalten. Zuletzt vergeblich: Am 29. September 1939 wurde das inzwischen als jüdisches Altersheim geführte Erholungsheim für israelitische Frauen Baden-Baden E.V. in die von Reichssicherheitshauptamt und Gestapo kontrollierte Reichsvereinigung der Juden in Deutschland eingegliedert. Am 22. Oktober 1940 folgte die Deportation von Oberin Thekla mit weiterem Personal und vermutlich einigen älteren Bewohnerinnen in das südfranzösische Lager Gurs. Die Polizeidirektion Baden-Baden versiegelte das zwangsgeräumte Anwesen (StAF: Personalakte Isaacsohn, Thekla). Auf deren Anweisung hin veräußerte die Reichsvereinigung der Juden die Liegenschaft (Werderstraße 24) samt Inventar an einen „arischen“ Kaufmann, der den Kurbetrieb – selbstredend mit nichtjüdischen Gästen – fortführen wollte (ebd.). Nach dem Zweiten Weltkrieg beherbergte das frühere jüdische Frauenkurheim, jetzt Sanatorium Haus Rubens, auf Beschluss des Badischen Innenministeriums seit Juni 1946 ein Erholungsheim „für politisch, rassisch und religiös Verfolgte“ (Schindler 2013: 291, Fn 14; siehe auch Alemannia Judaica Baden-Baden nach 1945.
Die Geschichte des Erholungsheim für israelitische Frauen Baden-Baden E.V. gilt es noch weiter aufzuarbeiten.
„Wir wissen hier nichts von der Welt u. sehen nur Stacheldraht“ – NS-Verfolgung und Deportation nach Gurs (Südfrankreich)
Unter der NS-Verfolgung bot das jüdische Frauenkurheim zu Baden-Baden seinen Gästen vorübergehend einen Schutzraum:
„Die Notwendigkeit des Heims hat sich in dem vergangenen, für die deutsche Judenheit so schweren Jahr [1934, B.S.] besonders bewährt. Etwa 150 Erholungsbedürftige konnten im Vorjahre aufgenommen werden. In der Versammlung kam der besondere Dank gegenüber den Leitern des Heims, Frau R. Cohn und Frau Thekla Isaacsohn […] zum Ausdruck“ (Anonym. 1935).
1938 trafen die NS-staatlich organisierten Novemberpogrome auch Baden-Badens jüdische Gemeinde: Ein vorsätzlich gelegter Brand zerstörte ihr Gotteshaus, die männlichen jüdischen Bürger wurden verhaftet und in aller Öffentlichkeit durch die Stadt getrieben. Schon im Frühjahr 1938 musste Thekla Isaacsohn vom Suizid ihres einzigen Bruders Josef Mandel – wie sein Vater jüdischer Religionslehrer, unter der NS-Verfolgung zuletzt Handelsvertreter in Berlin – erfahren; mit Josef, Betty und der 1931 in Hamburg verstorbenen Hanna Wolff hatte sie bereits drei Geschwister verloren. Zwei weitere Schwestern – Alma Feist und Rosa von der Walde – wurden zusammen mit ihren Ehemännern in der Shoah ermordet. Einzig die Jüngste, Hermine Norden, konnte im britischen Exil überleben.
Im Jahr 1939 reiste Thekla Isaacsohn noch einmal nach Frankfurt. In einer Wohnung (Thüringer Straße 19) nahe des Frankfurter Zoo entstand am 13. März 1939 das vermutlich letzte und einzige noch erhaltene gemeinsame Foto mit ihrem geliebten jüngeren Enkel Claus.
Wieder in Baden-Baden, hielt Oberin Thekla im israelitischen Frauenerholungsheim, nunmehr Altersheim, weiterhin die Stellung. „Die letzten Gäste – meist ältere Frauen, für die eine Auswanderung nicht mehr in Frage kam – wurden am 22.10.1940 in das Internierungslager Gurs deportiert“, schreibt die Autorin und Redakteurin Angelika Schindler (dies. 2013: 79). Die Verschleppung der jüdischen Bevölkerung aus Baden und der Saarpfalz in das südfranzösische Lager Gurs war eine der ersten Deportationen aus Nazideutschland. Die als ,Ausweisung‘ getarnte und nach den beiden hauptverantwortlichen NS-Gauleitern benannte ‚Wagner-Bürckel-Aktion‘ stand unter höchster Geheimhaltung (vgl. einführend den Wikipedia-Eintrag ,Wagner-Bürckel-Aktion‘ mit weiteren Literaturangaben: https://de.wikipedia.org/wiki/Wagner-B%C3%BCrckel-Aktion [21.09.2020]). Sie traf die jüdischen Bürger/innen völlig unvorbereitet: In den frühen Morgenstunden des 22. Oktober 1940 drangen Gestapobeamte und Mitglieder nationalsozialistischer Parteiformationen in ihre Häuser und Wohnungen ein und nötigten sie zum hastigen Packen; lediglich 50 Pfund Gepäck und bis zu 100 RM waren erlaubt. Der Überfall ließ keine organisierte Gegenwehr zu, zumal er nach der vorausgegangenen Zwangsemigration jüngerer Menschen viele ältere und gesundheitlich angeschlagene Menschen traf, aber auch Kinder und Jugendliche; jüdische Partner/innen aus so genannten „Mischehen“ blieben vorerst verschont. Durch die Gleichstellung der ‚Ausgewiesenen‘ mit ‚Reichsflüchtlingen‘ unter Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit verschaffte sich der NS-Staat seine ,Legitimation‘ für den Zugriff auf ihr Eigentum. Die Räumlichkeiten der Deportierten wurden behördlich versiegelt, bewegliche Güter im Auftrag der Dienststelle des Generalbevollmächtigten für das jüdische Vermögen öffentlich versteigert.
Auch Thekla Isaacsohn verlor alle finanziellen Rücklagen und nahezu ihre gesamte Habe. Das Gepäck unterlag repressiven Auflagen: „Nicht genehmigt waren z.B. rezeptpflichtige Medikamente, für ältere Menschen – und das waren in Baden-Baden fast alle Deportierten – eine lebensbedrohliche Regelung“ (Schindler 2013: 260). Nur ein wärmender schwarzer Seal-Pelzmantel ,begleitete‘ die 73-jährige Oberin nach Gurs. Den Großteil ihrer Kleidung und Wäsche musste sie zurücklassen, ebenso ihre im Kurheim untergebrachte komplette Wohn- und Schlafzimmereinrichtung sowie Gebrauchsgegenstände und Bücher. Der Verbleib ihres Mobiliars lässt sich nicht mehr ausreichend klären: Nach bisherigem Informationsstand rettete der Noch-Eigentümer des jüdischen Frauenkurheims, die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, vor dem Verkauf (‚Arisierung‘) der Liegenschaft Teile des Inventars für jüdische Altersheime in Mannheim und Konstanz – ohne Kenntnis, dass sich darunter womöglich private Möbel der Oberin befanden (StAF: Personalakte Isaacsohn, Thekla; Restitutionsverfahren Erholungsheim für israelitische Frauen in Baden-Baden e.V.). Die nicht übernommenen Objekte wurden im Haus versteigert oder gelangten gegen eine geringe Gebühr an den Vertreter der jüdischen Reichsvereinigung in den Besitz des Käufers Rubens. Im Sommer 1941 statteten Gretel und Peter Canisius – Thekla Isaacsohn hatte die Lagerhaft bereits das Leben gekostet – dem ‚Haus Rubens‘ einen Besuch ab. Das Ehepaar Rubens zeigte sich kooperativ und händigte einige wenige noch verbliebene Gegenstände aus, die Thekla Isaacsohns Erben als das Eigentum ihrer Mutter und Schwiegermutter erkannten.
Die Deportation am 22. Oktober 1940 in Richtung Südfrankreich, das dem mit Nazideutschland kollaborierenden Pétain-Regime in Vichy unterstand, war mit den französischen Behörden offenbar nicht abgesprochen. Dennoch verweigerten die deutschen Nationalsozialisten strikt die Rückführung der insgesamt über 6.500 jüdischen Badener/innen, Pfälzer/innen und Saarländer/innen nach Deutschland. So leitete das überrumpelte französische Bahnpersonal die Deportationszüge weiter in den Süden. Bis dahin mussten die in verplombten Waggons Eingepferchten mehrere Tage und Nächte ausharren – ohne ausreichende Flüssigkeit, Verpflegung und medizinische Versorgung. Völlig erschöpft erreichten sie das Camp de Gurs und gerieten in ein morastiges, baufälliges und bereits winterlich kaltes Barackenlager am Fuße der Pyrenäen, das „die Dimensionen einer mittleren Stadt hatte“ (Teschner 2002: 123). Das mit Stacheldraht von der Außenwelt abgesperrte Lager „besteht aus ca. 380 Baracken, die weder sanitäre Anlagen noch Trennwände haben. Statt Fenster gibt es unverglaste Lichtluken, die durch Holzklappen verschlossen werden können. In einer Baracke sind etwa 50 bis 60 Menschen untergebracht“ (Gerlach/Weber 2005: 16). Ihre traumatischen Eindrücke vom Lager Gurs im Herbst/Winter 1940 schilderte die Schweizer Rotkreuzschwester Elsbeth Kasser (zit. n. Wiehn 2010: 165-168, hier 165f.):
„Die erste Nacht war kalt und hart. Ratten rannten umher und bissen manchmal zu, Wanzen machten sich bemerkbar. […] Es regnete und regnete… Der Boden war in ein Schlamm-Meer verwandelt, etwas vom Schlimmsten in Gurs. Nur mühsam konnte ich mich fortbewegen, glitt aus, sank ein. […] Als ich zum ersten Mal in eine Baracke eintrat, war es trotz Tageslicht dunkel. Wegen der Kälte hatte man die Fensterläden geschlossen, und Fensterscheiben gab es keine. Da lag und kauerte auf oft feuchten Strohsäcken am Boden Mensch an Mensch. Tisch, Sitzgelegenheit oder Aufhängevorrichtung für Kleider fehlten. Wegen der Kälte schliefen viele in ihren Kleidern. […] Ein spärliches Licht brannte nur von 18 bis 20 Uhr. Ratten und anderes Ungeziefer trieben ihr Unwesen. Die Latrinenverschläge waren bis zu 100 Meter Entfernung in 2 Meter Höhe auf steiler Treppe erreichbar. […] Hier harrten auf engstem Raum vom Unglück verfolgte Menschen: Kranke, Alte und Kinder. Manche erfroren, viele starben vor Schwäche, und auf dem Lagerfriedhof zählte man schon nach dem ersten Winter über 1000 Gräber.“
Auch wegen ihres höheren Alters war die Sterberate unter den jüdischen Gefangenen hoch. „Nach den Unterlagen der Verwaltung starben im Lager Gurs zwischen dem 25. Oktober und dem Jahresende 1940 476 Personen“ (Teschner 2002: 161) – sehr wahrscheinlich an einer Durchfall-Epidemie in Verbindung mit verunreinigtem Trinkwasser. Dieser „Vorhölle von Auschwitz“ entkamen nur wenige Gefangene: Eine minimale Chance hatten Internierte mit Kontakten ins Ausland, die Visa, Schiffspassagen und Devisen beschaffen konnten (vgl. Schindler 2013: 256). Viele Deportierte hatten bei dem hastigen Aufbruch ihre Papiere zurückgelassen; Anträge wurden von den NS-Behörden verschleppt.
Infolge der gezielten Überfall-Strategie der ‚Wagner-Bürckel-Aktion‘ blieben außerhalb Badens und der Saarpfalz lebende Angehörige lange Zeit im Ungewissen und erfuhren erst spät von deren ‚Ausweisung‘. Zu Alma Feist und Rosa van der Walde drang ein Brief ihrer Schwester Thekla durch, der sie über ihre Lagerhaft im fernen Gurs unterrichtete. Korrespondenz von und nach Gurs unterlag, wenn sie überhaupt ihr Ziel erreichte, einer „strengen Zensur“ (Gerlach/Weber 2005: 17). Die im westfälischen Minden wohnende Stieftochter Gretel Canisius hatte anfangs gehofft, die Oberin hätte den Transport der letzten Bewohnerinnen des Baden-Badener Heims nur begleitet und käme bald zurück. Doch sollte sie ihre geliebte „Leviratsmutter“ nie mehr wiedersehen. Selbst unter menschenfeindlichen Lagerbedingungen klardenkend und um ihre Lieben besorgt, bestimmte Thekla Isaacsohn nicht Gretel, sondern deren nach den NS-Rassegesetzen „arischen“ Ehemann zu ihrem offiziellen Erben. Erhalten ist ein Brief (StAF: Personalakte Isaacsohn, Thekla: handschriftliches Schreiben, undatiert (um 1941)) – vermutlich das letzte Lebenszeichen – in dem sie festhielt: „Wir wissen hier nichts von der Welt u.[nd] sehen nur Stacheldraht“. Thekla Isaacsohn überlebte die verheerende Epidemie des Winters 1940/41 im Lager Gurs, doch fiel am 3. Mai 1941 auch sie dem „kalten Mord“ (zitiert nach Resi Weglein, Krankenschwester und Überlebende von Theresienstadt, vgl. dies. 1990) zum Opfer. Von ihrem Tod erfuhren die Angehörigen, wie ihr Enkel Claus Canisius (2015: 325) mitteilt, erst anhand „einer Haarlocke in einem handschriftlichen Brief, geschrieben von einem anonymen Zeitzeugen“.
Seit 2010 erinnern an die Oberin und weitere Mitarbeiter/innen des israelitischen Frauenkurheims am ehemaligen Standort Werderstraße 24 sechs Stolpersteine (vgl. Schindler 2013: 291-292, Fn 14 sowie Badische Landesbibliothek Karlsruhe Verzeichnis: Stadtkreis Baden-Baden, S. 4, Nr. 48; BAK Gedenkbuch; JUF Datenbank; Stolpersteine Baden-Baden; Yad Vashem Datenbank).
Zusammen mit Thekla Isaacsohn wurden deportiert:
- Lina Geismar geb. Katz (1894 Guxhagen/Melsungen – 1942 Auschwitz), Köchin;
- Ludwig Geismar (1896 Breisach – 1942 Auschwitz), Hausdiener;
- Rosa Goldschmidt (1889 Gelnhausen – 1942 Auschwitz), Bürohilfe;
- Katharina (Käthe) Preis (1913 Saarbrücken – 1942 Auschwitz), Hausgehilfin;
- Marion (Maria Karin) Spier (1908 Kassel – 1942 Auschwitz), Hausgehilfin.
Schwarzwaldtanne, Stolperstein und Kiddusch-Kelch: Wege des Gedenkens an Thekla Isaacsohn
Anders als die allermeisten Mordopfer der Shoah erhielten Thekla Isaacsohn und viele ihrer 1940 deportierten Leidensgenossinnen und Leidensgenossen eine Beerdigungsstätte: auf dem Lagerfriedhof des Camp de Gurs mit über tausend noch heute bestehenden Gräbern. Der Friedhof, lange Zeit vergessen und verdrängt, verwahrloste zusehends, ein Zustand, der Angehörige und Nachkommen zusätzlich belastete. Im Jahr 1957 begab sich Gretel Canisius auf die mühselige Spurensuche nach dem Grabstein ihres geliebten „Muttchens“. Aus ihrem Bericht (zit. n. Canisius 2015: 327) sprechen Trauer und Wut, aber auch Erleichterung, dass überhaupt ein Grab existiert:
„Diesen Landstrich muss der Herrgott im Zorn erschaffen haben. Es hat aus Eimern geschüttet. […] wir blieben fast stecken im Schlamm, unbefestigte Wege, Gräber in Reihen, Gräber soweit das Auge reichte. Auf jedem Grab ein Schild mit Nummer & Namen der Toten. In der Mitte des Friedhofs ein großer steinerner Obelisk mit einem Davidstern, von Amerikanern gestiftet. Wir haben gesucht & gesucht und haben Muttchens Grab gefunden. Ich habe eine Schwarzwaldtanne gepflanzt, begießen brauchte ich sie nicht, das haben meine Tränen und der Himmel besorgt. – Heute ist der Friedhof vom Land Baden-Württemberg instand gesetzt und bestens gepflegt. Zur Einweihung war Sohn Peter dabei. Ein Alb ist von meiner Seele gewichen. Ich habe sie noch einmal besucht, wenn auch nicht mehr im Leben, so doch im Tode.“
Der „Deportiertenfriedhof“ (vgl. Stadt Karlsruhe:
https://www.karlsruhe.de/b4/international/gurs.de [21.09.2020]) wurde schließlich auf Initiative des damaligen Karlsruher Oberbürgermeisters Günther Klotz instandgesetzt, neugestaltet und am 26. März 1963 eingeweiht. Seit 2002 beteiligt sich auch die Stadt Baden-Baden an der Finanzierung der Pflege des Friedhofs als einem Gedenkort.
„[…] das Verschleppen meiner Großmutter nach Gurs und damit in den Tod ist grauenhaft trostlos“, trug Gretels jüngerer Sohn Dr. Claus Canisius in seine Publikation Mosaische Spurensuche (ders. 2015: 329) ein. Ermutigung, Selbstvergewisserung und Trost fand der Musikwissenschaftler im Gedenken an die mütterliche jüdische Familiengeschichte der Isaacsohns und der Mandels, deren biografisches und kulturelles Erbe er aufdeckte und in deren Tradition er sich selbst verortete. So besuchte er nicht nur den ‚Stolperstein‘ für seine Großmutter Thekla vor dem ehemaligen Baden-Badener jüdischen Frauenkurheim, sondern ebenso die Gräber seiner Vorfahren auf dem Jüdischen Friedhof Holzminden (vgl. Canisius 2016). Seine 1993 verstorbene Mutter Gretel hinterließ ihm ein kostbares Gut: zwei unversehrte Kiddusch-Kelche. Die vor der nationalsozialistischen Vernichtung bewahrten rituellen Weinkelche befanden sich zuvor im Besitz seines Großvaters Iwan Isaacsohn.
Iwan Isaacsohn hatte die rituellen Weinkelche von seinen Eltern Fanny und Joseph Nehemias Isaacsohn geerbt und diese wiederum von Josephs Vater Rabbi Chaver Nehemia Ben Jitzhak, Sohn von Rabbi Jitzhak und ein hochangesehener jüdischer Gelehrter (Chaver), der an einer Tora-Talmud-Hochschule (Jeschiwa) lehrte. Der jüngere der beiden Kelche, „verziert mit vier religionsgeschichtlichen bedeutenden Gravuren“ (Canisius 2015: 305), war ein Geschenk der Jeschiwa-Studenten an ihren hochverehrten Lehrer.
Die erste Inschrift enthält „die Genealogie der Familie Isaacsohn, die von Lehrern und Schülern gemeinsam erstellten Widmungstexte sowie das Totengedenken“ (ebd.: 307). Diese Entdeckung war für Claus Canisius – als dem Nachfahren und Erben einer von den Nationalsozialisten fast vernichteten jüdischen Familie – von unschätzbarem Wert.
Die gemeinsame jüdische Tradition und Familiengeschichte (vgl. Canisius 2015: 318), symbolisiert durch die geretteten Kiddusch-Kelche und ihre Inschriften, hat Claus Canisius wieder mit seiner schmerzlich vermissten Großmutter vereint. In einem Interview (vgl. Altenburg 2015) hatte Oberin Theklas über 80-jähriger Enkel seinem Gesprächspartner einen Herzenswunsch offenbart: „Ich würde gerne Rabbiner werden.“
Nachbetrachtung und Dank
Bis auf ihren Brief aus dem Camp de Gurs sind von Thekla (Mandel) Isaacsohn bislang keine weiteren Ego-Dokumente wie Tagebücher, Aufzeichnungen und Korrespondenzen bekannt. Gleichwohl gehört ihre berufliche, persönliche und Familienbiografie zu den wenigen Lebensgeschichten deutsch-jüdischer Krankenschwestern, die weitgehend rekonstruiert werden konnten. Eine ähnlich günstige Quellenlage weisen lediglich der erhaltene Teil-Nachlass und die 1996 veröffentlichte Autobiografie Stationen einer jüdischen Krankenschwester. – Deutschland – Ägypten – Israel von Thea Levinsohn-Wolf auf. Am Beispiel Thekla Isaacsohns und ihrer jüngeren Frankfurter Kollegin Thea lassen sich für Bildung, Fortbildung, Unterricht und Lehre wichtige Aspekte deutsch-jüdischer Pflegegeschichte dokumentieren, beleuchten und mit Fotomaterial veranschaulichen, Erkenntnisse über Zusammenhänge von Pflege und Judentum gewinnen, Erinnerung vertiefen.
Für die großartige Unterstützung und Zusammenarbeit bei den Recherchen zu diesem Artikel dankt die Autorin ganz besonders dem im März 2020 leider verstorbenen Musikwissenschaftler und Enkel Dr. Claus Canisius, seiner Frau Dorothea Canisius für die gastfreundliche Aufnahme. Des Weiteren geht der Dank (in alphabetischer Reihenfolge) an Dr. Claudia Becker, Stadtarchiv Lippstadt – Klaus Kieckbusch, Holzminden – Jochen Rees, Staatsarchiv Freiburg – Andrea Rönz, Stadtarchiv Linz am Rhein – Gerd Schmitz, Standesamt Linz am Rhein – Dr. Matthias Seeliger, Stadtarchiv Holzminden – Prof. em. Dr. Erhard Roy Wiehn, Universität Konstanz. Für die Erforschung der Familiengeschichte Mandel/Isaacsohn hilfreich war zudem das digitale Datenbankprojekt Jüdisches Leben in Minden und Umgebung (https://juedisches-leben.kommunalarchiv-minden.de/index.php, Stand 21.09.2020).
Birgit Seemann, Stand November 2021