Die Fürsorgerin, Krankenschwester und Säuglingspflegerin Juliane (Julie Anne) Wolff wurde am 26. Oktober 1912 in Bocholt geboren. Bocholt (heute Kreis Borken, Nordrhein-Westfalen), gelegen im westlichen Münsterland nahe der niederländischen Grenze, war zu dieser Zeit eine Textilarbeiterstadt, doch gehörte ihre Familie der Mittelschicht an: Der Vater Hermann Wolff (1888-1945), ein Diplom-Kaufmann aus Dortmund, leitete zusammen mit seinem Bruder Leo Wolff einen Textilbetrieb. Ihre Mutter, gelernte Kindergärtnerin, war die bekannte Sozialdemokratin, Gewerkschafterin und Mitbegründerin der Arbeiterwohlfahrt Jeanette Wolff (geb. Cohen, verw. Fuldauer, 1888-1976). Nach dem Zweiten Weltkrieg amtierte die erste jüdische Bundestagsabgeordnete neben vielen weiteren Funktionen als stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland und stand viele Jahre lang dem Jüdischen Frauenbund vor (vgl. Lange 1988, Seemann 2000, Faulenbach (Hg.) 2002; siehe auch Schmalstieg 1997). Den Mut, zu eigenen Überzeugungen zu stehen, lernte Juliane Wolff auch von ihrem Großvater Isaac Cohen (1855-1929), einem Sozialdemokraten der ersten Stunde und Anhänger August Bebels: Er hatte, statt sich den 1878 im Reichstag des Deutschen Kaiserreichs verabschiedeten Sozialistengesetzen (‚Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie‘) zu beugen, seinen Lehrerberuf aufgegeben und zusammen mit seiner Frau Dina (1859-1938) in Bocholt einen Textilhandel eröffnet.
Anders als bei den meisten deutsch-jüdischen Krankenschwestern und Pflegern ist über Juliane Wolffs Kindheit und Jugend einiges bekannt. So wuchs sie mit ihren beiden jüngeren Schwestern Edith (1916-2003) und Käthe (1920-1942) in einem kulturellen Milieu auf, in dem jüdische Überlieferung, soziale Gerechtigkeit und politisches Engagement nahezu eine Einheit bildeten – eine Haltung, die ihre Mutter trotz der Zerstörungen der Schoah beibehalten konnte. Die auch journalistisch tätige Jeanette Wolff schrieb: „Der eine oder andere […] hat sicherlich darüber nachgedacht, warum unter den Vorkämpfern für liberale Lebensauffassungen, für die Gleichberechtigung aller Menschen, für Menschenrecht und Menschenwürde, ja für die wirtschaftliche Gleichberechtigung aller soviel jüdische Namen auftauchen […] u.a. aus der Geschichte der modernen Arbeiterbewegung. Vielleicht erwuchs ein Teil der Bekenntnisse aus der Unterdrückung, der die Juden von jeher ausgesetzt waren, sicherlich aber auch zum großen Teil aus der Lebensbejahung und aus der sozialen Ethik heraus, auf denen die jüdische Religion beruht und in der die Kraft des sich Behauptens, trotz aller Willkür der Umwelt, ihren Ursprung hat“ (Wolff o.J.: 119).
Jeanette Wolffs drei Töchter waren, wie Julianes Schwester Edith Marx (geb. Wolff, verw. Sominski) berichtete, „sehr frei erzogen worden. […] Wurden damals Kleinkinder in sogenannten Steckkissen belassen, so krochen die Wolffschen Kinder draußen auf dem Rasen nackt auf Decken herum, sehr zur Empörung der Nachbarn. […] Jeanette Wolff erlaubte ihren Töchtern vieles, was anderen verwehrt wurde. Ihr ging es vor allem darum, ein besonderes Vertrauensverhältnis zu ihren Kindern herzustellen. […] Die drei Töchter wuchsen mit einem für die damalige Zeit selten ausgeprägten Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen auf“ (Lange 1988: 29).
1919 wurde die Sozialdemokratin Jeanette Wolff als erste Jüdin in den Bocholter Stadtrat gewählt, dem sie bis 1932 angehörte. Durch ihren frühzeitigen Kampf gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus machte sie sich in der wachsenden nationalsozialistischen Bewegung Feinde, die vor nichts zurückschreckten. Bereits ein Jahr vor der NS-Machtübernahme 1933 vertrieben rechtsextreme Angriffe die Familie Wolff von Bocholt in die nahe Kreisstadt Dinslaken.
Beruflicher Werdegang
In Dinslaken wohnte die noch nicht volljährige Juliane Wolff mit ihrer Familie in der Wielandstraße 11 (vgl. Grafen o.J.). Infolge antisemitischer Intrigen hatte ihr Vater seinen Bocholter Textilbetrieb mit hohem Verlust verkaufen müssen, konnte aber in Dinslaken ein Bekleidungshaus eröffnen, das u.a. Berufs- und Sportkleidung für Arbeiter anbot. Für die 19jährige Juliane Wolff rückte das Berufsziel Ärztin – sie wollte nach einem Hinweis ihrer Schwester Edith Medizin studieren – in weite Ferne, und sie entschied sich für eine Ausbildung im Wohlfahrts- und Pflegewesen. Hierzu belegte sie 1932 ein einjähriges Proseminar für Kranken- und Säuglingspflege an der Niederrheinischen Frauen-Akademie Düsseldorf, einer staatlich anerkannten Wohlfahrtsschule. Die erforderliche neunmonatige Praxisausbildung absolvierte Juliane Wolff in dem auch heute noch bestehenden St. Vinzenz-Hospital in Dinslaken; in der Pflege unterwiesen sie katholische Nonnen, die Clemensschwestern.
Laut Zeugnis der Niederrheinischen Frauen-Akademie bestand Juliane Wolff die Prüfung am 28. April 1933 mit gutem Erfolg; der zugleich erworbene Nachweis einer fachlichen Berufsschulung im Hauptfach Gesundheitsfürsorge hätte ihr die weitere Ausbildung an einer Wohlfahrtsschule ermöglicht. Diesen Weg verschloss ihr die nationalsozialistische Verfolgung: Bereits am 5. März 1933, dem Tag der Reichstagswahl, hatte die SA ihre Mutter als eine der ersten weiblichen Oppositionellen in ‚Schutzhaft‘ genommen; Jeanette Wolff kam erst zwei Jahre später wieder frei und stand danach unter Gestapo-Aufsicht. Die Wohn- und Geschäftsräume in Dinslaken waren durchsucht und auch Hermann Wolff für einige Wochen inhaftiert worden. Mit ihrem Vater, den Schwestern Edith und Käthe und der Großmutter Julia Wolff flüchtete Juliane Wolff am 2. Mai 1933 von Dinslaken nach Dortmund. Möglicherweise lebte sie dort bis zur Haftentlassung ihrer Mutter am 17. April 1935. Die Familie Wolff richtete in ihrem Wohnhaus Münsterstraße 40 1/2 (heute Nr. 46) einen Mittags- und Abendtisch für jüdische Gäste ein, da ihnen der Zugang zu den meisten Restaurants der Stadt verboten war. Der frühere Unternehmer Hermann Wolff musste sich als Versicherungsvertreter (im Volksmund: „Treppenterrier“) verdingen.
Auch Juliane Wolffs berufliche Wege verengten sich und beschränkten sich als Folge der Nürnberger NS-Rassengesetze zunehmend auf jüdische Arbeitgeber. Ob sie ihre Pflegeausbildung in einem der jüdischen Schwesternvereine fortsetzte, ist bislang ungeklärt. Vom 30. Juli 1936 bis zum 26. Juli 1937 war sie bei der jüdischen Gemeinde zu Worms angestellt und arbeitete als Fürsorgerin im jüdischen Altersheim (vgl. Schlösser/ Schlösser 2002), Hintere Judengasse 6; in dem traditionsreichen Gebäude, dem „Raschi-Haus“, befindet sich heute das Jüdische Museum Worms. Juliane Wolffs nächste berufliche Station war Frankfurt am Main.
Krankenschwester am Rothschild’schen Hospital
Juliane Wolff begann ihre Tätigkeit am orthodox-jüdischen Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung im August 1937 zunächst als Vertretungsschwester. Vom Mai 1938 bis zum April 1939 betreute sie als Privatschwester eine Patientin der Nervenabteilung. Danach pflegte „Schwester Anne“, wie sie genannt wurde, im allgemeinen Stationsdienst (Innere Abteilung, Chirurgische Abteilung, Infektionsabteilung). Aufgrund ihrer Tüchtigkeit stieg sie zuletzt zur leitenden Stationsschwester auf. Diese Informationen verdanken wir zwei geretteten Arbeitszeugnissen (StA Dinslaken: Sammlung Jeanette Wolff, SP 52 – Nr. 27), die die NS-Zeit überstanden, ausgestellt von Juliane Wolffs Vorgesetzten, den ärztlichen Direktoren Dr. Sally Rosenbaum und Dr. Franz Grossmann.
Im Arbeitszeugnis vom 7. Dezember 1939 hob Dr. Rosenbaum Juliane Wolffs „heiteres und lebhaftes Wesen“, ihr „tiefes soziales Gefühl“ und ihren „persönlichen Einsatz für Notleidende“ hervor. Er schrieb:
„Anlässlich meines Ausscheidens aus dem Dienste als leitender Arzt des G.[eorgine] S.[ara] von Rothschild’schen Hospitals erteile ich hiermit Schwester Anne Wolff, geboren am 26. Oktober 1913[sic], auf Grund einer über zweijährigen Kenntnis ihrer Person wie ihrer Leistungen als Krankenschwester das nachfolgende vorläufige Zeugnis: Schwester Anne Wolff war in der Zeit von August 1937 bis April 1938 wiederholt als Vertretungsschwester in unserem Hause tätig. Vom 1. Mai 1938 bis 15. April 1939 war sie als Privatschwester einer älteren durchaus schwierigen Insassin unserer Nervenabteilung in unserem Hause, und sie ist nun nach Beendigung dieser Pflege seither als Schwester fest in unserem Hause angestellt, in welcher Stellung sie noch ist.
Schwester Anne arbeitete sowohl als Vertretungsschwester wie als Privatschwester und Schwester des Hauses stets zur vollen Zufriedenheit der Ärzte. Sie zeichnete sich besonders durch ihr heiteres und lebhaftes Wesen aus, das ihr die Zuneigung erwarb, und mir persönlich wurde ihr tiefes soziales Gefühl bekannt und ihr persönlicher Einsatz für Notleidende, durch den sie sich grosse Verdienste errang.
Ich wünsche Schwester Anne alles Beste und empfehle sie bei einem Wechsel ihres Tätigkeitsfeldes als brauchbare und überall voll einsatzfähige Schwester.“
Auch Dr. Grossmann würdigte im Arbeitszeugnis vom 29. März 1940 neben ihren fachlichen Qualitäten Juliane Wolffs „grosse Hilfsbereitschaft und Arbeitswilligkeit sowie ihr stets freundliches Wesen“: „Schwester Julie Anne Sara Wolf [sic] […] war vom 1. April 1939 bis zum 31. März 1940 im allgemeinen Stationsdienst beschäftigt und wurde hier auf den chirurgischen und inneren Abteilungen sowie auf der Infektionsabteilung des Hospitals eingesetzt. Zuletzt war sie als leitende Stationsschwester tätig. Schwester Anne besitzt auf allen Gebieten der Krankenpflege sehr gute Kenntnisse und reiche Erfahrungen. Ihre grosse Hilfsbereitschaft und Arbeitswilligkeit sowie ihr stets freundliches Wesen sicherten ihr nicht nur die Dankbarkeit der ihr anvertrauten Kranken[,] sondern auch das Vertrauen ihrer Vorgesetzten.
Schwester Anne verlässt mit Ablauf dieses Monats auf eigenen Wunsch ihre hiesige Stellung, um in einem anderen Betrieb neue Kenntnisse und Erfahrungen zu sammeln. Meine besten Wünsche begleiten sie auf ihrem weiteren Lebensweg“ [Hervorhebung im Original gesperrt; unter Dr. Grossmanns Unterschrift steht der antisemitische Stempelvermerk: ‚Zur ärztlichen Behandlung ausschließlich von Juden berechtigt‘].
Ob Juliane Wolff wirklich eine neue Arbeitsstelle antrat und um welchen „Betrieb“ es sich dabei handelte, konnte bislang nicht herausgefunden werden. Vermutlich verließ sie Frankfurt im April 1940, soll aber erst am 18. Januar 1941 (vgl. Grafen o.J.) oder nach den Angaben ihrer Mutter kurz vor der Deportation der Familie Wolff im Januar 1942 in Dortmund eingetroffen sein (vgl. Wolff 1981: 20).
Krankenschwester im KZ
In Dortmund musste Juliane Wolff in ein Ghettohaus (NS-Jargon: „Judenhaus“) in der Williburgstraße 6 ziehen, wo die NS-Behörden bereits ihre Eltern, ihre Schwester Edith, ihre Großmutter Julia Wolff und weitere antisemitisch Verfolgte einquartiert hatten; die vermutlich in Widerstandskreisen aktive jüngste Schwester Käthe Wolff war im Polizeigefängnis Steinwache gefoltert und danach in das Frauen-KZ Ravensbrück verschleppt worden. Von Dortmund erfolgte am 27. Januar 1942 die Deportation der Familie Wolff (ohne die später in Theresienstadt ermordete Großmutter), zusammen mit weiteren etwa 1.000 Leidensgenossen. Im Zug versorgte Juliane Wolff einen Patienten – ein Feldgendarm des Wachpersonals hatte ihn mehrfach mit dem Gewehrkolben geschlagen – und dessen Ehefrau (vgl. Wolff 1981: 22). Die völlig überfüllten und unbeheizten Waggons erreichten am 1. Februar 1942 bei klirrender Kälte den Bahnhof Skirotava von Riga in Lettland (vgl. zur Schoah in Riga Angrick/ Klein 2006, Schneider 2008).
Riga-Ghetto (Stammlager)
Im Ghetto Riga-Moskauvorstadt setzte das KZ-Personal Juliane und Edith Wolff als Sanitäterinnen ein (vgl. Wolff 1981: 26); die unter menschenfeindlichen Bedingungen zu bewältigende ‚Krankenpflege‘ war Teil des Zwangsarbeitssystems. Nach dem Bericht ihrer Mutter entkam Juliane Wolff einmal nur knapp den als ‚Verschickung‘ getarnten mörderischen Selektionen im Lager, die der KZ-Kommandant Kurt Krause koordinierte; betroffen waren geschwächte, ältere oder auch unliebsame Häftlinge, die man loswerden wollte. Ausgerechnet der jüdische Mithäftling Dr. Hans Aufrecht, leitender Arzt des Ghettos, soll kraft seiner ihm von den NS-Tätern aufgezwungenen Funktion Juliane Wolffs Namen auf eine ‚Verschickungsliste‘ gesetzt haben. In den oben vorgestellten Arbeitszeugnissen haben beide Direktoren des Rothschild’schen Hospitals „Schwester Anne“ übereinstimmend als eine sozial engagierte Pflegekraft beschrieben, die sich für Schwächere einsetzte. War Juliane Wolff, vermutlich wie ihre Schwester Edith im Häftlingskrankenhaus des Riga-Ghettos tätig, mit ihrem dortigen Vorgesetzten aneinandergeraten? Jeanette Wolff notierte: „[…] mein ältestes Mädel war von Chefarzt Dr. Aufrecht mit auf die Liste gestellt worden, und nur durch Rücksprache mit dem Polizeioberleutnant Heser, der mit dem Kommandanten sprach, blieb mir meine […] Tochter erhalten. […] Von der Schutzpolizei erfuhren wir dann, daß es sich bei dieser Verschickung um planmäßige Ausrottung handelte. Unsere seelische Verfassung war nicht zu beschreiben“ (Wolff 1981: 26 [Hervorhebung im Original]). Offenbar versuchte das Ehepaar Aufrecht – Dr. Aufrechts Ehefrau Ilse war Krankenschwester im Häftlingsspital – aber auch, jüdische Mithäftlinge zu retten oder zumindest deren Los zu erleichtern (vgl. Schneider 2008: 99). Die Schoah haben beide nicht überlebt: Ilse Aufrecht wurde auf einem ‚Todesmarsch‘ (vgl. Blatman 2011) erschossen, als sie nicht mehr weitergehen konnte. Dr. Hans Aufrecht erlag kurz nach der Befreiung dem unglückseligen Schuss eines russischen Soldaten, der ihn wegen seines blonden und blauäugigen Aussehens für einen Nazi hielt (vgl. Schneider 2008: 181); nach einer anderen Version wurde er auf Anzeige überlebender jüdischer Mithäftlinge von den sowjetischen Militärbehörden hingerichtet (vgl. Becker-Jákli 2004: 376).
Vom KZ Kaiserwald (Stammlager) in das Vernichtungslager Stutthof
Juliane und Edith Wolff wurden zu einem unbekannten Zeitpunkt von ihren Eltern Jeanette und Hermann Wolff getrennt. Von Edith Wolff ist bekannt, dass sie im KZ Riga-Kaiserwald (Stammlager), errichtet im Frühjahr 1943, als Oberschwester im Häftlingsspital eingesetzt war. Das Kaiserwaldspital befand sich in einer „fünften Holzhütte des Männerlagers […] nahe dem trennenden Stacheldraht zum Frauenbereich. Die Krankenräume verfügten über zweistöckige Pritschen, jeweils 15 bis 20 solcher Betten in einem Männer- und einem Frauenabteil. Im Eingangsbereich befanden sich linkerhand die Ambulanz und der OP-Raum. Daneben lagen die Räume für den Leiter der Häftlingsärzte und die Unterkünfte weiterer männlicher Häftlingsärzte, davon abgetrennt die Unterkünfte des weiblichen Revierpersonals. In einem abgetrennten Bereich des Reviers – der Isolierstation – behandelte das Häftlingspersonal infektiöse Patienten. Insgesamt bot die Station Platz für maximal 60 Personen“ (Jahn 2008: 24). Ihre schrecklichen Erlebnisse im Krankenrevier, wo ebenfalls regelmäßig Selektionen stattfanden, hielt Edith Wolff schriftlich fest, sie flossen in den Überlebensbericht ihrer Mutter ein: „Das Kaiserwaldspital war das Sammelspital für eine ganze Reihe von Lagern […]. Die Sterblichkeitsziffer […] war sehr hoch, besonders als bei uns eine Typhusepidemie ausbrach. Unser Chefarzt war der SS-Oberscharführer Wiesener [gemeint ist Heinz Wisner, d.V.], ihm überstand der Lagerarzt SS-Sturmbannführer Dr. Krebsbach. Beide waren typische Naziärzte. Man überließ uns, d.[as] h.[eißt] den Häftlingen, die als Ärzte, Krankenschwestern und Sanitäter tätig waren, die Verantwortung für das Lazarett. Aus allen Lagern kamen die fast zu Skeletten abgemagerten Kranken zu uns“ (Wolff 1981: 37 [Hervorhebungen im Original]). Der an verschiedenen antisemitischen und eugenischen Mordaktionen (zuletzt im KZ Mauthausen) beteiligte SS-Sturmbannführer Dr. med. Eduard Krebsbach wurde 1947 hingerichtet; sein Assistent, SS-Oberscharführer Heinz Wisner (auch Wiesner), bei der SS im Sanitätssturm XXVI zum Sanitäter ausgebildet, wurde erst 1985 wegen Beihilfe zum Mord zu fünf Jahren Haft verurteilt (Jahn 2008: 27f.).
Ob die ausgebildete Krankenschwester Juliane Wolff ebenfalls im Kaiserwaldspital Zwangsarbeit leistete? Über die Umstände ihrer Gefangenschaft im KZ Kaiserwald liegen bislang keine gesicherten Informationen vor. Sie wurde vermutlich von ihrer Schwester Edith getrennt und geriet offenbar in eine Auseinandersetzung mit dem stellvertretenden KZ-Kommandanten: „[…] Juliane war im KZ Kaiserwald vom stellvertretenden Lagerkommandanten arg mißhandelt worden. Er ließ sie außerdem längere Zeit in den Wasserbunker sperren. Dabei hatte sie sich ein Lungenleiden zugezogen. In Stutthof verschlimmerte sich ihr Zustand. Auch sie kam auf die Todesliste und wurde in der Gaskammer getötet. Edith und Jeanette erfuhren es erst später“ (Lange 1988: 57). Bei Inhaftierungen im Bunker handelte es sich häufig um willkürliche ‚Strafmaßnahmen‘ gegen vermeintlich aufsässige Häftlinge, in Kaiserwald befohlen durch den ‚Innenminister‘ des Lagers, dem stellvertretenden KZ-Kommandanten und berüchtigten Folterer Hans Brüner. SS-Hauptscharführer Brüner soll trotz seiner Beteiligung an „Selektionen im Stammlager und in den Außenlagern“ nach dem Krieg „unbehelligt in Deutschland gelebt haben und noch vor der Aufnahme der Ermittlungen gegen den Führungsstab des KZ Kaiserwald 1978 am 2. März 1967 in Lüdenscheid verstorben sein“ (Jahn 2008: 26). Hat Juliane Wolff zu den Kaiserwald-Häftlingen gehört, die noch die Kraft fanden, gegen die Lagerbedingungen und die mörderische Selektion von Kindern, Kranken und Geschwächten aufzubegehren (hierzu Jahn 2008: 48)? Ungeklärt bleibt, ob sie deshalb im Bunker gefangengehalten wurde?
Auf der Flucht vor der anrückenden Roten Armee lösten die NS-Täter das KZ Kaiserwald auf und verschifften die Häftlinge von der Rigaer Bucht aus nach Stutthof bei Danzig. Nach bisherigem Kenntnisstand (vgl. BA Koblenz Gedenkbuch) traf Juliane Wolff am 1. Oktober 1944 im Vernichtungslager Stutthof ein und wurde dort am 1. März 1945 ermordet – nur zwei Monate vor der Befreiung. Sie wurde 32 Jahre alt.
Erinnerungsarbeit
Juliane Wolffs Mutter Jeanette Wolff war eine der ersten Schoah-Überlebenden, die dem extrem-traumatischen Geschehen in den NS-Todeslagern Ausdruck verleihen konnte. Bereits um 1947 veröffentlichte sie ihren Überlebensbericht Sadismus oder Wahnsinn. Erlebnisse in den deutschen Konzentrationslagern im Osten, der in verschiedenen Fassungen abgedruckt wurde (vgl. Wolff 1981 u. 2002). Die Auswanderung nach Amerika oder Israel war für Jeanette Wolff keine Option. Bis zu ihrem Tod im Jahre 1976 stritt sie für eine kämpferische und sozial gerechte Demokratie als Bollwerk gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und alle Formen des Totalitarismus: „Soll all das vergossene Blut der Millionen Menschen im Kriege, soll all das Leid der Besten unseres Volkes, die in den Konzentrationslagern erschlagen, gehängt, gefoltert, erschossen, vergast und verbrannt worden sind, umsonst gewesen sein? Nein, und abermals nein!“ (Wolff 2002: 134).
Für die Krankenschwester Juliane Wolff und ihre Familie verlegte der Künstler Gunter Demnig am 9. Februar 2012 in Dortmund sieben Stolpersteine (vgl. Klapsing-Reich 2012): für Jeanette Wolff, Hermann Wolff (ermordet auf einem „Todesmarsch“, vermutlich am 22.04.1945 bei Stamsried/ Pösingen), seine Mutter Julia Wolff (ermordet in Theresienstadt), Juliane Wolff, Edith Marx und ihre Tochter Ruth (ermordet, vermutlich aus Ediths „Ghettoehe“ (Schneider 2008) mit dem lettischen Ingenieur Michael Sominski, welcher ebenfalls in der Schoah blieb) sowie Käthe Wolff (nach neueren Kenntnissen nicht 1944 auf dem Jugendhof im KZ Ravensbrück erschossen, sondern bereits am 8. Mai 1942 in der T4-Tötungsanstalt Bernburg an der Saale ermordet, vgl. BA Koblenz). An der Stolpersteine-Initiative waren Schülerinnen und Schüler des Dortmunder Käthe-Kollwitz-Gymnasiums beteiligt. In Dinslaken, dem früheren Wohnort der Familie Wolff und zuletzt Alterssitz der 2003 verstorbenen Edith Marx, halten der Lokalforscher Jürgen Grafen sowie das Schulprojekt ‚Israel-AG‘ am Theodor-Heuss-Gymnasium die Erinnerung wach. Nach Juliane Wolffs Mutter Jeanette Wolff sind Schulen und Straßen benannt.
Außer an Jürgen Grafen geht der herzliche Dank der Autorin an Gisela Marzin (Leiterin) und Janine Wolfsdorff vom Stadtarchiv Dinslaken, an Gerhard Schmalstieg (Stadtarchiv Bocholt) für seine genealogischen Recherchen zur Familie Wolff sowie posthum an Edith Marx, die den Nachlass ihrer Mutter dem Stadtarchiv Dinslaken übergab und damit der Öffentlichkeit zugänglich machte.
Birgit Seemann, 2015, updated 2017