… und sie wurden richtig stolz auf ihre ‚Krankenschwester-Tochter‘.“
Die Ausbildung zur Krankenschwester in jüdischen Einrichtungen
In den 1890er Jahren organisierten sich die ersten jüdischen Krankenpflegevereine. Sie widmeten sich der Ausbildung von Krankenschwesterschülerinnen und halfen so den Beruf der Krankenschwester zu etablieren. Dies bestätigt auch Schwester Selma Mayer, die in Hamburg ausgebildet worden war und 1916 nach Palästina ging. Sie berichtet, dass eine Kollegin und sie selbst die ersten jüdischen Schwestern waren, die ein deutsches staatliches Diplom erhielten: „The first time that Jewish nurses sat for examinations by the German authorities and received a German State Diploma was in 1913″.1
Noch 1921 ging man davon aus, dass für den Beruf der Krankenschwester „vorzugsweise Mädchen und Frauen von gutem Herkommen zu berücksichtigen“2 seien. Doch in der Praxis interessierten sich die angesprochenen Töchter aus wohlhabenden Häusern oftmals für ein Studium der Medizin. Da der Beruf der Krankenschwester eine gute soziale Absicherung bot, war er zudem attraktiv für Mädchen und junge Frauen, die auf ein geregeltes Einkommen angewiesen waren. So öffnete sich die Ausbildung auch für „niedere Kreise“ womit „Köchinnen, Dienstmädchen, Ladnerinnen, Gouvernanten, Kindergärtnerinnen und Elementarschullehrerinnen“ gemeint waren3. Das erwünschte Eintrittsalter zur Ausbildung lag zwischen 20 und 30 Jahren, so dass eine gewisse Reife, gewonnen durch Berufserfahrungen in unterschiedlichen Bereichen, vorausgesetzt werden konnte und Bildungsbereitschaft vorhanden war4.
Durch den Ersten Weltkrieg kam es jedoch zu einem Bruch. Gustav Feldmann, der in Stuttgart praktizierende jüdische Arzt, der sich immer wieder für die „Etablierung und fürsorgliche Ausgestaltung der beruflichen jüdischen Krankenpflege in Deutschland“5 einsetzte schrieb 1924, dass „während des Krieges der Zustrom der Schülerinnen in allen Vereinen fast vollkommen versiegte, in den ersten Nachkriegsjahren hat er überhaupt ganz aufgehört, weil die jungen Mädchen sich fast alle dem Handel und der Industrie zuwandten“6. In der Verarmung des Mittelstandes während der Wirtschaftskrise der 1920er Jahre sah er aber auch die Chance, dass der Pflegeberuf „in Kürze wieder seine volle Anziehungskraft ausüben“7 werde. In der Summe hatten mit Ende der 20er Jahre die jüdischen Vereine über 1.000 Schwestern ausgebildet, wobei sich für die Gestaltung der Ausbildung in den verschiedenen Vereinen „insgesamt ein sehr buntes und uneinheitliches Bild“8 ergab.
Thea Wolf entsprach dem oben skizzierten Anforderungsprofil, als sie 1927 dem Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main zur Ausbildung beitrat. Sie war 20 Jahre alt, hatte Berufserfahrung als Buchhalterin und Erzieherin gesammelt und suchte eine Möglichkeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Geboren wurde sie 1907 und lebte im gutbürgerlichen Haushalt ihrer Eltern dem Metzger Moritz Wolf und seiner Frau Jeanette am Rande des sogenannten „Arbeiterviertels“ in Essen. Schon als Jugendliche war Thea Mitglied der jüdischen Jugendbewegung und kümmerte sich um die jüdischen Emigranten aus Polen, die nach dem Ersten Weltkrieg in das Ruhrgebiet kamen. Thea Wolf besuchte dann die Höhere Handelsschule und wurde Buchhalterin, diesen Lebensabschnitt beurteilte sie später folgendermaßen: „Dort endete meine zweijährige Tätigkeit mit der Bankrotterklärung des Betriebes, und ich war überglücklich,“ da sie ihre Zeit nicht mit einer „leblosen Tätigkeit“ vergeuden wollte9.
Die Motivation Krankenschwester zu werden
Ein wesentliches Ziel der spezifisch jüdischen Pflege war es, den Beweis zu erbringen, dass jüdische Krankenschwestern genauso selbstlos, opferbereit und gehorsam waren wie ihre christlichen Kolleginnen und dass die Leistung der jüdischen Schwesternschaft denen der anderen Mutterhäuser ebenbürtig war, was z.B. 1928 und 1929 in Artikeln der Monatshefte der jüdischen Großloge B’nai B’rith10 dokumentiert wurde. Um dieses Ziel zu erreichen baute man in erster Linie auf weibliche Pflegekräfte und argumentierte, dass dieser Beruf „wie kein anderer den natürlichen Fähigkeiten und Neigungen des Weibes entspricht, der so viele innere Befriedigung gewährt und seiner Trägerin eine allgemein geachtete Stellung verbürgt“11.
Aus den Erzählungen der Schwestern selbst wird ersichtlich wie wichtig ihnen das Helfenwollen war. Schwester Selma formuliert es so: „Because I lost my mother very early […] a strong need grew in me to give people that which I had missed so much: mother-love and love of human beings. Therefore I chose the profession of nursing.”12 Auch Thea Wolf und ihre Schwester, die sich oft wünschten aus dem Armenviertel wegzuziehen, bekamen von ihrer Mutter immer wieder zu hören: „Kinder, wenn wir von hier fortziehen, vergessen wir die Armen, und das darf man nicht.“13 Thea war es auch gewohnt, zu ihrem eigenen Schulbrot auch solche für bedürftige Mitschüler mitzunehmen oder, wenn sie zu den Feiertagen neue Kleidung bekam, im Gegenzug ein altes Kleidungsstück für die Armen abzugeben.
Dass sich beim Eintritt in die Frankfurter Schwesternschaft für Thea Wolf ein großer Wunsch erfüllte, drücken ihre Worte aus: „Alles erschien mir sinnvoll, notwendig und die Ärzte und Schwestern mit einem heiligen Ernst und menschlicher Anteilnahme gesegnet.“ Sie hatte das Gefühl „ein Rädchen in einer wichtigen Gemeinschaft geworden zu sein. Ich konnte etwas tun, um Leiden zu lindern und unheilbar Kranken bei ihrem Hinübergehen in eine andere Welt ihre letzten Augenblicke auf dieser Welt erleichtern.“14
Familiäre Widerstände
Um ihr Ziel, Krankenschwester werden, zu erreichen, galt es für die jungen Frauen, Traditionen zu brechen. Als Thea Wolf sich als Jugendliche für die polnischen Flüchtlinge einsetzte, hörte sie jeden Tag von ihrer Mutter: „Bereite doch lieber Deine Aussteuer für Deinen künftigen Haushalt vor.“ Um dieser Art mütterlicher Fürsorge zu entkommen, verpflichtete sich Thea Wolf 1926 mit 19 Jahren heimlich als „Helferin ohne Gehalt“15 im „Waisenhaus des Frauenvereins von 1883“ in Berlin. Thea Wolf kommentierte die Reaktion ihrer Verwandtschaft darauf mit den Worten: „Sie alle waren über meine Berufswahl anhaltend entsetzt. Sie waren der Meinung, dass ich damit auf ein ’normales Leben‘ verzichten würde, dass ich eine Art Nonnenleben führen müsste, anstatt in ein Pensionat zu gehen, um dort zu einer guten Frau, einer guten Hausfrau ausgebildet zu werden, – und auch tanzen zu lernen, um dann zu heiraten. Ich aber wollte einen anderen, meinen Weg einschlagen, den Armen und Kranken helfen, denn um mich herum gab es so viel Elend, das ich während des Ersten Weltkrieges hautnah miterlebt hatte.“16 Die Zeit im Berliner Waisenhaus erfuhr Thea Wolf als lieblose Welt in der apathische Kinder lebten. Doch weder durch dieses deprimierende Erlebnis noch durch die ablehnende Haltung der Familie ließ sie sich in Ihrer Berufswahl beirren und meldete sich zur Ausbildung als Krankenschwester an. Es war später der Rabbi, der die Eltern beruhigen konnte, so dass sie mit der Zeit „richtig stolz auf ihre ‚Krankenschwester-Tochter'“ wurden.
Der oben erwähnte Gustav Feldmann sagte bereits 1901: „In der Regel soll die Bewerberin ledig sein.“17 Es wurde davon ausgegangen, dass die Berufstätigkeit in der Krankenpflege und die Ehe sich nicht vertragen, zumeist sind die Schwestern im Falle einer Heirat dann auch aus der Schwesternschaft ausgetreten. Um den Beruf trotzdem attraktiv zu halten, wurde er oft als ausgezeichnete Vorbereitung auf die Ehe beschrieben.
Ankunft als Schwesternschülerin im Frankfurter Verein für Krankenpflegerinnen
1927 begann Thea Wolf ihre Ausbildung als Krankenschwesternschülerin in der Bornheimer Landwehr 85, dem Schwesternhaus des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main.
Rückblickend erinnert sie sich an ihren ersten Tag: „Als ich so dasaß, war mir für einige Minuten etwas beklommen ums Herz, aber dann betrat Schwester Sara Adelsheimer das Zimmer, begrüßte mich freundlich und sagte: >Ich bin die Oberschwester und bringe Sie zu Schwester Dora. Sie ist verantwortlich für das Schwesternhaus, und sie wird Sie zu ihrem Zimmer begleiten.
Das Zimmer lag im dritten Stock des Schwesternhauses. Ich teilte es während der nächsten zwei Jahre, der Lehrzeit bis zur staatlich geprüften Krankenschwester, mit zwei anderen Schülerinnen. Die praktische Ausbildung erhielten wir im Krankenhaus der Jüdischen Gemeinde in der Gagernstraße 36. […]
Ein Gong rief zum Mittagessen, das wir im Erdgeschoß in einem geräumigen Speisesaal einnahmen. Hier wurde ich auch erstmals unserer Frau Oberin Minna vorgestellt. Sie war bereits pensioniert und nicht mehr tätig. […] Ich wurde auch allen älteren Schwestern vorgestellt. Sie trugen alle goldene Broschen zum Zeichen, daß sie seit mehr als fünfundzwanzig Jahren berufstätig waren. […] Dann stellte Schwester Dora mich allen übrigen Schwestern vor: >Dies ist Schwester Thea, unser neuer Zuwachs.< Ich gehörte damit zu dieser Gemeinschaft, […] ich ging zurück in mein Zimmer und […] schrieb […] an meine Eltern und teilte ihnen mit, daß alles in bester Ordnung sei, ich gut angekommen sei und mich sehr wohl fühle.“18
Edgar Bönisch, 2009