Wer ruft die Geschlechter von Anfang her?
Ich bin’s der Herr,
der Erste und bei den Letzten dennoch derselbe.“
Jesaja, 41,4
Der Grundstein für die Wahl eines Berufs – mitunter sogar einer Berufung – wird oft schon im Elternhaus gelegt, wo in der Regel die ersten sozialen Lernprozesse stattfinden. Fähigkeiten, Defizite sowie der Umgang mit Anforderungen und Konflikten werden teils von Generation zu Generation weiter getragen. Für die sozialgeschichtliche Aufarbeitung der Krankenpflege kommt deshalb neben der Biographieforschung (vgl. „Biographisches Lexikon zur Pflegegeschichte“; Grypma 2008; Hanses/ Richter 2009) auch der historischen Familienforschung (Genealogie) grundlegende Bedeutung zu. Forschungsperspektiven eröffnen sich auch und gerade für den jüdischen Teil der deutschen Pflegegeschichte: Woher kamen die jüdischen Pflegenden? Wie wuchsen sie auf? Wie lebten sie ihr Judentum? Welche Faktoren beeinflussten ihre Entscheidung für den Pflegeberuf? Aber auch: Was geschah in der NS-Zeit mit den Familien der Schwestern und Pfleger? Hier steht die Recherche und Rekonstruktion jüdischer Pflegebiographien vor anderen Herausforderungen als die der christlichen.
Enkelin eines jüdischen Toragelehrten: die Krankenschwester Johanna Sämann
Die bisher recherchierten Daten zu Pflegenden der deutsch-jüdischen Krankenhäuser dokumentieren bezüglich der sozialen Herkunft eine relative Homogenität. Zur Verdeutlichung einiger Aspekte wird im Folgenden die recht gut erforschte Familienbiographie der Krankenschwester Johanna Sämann vorgestellt.
Am 25. Februar 1891 als Johanna [Johanne] Levi in dem Dorf Altengronau (heute Ortsteil von Sinntal bei Schlüchtern, Main-Kinzig-Kreis) geboren, war sie mütterlicherseits vom württembergisch-fränkischen, väterlicherseits durch das hessische Landjudentum geprägt. Beide Eltern entstammten angesehenen Familien: Die Mutter, Mirjam (Mari) Levi geb. Sulzbacher, war eine Tochter von Rabbi David Sulzbacher aus (Bad) Mergentheim, „welcher als berühmter Gelehrter in hiesiger Gegend wohl bekannt war“ (Israelit, 28. Jg, H. 52 (07.07.1887), S. [943]-944, Beil.). Hirsch Sulzbacher, Johanna Sämanns Onkel, unterrichtete als Lehrer im südhessischen Groß-Bieberau. Als Mirjam Levi im Jahre 1930 kurz vor ihrem 80. Geburtstag starb, hieß es im Nachruf: „Mit Frau Levi ist eine jener herrlichen jüdischen Frauengestalten von uns geschieden, wie sie leider in jetziger Zeit immer seltener werden“ (Israelit, 71. Jg., H. 49 (04.12.1930), S. 9). Johanna Sämanns Vater, Raphael Levi, wirkte über viele Jahre als Torarollenschreiber (Sofer), Schächter (Schochet) und Verwalter des Friedhofs der hessisch-jüdischen Gemeinde Altengronau. 1926 mit über 70 Jahren verstorben, wurde er ebenfalls im „Israelit“ gewürdigt: „Hervorgegangen aus einer berühmten Gelehrtenfamilie – schon der Großvater des Gestorbenen hatte hier die göttliche Arbeit des Torarollenschreibens ausgeübt – war auch er ein seltener Gottesfürchtiger und in seinem Fache ein Künstler, wovon die von ihm geschriebenen Torarollen und hergestellten Tefillin [Gebetsriemen, d.V.] ein beredtes Zeugnis ablegen“ (Israelit, 67. Jg., H. 24 (10.06.1926), S. 7).
Offenbar lebten die Sulzbachers und Levis ihrer Umgebung jüdische Religiosität und Gelehrsamkeit, soziale Gerechtigkeit (Zedakah) und Mildtätigkeit (Gemilut Chassadim) besonders beispielhaft vor. Bereits familienbiographisch in ihrer jüdischen Identität gefestigt, entsprach Johanna Sämann somit nahezu perfekt dem von Dr. Gustav Feldmann und anderen Vorkämpfern einer modernen jüdischen Pflegeausbildung entworfenen Berufsprofil (Feldmann 1901): Zwischen jüdischen Integrationsbestrebungen und einer oft antisemitisch abwehrenden Umgebung hatte die jüdische Pflegerin – neben ihrem professionellen und engagierten Dienst an jüdischen wie nichtjüdischen Krankenbetten – für die positiven Werte des Judentums einzustehen.
Familienbiographie und Pflegeberuf
Auch in anderer Hinsicht ist Johanna Sämanns Herkunft für die Familienbiographien anderer jüdischer Pflegender exemplarisch; viele zog es aus ländlichen Regionen (vgl. zum Landjudentum Richarz/ Rürup 1997) zur Ausbildung an jüdische Krankenhäuser (Frankfurt am Main, Berlin, Hamburg, Köln, Breslau, u.a.). Jüdische Familienforschung verbindet sich häufig mit Regionalforschung, zumal wenn es sich um „Judendörfer“ (Jeggle 1999) mit einem hohen jüdischen Anteil an der Dorfbevölkerung handelt. Von den Sozialisationserfahrungen christlicher Pflegender unterschieden sich die jüdischen vor allem darin, dass die Jahrhunderte lange Existenz als diffamierte und jederzeit angreifbare Minderheit im Verein mit periodischen antijüdischen Ausbrüchen, Pogromen und Vertreibungen im Familiengedächtnis haften blieb. Berufsverbote hatten zur Folge, dass das jüdische Pflegepersonal sich nicht aus Bauern-, Handwerker- oder Arbeiterkindern zusammensetzte, sondern fast ausschließlich der Schicht der kleinen Kaufleute, Viehhändler, Ladenbesitzer oder wie Johanna Sämann der Toragelehrten und Dorflehrer angehörte. Deren ökonomische Situation war allerdings prekär: Besonders seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts schrumpften die jüdischen Dorfgemeinden zusehends, weil junge jüdische Männer in den Städten ihr Auskommen suchten oder nach Amerika auswanderten. Auch Johanna Sämanns Großvater, Rabbi David Sulzbacher, musste seine Jeschiva (Talmudschule für junge jüdische Männer) schließen und seine Familie mit kaufmännischen Tätigkeiten durchbringen. Ihr Vater Raphael Levi, der die kleine jüdische Gemeinde von Altengronau betreute, hatte seine Frau und acht Töchter zu versorgen; Johanna war die zweitjüngste. Sie musste einen Ehemann als Ernährer finden oder einen Beruf lernen – und wählte die Krankenpflege, ebenso ihre ältere Schwester Sara Levi. Ohnehin waren die Heiratschancen für gläubige Jüdinnen weiter gesunken, nicht nur wegen der Abwanderung junger Glaubensgenossen, sondern auch durch deren vermehrte Eheschließungen mit Christinnen im Zuge der Integration (Assimilation). Erst später heiratete Johanna Sämann einen viele Jahre älteren Witwer, den Nürnberger jüdischen Kaufmann Sigmund Sämann, und bekam mit 33 Jahren ihren einzigen Sohn Gerhard (Skyte/ Skyte 2006).
Ihre Entscheidung für den Krankenschwesternberuf entsprach zudem zeitgenössischen Zuschreibungen scheinbar ,natürlich´-weiblicher Eigenschaften wie „Mütterlichkeit, Fürsorglichkeit, Zärtlichkeit“, Tugenden wie „Aufopferung, Fleiß, Geduld“ (Walter 1991, S. 9), die lukrativere Erwerbsmöglichkeiten für Frauen im Wilhelminischen Kaiserreich gar nicht erst zuließen. Diese Geschlechterstereotypen betrafen allerdings Krankenschwestern aller Konfessionen. Spekulativ bleibt die ebenfalls jüdische wie christliche Pflegerinnen gleichermaßen betreffende Frage, inwieweit die familiäre Geschwisterstellung Karrieren im Pflegeberuf mitbeeinflusst(e): Wurde Julie Glaser Oberin am Frankfurter jüdischen Krankenhaus, weil sie, zudem aus einer aufstrebenden bürgerlichen Familie stammend, als Älteste von vier Schwestern Führungspotenziale entwickelte, während Johanna Sämann, von der ein solcher Aufstieg nicht bekannt ist, als zweitjüngste von acht Schwestern eher zu den beaufsichtigten jüngeren Geschwistern gehörte? Absolvierte andererseits die Büglerin Erika Neugarten deshalb keine Schwesternausbildung am Frankfurter jüdischen Krankenhaus, weil sie anders als Julie Glaser und Johanna Sämann keine so genannten geordneten Familienverhältnisse vorweisen konnte?
Nachbetrachtung: Reise in die Familienvergangenheit nach der Schoah
Johanna Sämann, ihr Ehemann und ihr minderjähriger Sohn gehören zu den Vernichteten der Schoah. Überlebende und Nachkommen begeben sich häufig auf eine mühsame und schmerzliche Suche nach ermordeten Angehörigen und Familienzweigen. Jüdische genealogische Forschung kann aber auch Kräfte freisetzen, wenn Lebensspuren und Verdienste Verschollener entdeckt und gewürdigt werden. Beide Sichtweisen vereint der Lebensbericht von Thea Levinsohn-Wolf (1907–2005), einem der wenigen veröffentlichten Selbstzeugnisse deutsch-jüdischer Krankenschwestern. In dem Buch hat sie ihren Eltern, ihrer Schwester, dem kleinen Neffen sowie insgesamt über fünfzig in der Schoah gebliebenen Angehörigen ein bewegendes Kaddisch (jüdisches Gebet für Verstorbene) gewidmet. Trost fand sie im Andenken an ihre Vorfahren, deren rheinländischen Spuren sie 1991 auf einer Reise durch Deutschland folgte: „Das „Oberland“, wie meine Eltern den Hunsrück [eine Region in Rheinland-Pfalz, d.V.] nannten, kam in meinem Elternhaus fast täglich irgendwie zur Sprache. Das war die Heimat, wo ihre Wiege stand, wie es ein Lied sagt, und auch die Wiegen ihrer Väter, Großväter und Großväter standen hier […]. (Levinsohn-Wolf 1996, S. 150). Im Alter erlebte Thea Levinsohn-Wolf noch einmal „bewegt die Landschaft und die Orte, deren Namen mir seit meiner Kindheit vertraut sind. Der Kreis schloss sich“ (ebd. S. 157).
Birgit Seemann, 2011, aktualisiert 2020
Literatur und Links (letzter Aufruf am 06.07.2015)