Jüdische Pflege- geschichte

Jewish Nursing History

Biographien und Institutionen in Frankfurt am Main

Ein Beitrag aus Krankenpflege
Verweise hervorheben

Frankfurter Grabsteine als letzte Zeugen – die Krankenschwestern Bertha Schönfeld und Thekla Dinkelspühler

Durchgang vom Eingangshof zum Friedhof, Jüdischer Friedhof Eckenheimer Landstraße, 2010
© Edgar Bönisch

Auf dem neueren Friedhof der Jüdischen Gemeinde Frankfurt in der Eckenheimer Landstraße zeugen etwa 800 Grabsteine von antisemitisch Verfolgten, die sich in den Jahren 1938 bis 1943 der nationalsozialistischen Verfolgung und Deportation durch Freitod entzogen haben. Sie bieten ein eindrucksvolles Zeugnis dieser tragischen historischen Ereignisse (http://www.jg-ffm.de/de/religioeses-leben/juedische-friedhoefe, letzter Aufruf dieses und aller folgenden Links am 19.10.2017). Ihre Namen trug in mühevoller Kleinarbeit der Chronist und Schoah-Überlebende Adolf Diamant (1924-2008) zusammen (vgl. ders. 1983). Auch zwei Krankenschwestern des früheren jüdischen Krankenhauses in der Gagernstraße sind darunter: Bertha Schönfeld und Thekla Dinkelspühler, beide gebürtige Hessinnen. Woher kamen sie, wie haben sie gelebt?

Schwester Bertha Schönfeld (1883 Kesselbach/Rabenau – 1941 Frankfurt a.M.)

Schwester Bertha Schönfeld im OP, 1931
Thea Levinsohn-Wolf, Stationen einer jüdischen Krankenschwester. Deutschland – Ägypten – Israel, Frankfurt am Main 1996, S. 28

Herkunft
Schwester Bertha entstammte dem Landjudentum im mittleren Hessen (nördlich von Frankfurt am Main). Geboren am 13. September 1883 um 8.00 Uhr in der elterlichen Wohnung in dem Dorf Kesselbach (heute Ortsteil von Rabenau, Landkreis Gießen), war sie, wie damals auf dem Land üblich, eine ‚Hausgeburt‘ (OuSt Rabenau). In Kesselbach lebten um diese Zeit sieben jüdische Familien (etwa 30 Personen), die der Synagogengemeinde im größeren Nachbarort Londorf angehörten. Die jüdischen Kesselbacherinnen waren für ihre besonderes Engagement in der ehrenamtlichen Krankenpflege bekannt; sie versorgten Glaubensgenossen in angrenzenden Dörfern und möglicherweise ebenso christliche Nachbarn: „[…] so haben sich die hiesigen Frauen zusammengefunden und eine Frauen-Chebra gegründet, deren Tätigkeit darin bestehen soll, den Armen bei Krankheit und Trauerfällen hilfreich beizustehen“ („Der Israelit“ v. 01.04.1889, zit. n. http://www.alemannia-judaica.de/londorf_synagoge.htm). Von handwerklichen und landwirtschaftlichen Berufen in der Regel ausgeschlossen, arbeiteten auch die Kesselbacher Juden hauptsächlich „als Viehhändler, als Metzger oder als Kleinkaufleute“; sie lebten wie ihre christlichen Nachbarn „in durchweg einfachen Verhältnissen“ (zit. n. ebd.). Die Eltern Bertha Schönfelds waren:

  • Zimmel „gen.[annt] Emilie“ Schönfeld geb. Wallenstein (geb. 24.07.1859) aus Alten-Buseck (vgl. http://www.alemannia-judaica.de/alten-buseck_synagoge.htm) im Landkreis Gießen, Tochter des Handelsmanns Abraham Wallenstein und der Hannchen geb. Stern (OuSt Rabenau);
  • Simon Schönfeld (geb. 20.07.1850) aus Kesselbach, von Beruf Kaufmann, Sohn des Handelsmanns Moses Schönfeld und der Rebekka geb. Maas.

Bertha Schönfeld war die Zweitgeborene von sechs Geschwistern, deren Lebensdaten zum Teil ebenfalls rekonstruiert werden konnten:

  • Rebekka (Rebeka, Rivka) Fuld (01.11.1881 Kesselbach – 05.02.1939 Frankfurt a.M.), die Älteste, welche als einzige noch einen jüdischem Vornamen trug;
  • Gertrud Schönfeld (21.05.1886 Kesselbach – 05.03.1889 Kesselbach), bereits als Kleinkind verstorben;
  • Adolph Friedrich Schönfeld (27.07.1888 Kesselbach – 17.12.1915), der einzige Bruder, gefallen im Ersten Weltkrieg;
  • Amalie Schönfeld (geb. 09.07.1890 in Kesselbach);
  • Johanna Senger geb. Schönfeld (22.06.1894 Kesselbach – [1942 deportiert]).

Bertha Schönfeld und ihre Geschwister besuchten wahrscheinlich die jüdische Schule in Londorf, wo sich auch eine Synagoge und der jüdische Friedhof befanden. Für jüdische Mädchen auf dem Lande mangelte es an beruflichen Aussichten ebenso wie an geeigneten Heiratskandidaten. Was Bertha Schönfeld betraf, legte sie zeitlebens großen Wert auf ihre persönliche Unabhängigkeit (vgl. Levinsohn-Wolf 1996: 27). Im September 1904 mit 21 Jahren volljährig geworden, verließ sie ihr Heimatdorf und nahm Kurs auf die Großstadt Frankfurt am Main, um bei dem überregional angesehenen Verein für jüdische Krankenpflegerinnen Krankenschwester zu lernen.

Stationen einer Krankenschwester: Privatpflege – Israelitisches Krankenhaus Straßburg – OP-Schwester in der Chirurgie des Jüdischen Krankenhauses Frankfurt a.M.
Als tatkräftige junge Frau Anfang Zwanzig startete Bertha Schönfeld noch in der ‚alten‘ Klinik („Königswarter Hospital„) der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main und dem ebenfalls in der Königswarterstraße gelegenen Schwesternhaus des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen (im Folgenden bezeichnet als: Frankfurter jüdischer Schwesternverein) ihre Ausbildung. Wie alle Bewerberinnen hatte sie den Richtlinien des Deutschen Verbandes Jüdischer Krankenpflegerinnenvereine von 1905 zufolge „einen ihrem künftigem Beruf entsprechenden Bildungsgrad, Gesundheitszustand und moralischen Lebenswandel“ (zit. n. Steppe 1997: 374) nachzuweisen. 1906 (vgl. ebd: 228) schloss sie ihre Ausbildung erfolgreich ab und war im Anschluss laut Satzungen des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins zu einer dreijährigen Dienstzeit verpflichtet. Der Verein hielt Bertha Schönfeld, wohl infolge ihrer Eigenständigkeit, für die ambulante häusliche Pflege befähigt: Die in Privathaushalten eingesetzten Schwestern hatten die Weisungen des Hausarztes zu befolgen, waren aber in keine Krankenhaushierarchie eingebunden, sondern bei pflegerischen Entscheidungen und im Umgang mit Kranken und deren Angehörigen auf sich gestellt. Hierzu waren „Schlüsselqualifikationen“ (siehe Palesch (Hg.) u.a. 2012: 9) wie selbständige Arbeitsweise, Organisationsvermögen, Belastbarkeit, Zuverlässigkeit und Einfühlungsvermögen unerlässlich. Nicht selten oblag der Schwester neben der eigentlichen Krankenpflege die gesamte Haushaltsführung inklusive Kinderbetreuung, Verköstigung und Wäschereinigung. Zum Schutz der Pflegekräfte vor beständiger Verfügbarkeit und Überlastung stellte der Frankfurter jüdische Schwesternverein ein eigenes Regelwerk auf, beaufsichtigt von Oberin Minna Hirsch: So sollte die in der Privatpflege tätige Schwester „täglich 1 bis 2 Stunden das Haus, in welchem sie pflegt, verlassen, um sich in frischer Luft zu erholen. Die Zeit des Ausgangs ist je nach der Lage des Krankheitsfalls in Uebereinstimmung mit dem behandelnden Arzte und der Familie festzusetzen“ (zit. n. Steppe 1997: 384). Auch war es ihr „im Interesse ihrer eigenen Gesundheit streng untersagt, mehr als zwei aufeinanderfolgende Nachtwachen zu leisten. Die zweite Nachtwache darf nur unter Zustimmung der Oberin oder deren Stellvertreterin geleistet werden“ (ebd.). Grundsätzlich konnte die Privatpflege auch in nichtjüdischen Haushalten stattfinden, doch waren gerade jüdische Haushalte wegen der gesicherten rituellen Versorgung an einer jüdischen Pflegekraft interessiert. Damit ihr eigenes religiöses Leben nicht zu kurz kam, konnte die Pflegende beim Schwesternverein eine Hilfskraft anfordern.


1911 stand Bertha Schönfeld vor einer neuen beruflichen Herausforderung: Ihr Arbeitsplatz verlagerte sich von Frankfurt in das Elsass (bis 1918 Verwaltungsgebiet des Deutschen Reiches), wo der Frankfurter jüdische Schwesternverein unter der Leitung von Oberin Julie Glaser die Pflege am Israelitischen Krankenhaus Straßburg (Clinique Adassa) übernommen hatte. Noch vor dem Ersten Weltkrieg kehrte Schwester Bertha wieder zurück, da das im Mai 1914 neu eröffnete große Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main in der Gagernstraße (im Folgenden bezeichnet als: Krankenhaus Gagernstraße) weiteres qualifiziertes Pflegepersonal benötigte; sie wohnte im neuen modernen jüdischen Schwesternhaus in der angrenzenden Bornheimer Landwehr. Als nur wenig später, im August 1914, die Völkerschlacht des Ersten Weltkriegs begann, wurde Schwester Bertha zunächst nicht in den in Krankenhaus und Schwesternhaus eingerichteten Lazaretten eingesetzt. Stattdessen leistete sie zusammen mit Oberschwester Ida (vermutlich Ida Elise Holz) und einer weiteren (namentlich unbekannten) Kollegin Verwundetenpflege im Städtischen Lazarett „Krankenhaus Ost“ (vgl. Rechenschaftsbericht 1920: 37, 63); dort arbeiteten die drei Jüdinnen mit hauptsächlich nichtjüdischen/christlichen Pflegekräften und Ärzten zusammen.
Mitten im Krieg, am 1. Februar 1917, erhielt Bertha Schönfeld, inzwischen Operationsschwester in der Chirurgischen Abteilung des Krankenhauses Gagernstraße, für zehnjährige „treue Tätigkeit“ die goldene Brosche des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins (Rechenschaftsbericht 1920: 62). Gewiss erlebte sie die Kapitulation 1918 des so siegesgewiss angetretenen wilhelminischen Kaiserreichs wie die großen Mehrheit der Deutschen, ob jüdisch oder nichtjüdisch, als Schmach. Wie mochte sie zugleich die antisemitischen Hetzkampagnen, die ‚die Juden‘ sowie ‚die Linken‘ als Schuldige der Niederlage darstellten, empfunden haben, zumal sich unter den insgesamt etwa 12.000 gefallenen deutsch-jüdischen Soldaten auch ihr einziger Bruder Friedrich befand?


Wohl aus organisatorischen Gründen zog Bertha Schönfeld am 30. Dezember 1925 vom Schwesternhaus in das Krankenhaus um (ISG Ffm: HB 686: 56). Sie war eine tüchtige und erfahrene Pflegekraft, galt aber im persönlichen Umgang als schwierig (vgl. Levinsohn-Wolf 1996: 26-28). Sah sich die unverheiratet und kinderlos gebliebene über Vierzigjährige als ’spätes Mädchen‘ und ‚alte Jungfer‘, wie es zu dieser Zeit abschätzig hieß? Wurde sie bei anstehenden Beförderungen, etwa zur Oberschwester, übergangen? Mangels veröffentlichter Selbstzeugnisse ist über die Kommunikation zwischen Pflegenden und ihren ärztlichen Vorgesetzten sowie untereinander wenig bekannt. Umso wertvoller sind die Einblicke in den Großbetrieb des Krankenhauses Gagernstraße, die uns Thea Levinsohn-Wolf, eine jüngere Kollegin Bertha Schönfelds, durch ihre Autobiographie gewährt. Wie an nahezu jeder Arbeitsstätte gab es dort neben Teamsolidarität auch zwischenmenschliche Konflikte. Im Operationssaal der Chirurgie, so berichtet Schwester Thea, „herrschte seit vielen Jahren Schwester Bertha. Sie behielt ihre vielen jeweiligen Hilfen allerhöchstens für ein Jahr. Böse Zungen sagten von ihr, daß sie fürchterlich eifersüchtig auf jede junge Schwester sei, auf deren eventuelle Tüchtigkeit und eine möglicherweise wachsende Vorliebe des Chirurgen für sie als instrumentierende Schwester. Die Ärzte hätten allerdings niemals gewagt, einen Finger zu rühren – ohne Schwester Berthas vorherige Einwilligung“ (Levinsohn-Wolf 1996: 26f.). Chefarzt der Chirurgie war Dr. Emil Altschüler, sein Stellvertreter Dr. Fritz Katz. Zusammen mit ihrer Kollegin Rosa Spiero (der jüngsten Schwester von Rahel Seckbach, Oberin des Gumpertz´schen Siechenhauses) oblag Bertha Schönfeld nicht nur die Assistenz bei den Operationen, sondern die pflegerische Verantwortung für die gesamte chirurgische Abteilung. Oberschwester war allerdings die etwas jüngere Rosa Spiero und damit Bertha Schönfelds direkte Vorgesetzte und zudem Anästhesieschwester. Ihre beruflichen Wege hatten sich immer wieder gekreuzt: Sie waren der gleiche Abschlussjahrgang (1906) im jüdischen Schwesternhaus und hatten beide vor dem Ersten Weltkrieg im Israelitischen Krankenhaus Straßburg gepflegt. Freundinnen wurden sie nicht. Thea Levinsohn-Wolf erinnert sich: „[…] wir jungen Schwestern hatten einen Heidenspaß an diesen beiden Kampfhähnen, denn sie konnten sich ganz schön laut anschreien, was für Abwechslung und Luftbereinigung sorgte“ (ebd., 27). Und sie fügt hinzu: „Beide Schwestern waren starke Charaktere“ (ebd.).

NS-Zeit

Grab der Bertha Schönfeld auf dem Jüdischen Friedhof Eckenheimer Landstraße, 2011
© Birgit Seemann

Seit dem 3. Februar 1934 war Bertha Schönfeld in der Waldschmidtstraße 82 gemeldet (ISG Ffm: HB 686: 56). Weshalb sie während der NS-Zeit für einige Jahre außerhalb von Krankenhaus und Schwesternhaus wohnte, ist unbekannt. Leistete sie trotz eigener gesundheitlicher Beschwerden wieder Privatpflege? Unterstützte sie Verwandte? Vielleicht war sie bereits Rentnerin und hatte eine eigene Wohnung bezogen, obwohl ihr ein Alterssitz im Frankfurter jüdischen Schwesternhaus zustand. Später wohnte sie in der Hanauer Landstraße 27. Als Bertha Schönfeld, möglicherweise unter dem Eindruck des Novemberpogroms und seiner Nachwirkungen, am 5. Dezember 1938 wieder in das Schwesternhaus zurückkehrte, war sie in den Akten als ‚Schwester in Rente‘ vermerkt (ISG Ffm: HB 655: 59). Seit dem 1. Januar 1939 musste sie gemäß der von den Nationalsozialisten zwangsverordneten Änderung von Familiennamen und Vornamen den Zusatznamen „Sara“ (bei Männern: „Israel“) tragen. Am 5. Februar 1939 traf sie ein schwerer persönlicher Schicksalsschlag: Ihre ältere Schwester Rebekka Fuld nahm sich in Frankfurt am Main mit 57 Jahren das Leben (Yad Vashem: Datenbank, Gedenkblatt). Bertha Schönfelds Schwager August Fuld (geb. 11.01.1882 in Wolfenhausen) – Dekorateur, Tapezierer und Inhaber der bei dem Novemberpogrom 1938 zerstörten Polsterwerkstatt „A. Fuld“ (Jüdisches Museum Frankfurt a.M.: interne Datenbank) – war zuvor aus dem KZ Buchenwald zurückgekehrt und schlug sich fortan als Hilfsarbeiter durch; am 11. November 1941 wurde er von Frankfurt in das Ghetto Minsk (Weißrussland) deportiert und später für tot erklärt. Berthas jüngste Schwester Johanna Senger – sie hatte nach Sachsen-Anhalt geheiratet – wurde am 14. April 1942 ab Magdeburg, zusammen mit Felix Senger (geb. 23.07.1882 in Ueckermünde/Pommern) und Friedrich Senger (geb. 14.07.1925 in Bernburg), vermutlich Ehemann und Sohn, in das Ghetto Warschau verschleppt, wo sich ihre Spuren verlieren.
Am 19. November 1940 vertrieb die NS-Zwangsräumung des Schwesternhauses Bertha Schönfeld von ihrem Alterssitz, sie musste zusammen mit ihren Kolleginnen in das Krankenhaus Gagernstraße umziehen (ISG Ffm: HB 655: 59). Wie die letzten Monate ihres Lebens verliefen, ist unbekannt. Doch war sie sich angesichts der starken Fluktuation des medizinischen und Pflegepersonals durch Emigration (etwa von Oberschwester Rosa Spiero, ihrer früheren Kontrahentin, am 24. März 1941) und der Räumung (1941) des Gumpertz’schen Siechenhauses und der Rothschild’schen Spitäler im Röderbergweg darüber im Klaren, dass sich auch das Krankenhaus Gagernstraße in Auflösung befand. Die letzte Frankfurter jüdische Klinik, Zuflucht für kranke, alte und und weitere Hilfe suchende antisemitisch Verfolgte, war völlig überfüllt und wurde als NS-Sammelstelle vor den Deportationen missbraucht. Am 29. Juni 1941 schied Bertha Schönfeld durch Gift aus dem Leben (ISG Ffm: HB 687: 326) – mit 57 Jahren, wie ihre Schwester Rebekka. Thea Levinsohn-Wolf (1996: 27) schreibt: „Schwester Bertha hatte beschlossen, ihr Leben auf ihre Art zu leben und gegebenenfalls auch zu beenden. Um nicht die Schmach der Deportation erdulden zu müssen, nahm sie sich das Leben.“
Der Suizid Verfolgter unter dem NS-Regime wird in der Forschung unterschiedlich gedeutet (vgl. etwa Fischer (Hg.) 2007; Goeschel 2011): War es ein „Akt der Verzweiflung“, ein letzter „Fluchtweg“, eine bewusste „Entziehung, die gar eine aktive Widerstandshandlung implizieren kann“ (Ohnhäuser 2010: 23)? Für die NS-Täter bedeutete der Suizid eines Opfers offenbar eine Art Niederlage, entzogen sich doch die Betroffenen durch einen eigenständigen Akt ihrer totalitären Kontrolle; „so dominierte in der zweiten Hälfte der NS-Herrschaft der Anspruch der Machthaber auf die Entscheidungsgewalt über Leben und Tod ihrer ausgesuchten ‚Gegner'“ (ebd.: 24). Der Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig verzeichnet für 1942 zwei Dissertationen an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien: ‚Der Selbstmord, unter besonderer Berücksichtigung der Juden‘ (Wolfgang Damus) und – im NS-Jargon – ‚Der Selbstmord bei Juden und Judenmischlingen‘ (Hans Kallenbach).
In seiner Studie zu dem Berliner Internisten a.o. Prof. Dr. med. Arthur Nicolaier (geb. 1862), welcher sich 1942 das Leben nahm, verweist Tim Ohnhäuser zudem darauf, dass dieser schon längst den ’sozialen Tod‘ der aus dem NS-Alltag selektierten jüdischen Deutschen erlitten hatte. Den zweiten ’sozialen Tod‘ ereilte Dr. Nicolaier dann nach der NS-Zeit durch „Vergessen als Teil der Vernichtung“ (Ohnhäuser 2010: 31): Lange Zeit erinnerte sich kaum jemand an den Entdecker des Tetanuserregers, der wesentlich dazu beitrug, den Wundstarrkrampf zu besiegen.

Auch Bertha Schönfeld, deren Pflege so vielen jüdischen wie nichtjüdischen Kranken zugutekam, ist heute vergessen. Wie ihre Schwester Rebekka Fuld wurde sie auf dem Jüdischen Friedhof in der Eckenheimer Landstraße beerdigt; der Eintrag im Gräberverzeichnis und auf dem Grabstein lautet „Berta Schonfeld“. Schwester Thekla Dinkelspühler (1901 [Bad] Homburg v.d.H. – 1942 Frankfurt a.M.)

Geburtsurkunde von Thekla Dinkelspühler
© Stadtarchiv Bad Homburg

Anders als Bertha Schönfeld war Thekla Dinkelspühler wohl keine Krankenschwester aus Berufung, sondern aus Not: Mit 38 Jahren trat sie unter den repressiven Bedingungen der NS-Zeit als Lernschwester in das Krankenhaus Gagernstraße ein. Während Schwester Bertha aus einem kleinen hessischen Dorf stammte und „echten Frankfurter Dialekt“ (Levinsohn-Wolf 1996: 28) sprach, war Schwester Thekla städtisch geprägt und in einem mittelständischen Geschäftshaushalt aufgewachsen.
Geboren wurde Thekla Dinkelspühler am 4. Juni 1904 zusammen mit ihrer kurz nach ihr auf die Welt gekommenen Zwillingsschwester Luise (auch: Louise; urkundlich: Louisa) in der Wohnung ihrer Eltern, Louisenstraße 34, in der südhessischen Kurstadt Homburg vor der Höhe (seit 1912 Bad Homburg). Sie waren die jüngsten Töchter des Kaufmanns Moritz Dinkelspühler (01.11.1856 Fürth – 01.05.1917 [Bad Homburg v.d.H.]) und seiner Frau Klara (Clara) geb. Eichenberg (20.10.1867 Bad Homburg – 30.05.1934 [Bad Homburg v.d.H.]); der Familienname Dinkelspühler leitet sich vermutlich von der bayerisch-mittelfränkischen Reichsstadt Dinkelsbühl her. Thekla und Luise hatten drei Schwestern:

  • Minna (Mina) Dörnberg (09.07.1888 Homburg v.d.H. – 23.01.1943 Ghetto Theresienstadt [Suizid]) (vgl. auch Daume u.a. (Hg.) 2013, 413);
  • Hedwig Sandberg (1890 Homburg v.d.H. – 1940 oder 1941);
  • Frieda Sandberg (11.10.1892 Homburg v.d.H. – [12.10.1944 deportiert nach Auschwitz]).
  • Die Zwillingsschwester Luise Dinkelspühler, bis zu ihrer NS-bedingten Entlassung als Stenotypistin und Büroangestellte in Bad Homburg sowie in einer Zwieback-Fabrik im nahgelegenen Friedrichsdorf/Ts. tätig, konnte im April 1937 in die USA flüchten. In New York arbeitete sie als Krankenschwester: seit 1941 im Krankenhaus, seit 1946 als Privatschwester (HHStA Wiesbaden).

Moritz Dinkelspühler hatte in das Manufakturwarengeschäft Lehmann & Eichenberg in der Louisenstraße 23 eingeheiratet, er war Mitglied des angesehenen Talmud-Thora-Vereins (vgl. Grosche 1991: 29). Nach seinem Tod (1917) führte die Witwe Klara Dinkelspühler das Geschäft für Textilien, Stoffe, Garne und Damen- und Herrenwäsche fort (ebd.: 44); sie selbst verstarb 1934. Ein Jahr zuvor hatte sie am 1. April noch den staatlich organisierten NS-Boykott jüdischer Unternehmen miterlebt. Ob das Haus Louisenstraße 23 vor oder erst nach der ‚Arisierung‘ einem nichtjüdischen Kohlenhändler gehörte, bleibt noch näher zu prüfen. In den 1930er Jahren wohnte Thekla Dinkelspühler zusammen mit einer ihrer Schwestern im 2. Stock zur Miete (ebd.: 79). Geschäft und Erbe waren verloren. Als 1938 der Novemberpogrom in Bad Homburg tagsüber, vor aller Augen, stattfand, blieb ihre Wohnung nicht verschont. Anlässlich eines nach dem Krieg angestrengten Gerichtsverfahrens berichtete ein Tatbeteiligter: „Auf der ersten Treppe nach oben begegnete ich den Geschwistern Dinkelspühler. Ich ging sodann in den II. Stock […]. Dort waren mehrere Leute […] mit der Demolierung der Wohnungseinrichtung beschäftigt. […] Ich will bekunden, daß ich einen der Männer daran gehindert habe, einige Toilettenseifen einzustecken“ (zit. n. Grosche 1991: 79). Zeugen warfen dem NS-Täter vor, er habe sich sehr wohl „in der Wohnung der Geschwister Dinkelspühler an der Zerstörung der Wohnungseinrichtung aktiv beteiligt“, wo er sogar „auch das Bad zerschlagen“ wollte (Tätervernehmung, zit. n. ebd.: 80).
Am 30. April 1939 hob das NS-Regime den Mieterschutz für alle von ihm als Juden Klassifizierte auf. Auch Thekla Dinkelspühler drohte nun die Zwangseinweisung in ein Ghettohaus (‚Judenhaus‘). Möglicherweise bemühte sie sich vergeblich um eine Ausreise aus Nazideutschland. Sie nutzte die noch verbliebenen wenigen Handlungsoptionen und verließ ihre Geburtsstadt Richtung Frankfurt am Main. Am 14. August 1939 nahm sie der Frankfurter jüdische Schwesternverein als Lernschwester auf (ISG Ffm: HB 655: 64); nicht bekannt ist, ob sie bereits über Pflegeerfahrung verfügte. Sie wohnte wie Bertha Schönfeld im Schwesternhaus und war am 19. November 1940 ebenfalls vom Zwangsumzug in das Krankenhaus Gagernstraße betroffen (vgl. ebd.). Dort beteiligte sie sich vermutlich an der Kranken- und Altenpflege, die infolge der zunehmenden NS-Repressionen unter immer schwierigeren Bedingungen stattfand. Von Schwester Berthas Suizid im Juni 1941 erhielt sie gewiss Kenntnis.

Fotografie: Grab von Thekla Dinkelspühler, Jüdischer Friedhof Eckenheimer Landstraße, Frankfurt a.M., 2011
Grab von Thekla Dinkelspühler, Jüdischer Friedhof Eckenheimer Landstraße, 2011
© Birgit Seemann
Fotografie: Gebetstext am Eingang zum Jüdischen Friedhof Eckenheimer Landstraße, Frankfurt a.M., 2011
Gebetstext am Eingang zum Jüdischen Friedhof Eckenheimer Landstraße, 2011
© Birgit Seemann

Auch Thekla Dinkelspühler nahm sich am 22. Mai 1942 im Krankenhaus Gagernstraße das Leben (ISG Ffm: HB 687, S. 48). Sie wurde 40 Jahre alt. Nur zwei Tage später fand eine weitere große Deportation von Frankfurt nach Polen, diesmal nach Majdanek oder in das Durchgangslager Izbica, statt, von der niemand zurückkehrte. Anders als die in der Schoah Ermordeten erhielt Schwester Thekla auf dem Jüdischen Friedhof Eckenheimer Landstraße ein eigenes Grab. Weder von Thekla Dinkelspühler noch von Bertha Schönfeld sind bislang autobiographische Quellen, etwa Briefe und Tagebücher, überliefert, sie gelten als verschollen. So kann auch dieser Artikel nur eine Annäherung an ihre Biographien sein.

Die Autorin dankt Frau Mira Schneider (Ordnungs- und Standesamt Rabenau), Frau Dr. Krüger und Herrn Mengl (Stadtarchiv Bad Homburg) sowie Dr. Siegbert Wolf (Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a.M.) für ihre Unterstützung und wertvollen Hinweise. Ohne Adolf Diamants, Thea Levinsohn-Wolfs, Allan Hirshs oder Hilde Steppes Erinnerungsarbeit wären Bertha Schönfeld und Thekla Dinkelspühler heute wohl völlig vergessen.

Birgit Seemann, 2014, updated 2017

Ungedruckte Quellen

ISG Ffm: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main Hausstandsbücher:

HB 655: Hausstandsbuch Bornheimer Landwehr 85 (Verein der jüdischen Krankenpflegerinnen zu Frankfurt a.M.), Sign. 655

HB 686: Hausstandsbücher Gagernstraße 36 (Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde Frankfurt a.M.), Sign. 686, Teil 1

HB 687: Hausstandsbücher Gagernstraße 36 (Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde Frankfurt a.M.), Sign. 687, Teil 2

 OuSt Rabenau: Ordnungs- und Standesamt Rabenau:

Personenstandsunterlagen Familie Schönfeld

 HHStA Wiesbaden: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden:

Entschädigungsakte Luise Dinkelspühler, Sign. 518/10299.

 StAHG: Stadtarchiv Bad Homburg, Personenstandsunterlagen:

Geburtsurkunde Nr. 129 Dinkelspühler, Thekla

Geburtsurkunde Nr. 130 Dinkelspühler, Louisa

Literatur


Alicke, Klaus-Dieter 2008: Lexikon der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum. Gütersloh, 3 Bde.

Améry, Jean 2012: Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod. 14. Aufl. Stuttgart.

Daume, Heinz u.a. (Hg.) 2013: Getauft, ausgestoßen – und vergessen? Zum Umgang der evangelischen Kirchen in Hessen mit den Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus. Ein Arbeits-, Lese- und Gedenkbuch. Red.: Renate Hebauf u. Hartmut Schmidt. Hanau.

Diamant, Adolf 1983: Durch Freitod aus dem Leben geschiedene Frankfurter Juden. 1933–1943. Frankfurt a.M. [Selbstverlag].

Fischer, Anna (Hg.) 2007: Erzwungener Freitod. Spuren und Zeugnisse in den Freitod getriebener Juden der Jahre 1938–1945 in Berlin. Berlin.

Goeschel, Christian 2011: Selbstmord im Dritten Reich. Berlin.

Grosche, Heinz 1991: Geschichte der Juden in Bad Homburg vor der Höhe. 1866 bis 1945. Hg. v. Magistrat der Stadt Bad Homburg vor der Höhe. In Zsarb. mit Klaus Rohde. Mit e. Beitr. v. Oberbürgermeister Wolfgang R. Assmann. Frankfurt a.M.

Herz, Yitzhak Sophoni 1981: Meine Erinnerung an Bad Homburg und seine 600jährige jüdische Gemeinde. (1335–1942). Rechovoth (Israel): Y. S. Herz; Bad Homburg v.d.H. – 2. Aufl. 1983.

Kieser, Harro o. J.: Jüdische Erinnerungsstätten in Bad Homburg. In: Gemeinschaftskreis UNSER HOMBURG: http://www.gemeinschaftskreis-unser-homburg.de/wp-content/uploads/2010/03/Jüdische-Erinnerungsstätten-in-Bad-Homburg.pdf.

Kingreen, Monica (Hg.) 1999: „Nach der Kristallnacht“. Jüdisches Leben und antijüdische Politik in Frankfurt am Main 1938–1945. Frankfurt a.M., New York.

Levinsohn-Wolf, Thea 1996: Stationen einer jüdischen Krankenschwester. Deutschland – Ägypten – Israel. Frankfurt a.M.

Ohnhäuser, Tim 2010: Der Arzt und Hochschullehrer Arthur Nicolaier (1862–1942). Eine Annäherung an die Suizide der als „nicht arisch“ verfolgten Ärzte im Nationalsozialismus. In: Kühl, Richard u.a. (Hg.): Verfolger und Verfolgte. Bilder ärztlichen Handelns im Nationalsozialismus. Münster, 15-38.

Palesch, Anja u.a. (Hg.) 2012: Leitfaden Ambulante Pflege. Unter Mitarb. v. Anne Ewering u. Tengü Topuzoglu. 3. Aufl. München.

Rechenschaftsbericht 1920: Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main, Rechenschaftsbericht für die Jahre 1913 bis 1919, Frankfurt a.M., 1920.

Steppe, Hilde 1997: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre …“. Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt a.M.

Internetquellen (aufgerufen am 19.10.2017)


Alemannia Judaica (Alten-Buseck/ Buseck, Kreis Gießen): http://www.alemannia-judaica.de/alten-buseck_synagoge.htm

Alemannia Judaica (Bad Homburg): http://www.alemannia-judaica.de/bad_homburg_vdh_synagoge.htm

Alemannia Judaica (Kesselbach/ Rabenau): http://www.alemannia-judaica.de/londorf_synagoge.htm

Gedenkbuch BA Koblenz: Bundesarchiv Koblenz: Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945. Gedenkbuch: http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/directory.html.de

Hirsh, Allan o.J.: Bamberger/Wassermann Family Tree [private genealogische Website]: http://www.ahirsh.com/pdfs/BAMBERGER-WASSERMANN_TREE.pdf

Jüdische Friedhöfe in Frankfurt: http://www.jg-ffm.de/de/religioeses-leben/juedische-friedhoefe

Jüdisches Museum Frankfurt am Main (mit interner Datenbank der aus Frankfurt Deportierten): http://www.juedischesmuseum.de

Spurensuche. Jüdische Friedhöfe in Deutschland. Eine Einführung für Lehrer und Schüler. Website des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen, Duisburg: http://spurensuche.steinheim-institut.org/index.html

Yad Vashem (Jerusalem): Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer: http://www.yadvashem.org