Ein Beitrag von Edgar Bönisch, 2024
Situation vor 1917
Für die Ausbildung und Prüfung von Säuglingskrankenpflegerinnen bestehen im Deutsche Reich, außer in den Großherzogtümern Hessen und Sachsen-Weimar, wie auch in der Freien und Hansestadt Hamburg, keine speziellen gesetzlichen Bestimmungen.
Langstein 1915: 14
In Preußen galten vor 1917 die Vorschriften zur staatlichen Prüfung von Krankenpflegepersonen, erlassen am 10. Mai 1907 durch den Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten (Ministerial-Blatt für Medizinal-Angelegenheiten 1907: 185 und die Ausführungsanweisung vom 1. Mai 1907 siehe Ministerial-Blatt F. Medizinal-Angelegenheiten: 192, vgl. Langstein 1915: 4). Darunter fiel auch Frankfurt, das seit 1866 zu Preußen und seit 1868 zu dessen Bezirk Hessen-Nassau gehörte.
Aus den Vorschriften für Krankenpflegepersonal folgte, dass jede Krankenpflegerin sich auch als Säuglingskrankenpflegerin betätigen durfte. Pflegerinnen, die sich in privaten Familien mit Säuglingen beschäftigten, benötigten keinerlei Ausbildung:
Dieser Zustand ist mit Rücksicht auf die hohe Bedeutung der Säuglingspflege für das Volkswohl in einsichtigen Kreisen schon seit Jahren nicht nur als unzweckmäßig, sondern sogar als äußerst bedenklich empfunden worden, weil er jedermann, auch den ungeeignetsten Persönlichkeiten, den Zutritt zum Kinderzimmer gestattet.
(Langstein 1915: 14)
Auf Initiative aus dem Berliner „Auguste Victoria Haus zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit im Deutschen Reich“ trafen sich 1912 verschiedene Leiter von deutschen Säuglingspflegeanstalten in Preußen, um „Grundsätze für die einheitliche Ausbildung des Säuglingspflegepersonals für ‚Anstalten und Familien‘“ (Langstein 1915: 15) zu erstellen. Es sollten also zu den bestehenden Regelungen für Krankenpflegepersonal spezielle Bestimmung für den Säuglingspflegebereich geschaffen werden. Die eingesetzte Arbeitskommission beschäftigte sich insbesondere mit der Unterscheidung zwischen:
a) Säuglingskrankenpflegerinnen, die in Säuglingsheil- und Säuglingspflegeanstalten und der offenen Säuglingsfürsorge eingesetzt werden sollten, und:
b) Säuglingspflegerinnen, die die Pflege in den Familien übernehmen sollten.
In den dazu verfassten Leitsätzen heißt es, dass die Anforderungen, die an die Pflegerin kranker Säuglinge gestellt werden ungleich größer sind als diejenigen, die eine Pflegerin des gesunden Kindes in einer Familie zu erfüllen hat. Für die Säuglingskrankenpflegerin sah man entsprechend eine Ausbildung von 2 Jahren vor, von denen mindestens ein Jahr in der Säuglings- und Kinderpflege verbracht werden sollte. Für den Abschluss mit Diplom war eine Prüfung an einer staatlich anerkannten Anstalt vorgesehen, eine zusätzliche Ausbildung als allgemeine Krankenpflegerin war ebenso empfohlen. Ausbildungsorte und Prüfungsorte sollten nur Säuglingsheime, Kinderkrankenhäuser oder Kinderabteilungen sein, die nach den neuesten Fortschritten der Wissenschaft betrieben würden und einem Fachmann, einem Kinderarzt, unterstünden. Beschäftigungszeiten in der praktischen Säuglingspflege ohne Ausbildung sollten nicht als Ausbildungszeit anerkannt werden.
Die Säuglingspflegerin im Gegensatz zur -krankenpflegerin sollte mindestens ein halbes Jahr in den beschriebenen Anstalten ausgebildet werden. Sie wird ebenso geprüft und erhält ebenfalls ein Diplom.
Für die Ausarbeitung von Lehrplänen soll eine Kommission eingesetzt werden.
An dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden Überlegungen zu dem Beruf der Wärterin, eine Art Assistentin der Pflegerin, und die sich entwickelnden Berufe der Säuglingsfürsorgerin oder Säuglingsfürsorgeschwester (vgl. Langstein 1915: 17 und Konferenz zur Beratung von Grundsätzen, betreffend die einheitliche Ausbildung der Säuglingspflegerinnen: Stenographischer Bericht, Berlin 1912. Zitiert nach Fehlemann 2004: 252).
Leo Langstein (1876-1933) lässt seinem Text über den Beruf der Säuglingspflegerin (Langstein: 1915) einer Aufzählung von Pflegerinnenschulen Deutschlands zum Zeitpunkt des Erscheinens, 1915, folgen. In der Aufzählung ist auch das Böttgerheim in Frankfurt aufgelistet, das zu denjenigen gehört, die weitestgehend nach den oben genannten Grundsätzen arbeiten. Bewusst lässt er in seiner Liste Krankenanstalten weg, die auch Säuglingspflege lehren und auch Tageskrippen und Einrichtungen der offenen Säuglingsfürsorge, dort sieht er nicht die Möglichkeit einer gründlichen Ausbildung, es fehlt an der fortlaufenden Beobachtung und Pflege des Säuglings während Tag und Nacht. Für das Böttgerheim nennt er dann folgende Merkmale der Ausbildung:
Kinderheim, Frankfurt a. M., Böttgerstr. 22.
1. Säuglingspflegerinnen. Aufnahmebedingungen: Alter 20-30 Jahre, Gesundheitsattest und Untersuchung durch Anstaltsarzt, höhere Schulbildung. Lehrgang: Theoretischer und praktischer Unterricht erfolgt durch Arzt und Schwester beim gesunden und kranken Kinde bis zu 3 Jahren, und der Milchküche und Säuglingsfürsorgestelle. Dauer 1 Jahr. Mündliche und praktische Prüfung, Zeugnis. Kosten: In den ersten 6 Monaten 30 M. monatlich für Wohnung, Beköstigung und Wäsche; beim Abgang zu errichten. Das Kostgeld wird zur Hälfte erlassen, wenn das Ausbildungsjahr vollendet wird. Bleibt die Pflegerin nach Vollendung des Jahreskursus noch ein weiteres Halbjahr im Dienste der Anstalt, dann wird das fällige Kostgeld ganz erlassen und außerdem ein monatliches Taschengeld von 15 M. gewährt.
Bemerkung: Die staatliche Anerkennung als geprüfte Krankenpflegerin kann im Anschluß an den Kursus durch Absolvierung eines halbjährigen Kursus im Städtischen Krankenhaus in Frankfurt a. M. und Prüfung erworben werden.
2. Mutterschulkurs, 3 Monate lang. 2 theoretische Stunden wöchentlich. Kosten: 40 M. Nach Ablegung der Prüfung Erlaubnis zur praktischen Arbeit in der Anstalt (1-3 Monate).
Meldungen und Anfragen: Anstaltsleitung. Prospekt zur Verfügung.
(Langstein 1915: 26)
Gesetz von 1917, Kritik und Erweiterungen
Säugling zu sein, ist in unserer Zeit eine Lust.
Schlossmann 1917
Eine erstmals einheitliche Ausbildung für Säuglingspflege wurde in Deutschland 1917 geregelt. Sie bedeutete jedoch einen Rückschritt gegenüber der bisherigen Entwicklung, insofern als nicht zwischen Säuglingskrankenpflege und Säuglingspflege unterschieden wurde.
In einem Artikel in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift (Nr. 24, 14. Juni 1917) fasst Arthur Schlossmann das Gesetz von 1917 zusammen und stellt die seiner Meinung nach kritischen Punkte heraus.
Der Kinderarzt Arthur Schlossmann (1867-1932) hatte in Freiburg, Leipzig, Breslau und München studiert und nach einer Assistenz am Kaiser und Kaiserin Friedrich-Kinderkrankenhaus in Berlin sich 1893 in Dresden als Kinderarzt niedergelassen. In den Räumen seiner Praxis führte er eine Poliklinik für Kinder und Säuglinge und wurde zum Mitbegründer und Leiter der Dresdner Kinderklinik einschließlich Säuglingsheim. Seit 1899 stand dort auch eine Schule für Säuglingspflegerinnen zur Verfügung. (Weitere Informationen in: Entwicklung einer professionellen Kinder- und Säuglingspflege im Deutschen Reich und in Frankfurt am Main (Bönisch 2024).
Schlossmann schreibt:
Säugling zu sein, ist in unserer Zeit eine Lust. Was auf dem Verordnungswege möglich ist, geschieht, um dem jungen Weltbürger sein Leben lebenswert zu machen und um ihm alle Steine des Anstoßes aus der Wiege zu räumen. Als Neustes auf diesem Gebiet der säuglingsfreundlichen Neuorientierung tritt jetzt die staatlich geprüfte Säuglingspflegerin in Erscheinung. Durch Ministerialerlaß vom 31. März 1917 – M. 3626/16 – sind Vorschriften über die staatliche Prüfung von Säuglingspflegerinnen, eine Ausführungsanweisung hierzu und ein Plan für die Ausbildung in der Säuglings-und Kleinkinderpflege bekanntgegeben worden.
Schlossmann 1917
Den Grund dafür, dass man sich in einer Zeit „da eigentlich die ganze ärztliche Tätigkeit direkt oder indirekt von Mars regiert wird […]“ also mit dem Krieg beschäftigt ist, um einen solchen Erlass bemühe, sieht Schlossmann darin, dass solche Erlasse bereits in den Großherzogtümern Hessen, und Sachsen -Weimar und in der Freien und Hansestadt Hamburg bestünden und eine allgemeine Regelung notwendig sei.
Schlossmann fasst die wichtigsten Vorschriften des Erlasses zusammen:
Die staatliche Anerkennung als Säuglingspflegeschulen sollen in jedem Regierungsbezirk, gewisse Säuglingsheime, Kinderkrankenhäuser oder ähnliche Anstalten erhalten, die über eine größere Anzahl von Betten für Säuglinge und Kleinkinder verfügten und eine Einrichtung hätten, die die Gewähr für eine „gediegene“ Ausbildung böten, die Leitung müssten „tüchtige“ Kinderärzte sein.
Die Ausbildung der Säuglingspflegerin solle ein Jahr dauern, die aufgeteilt sein sollte in einem halben Jahr zunächst in bestehenden Krankenpflegeschulen und darauffolgend einer Unterweisung in der eigentlichen Säuglings- und Kleinkinderpflege in einer der neuen Säuglingspflegeschulen. Prüfungen solle es 2mal jährlich geben, im März und September. Mindestens einer der drei Ärzte des Prüfungsausschusses solle ein Kinderarzt sein. Für die Zulassung müsse man 21 Jahre alt sein und einen Volksschulabschluss besitzen. Theoriestunden solle es 200 geben, mindestens die Hälfte davon in Säuglings- und Kleinkinderpflege. Bereits ausgebildete Hebammen (Ausbildung über neun Monaten in einer deutschen Hebammenlehranstalt), könnten die Prüfung nach Ablegung eines zusammenhängenden Lehrgangs von drei Monaten in einer staatlichen oder staatlich anerkannten Säuglingspflegeschule machen.
Nun beginnt er seine Kritik, die hier etwas ausführlicher wiedergegeben wird, sie zeigt die Situation in der Säuglings- und Kinderpflege der Zeit. Zunächst stellt Schlossmann fest, dass hier Säuglingskrankenpflegerinnen angesprochen seien und nicht Säuglingspflegerinnen. Er vermutet, dass „manche staatlich geprüfte Säuglingspflegerin unter Umständen überaus überrascht und erstaunt sein wird, wenn sie in ihrer späteren Tätigkeit das erste Mal wirklich ein gesundes Kind zu sehen bekommt.“ (Schlossmann 1917) Er bemängelt, dass der Ausbildungsplan weder die Pflege eines gesunden Säuglings, noch eine Entbindungsstation einer Säuglingsabteilung berücksichtige. Weiter verweist Schlossmann auf das Fehlen von Einblicken in die Infektionsabteilungen, besonders da die Säuglingspflegerin gleichzeitig geprüfte Kleinkinderpflegerin sei. Sie würde zwar geprüft im Wissen über Kleinkinderkrankheiten und Pflege von übertragbaren Krankheiten, doch fehle ihr der praktische Kontakt z. B. zu an Masern oder Diphterie Erkrankten. „Früher gab es eine sogenannte Säuglings- und Kinderpflegerin, die von diesen Dingen keine Ahnung hatte; auch in Zukunft wird es so sein, nur daß jetzt die geprüfte Säuglingspflegerin ein staatliches Zeugnis in der Hand hat. Und das ist das Bedenkliche!“ (Schlossmann 1917)
Schlossmann kritisiert weiter, dass die Ausbildung in zwei unterschiedlichen Anstalten stattfinden sollte, so dass die Auszubildenden mit einem unterschiedlichen Wissensstand zusammenkämen. Die Festlegung auf zwei Prüfungstermine pro Jahr sieht er ebenfalls kritisch. In Dresden, wo er die Pflegerinnenschule leitet, kommen jeden Monat zwei bis drei neue Schülerinnen, die je eine jeweils einer ausgebildeten Schwester zugeordnet werden. Sie lassen sich gut in den Alltagsbetrieb eingliedern und ein kontinuierlicher Betrieb ist möglich. Wenn alle halbe Jahre viele Auszubildenden ins Säuglingsheim kämen sei das eine Überlastung.
In der Bevorzugung der Hebammen durch eine verkürzte Ausbildung zur Säuglingsfürsorge sieht er den Versuch den Hebammen einen zusätzlichen Arbeitsbereich auf Kosten der Krankenpflegerinnen zu sichern. Es brächte eine Schieflage in der großen Kette von Zuständigkeiten, „die Mutter und Kind vor dem Abgrund schützen soll, der sie bedroht.“
Das Mindestalter auf 21 Jahre zu setzen hält er für falsch. Die Lücke zwischen Schulabschluss und Eintritt in eine Ausbildung mit dementsprechend 20 Jahren sei schwer zu füllen, selbst eine zwischenzeitliche sinnvolle hauswirtschaftliche Ausbildung fülle die Lücke nicht. Er habe keine Bedenken, das Eintrittsalter bei 18 Jahren zu sehen, die Prüfung also mit 19 anzusetzen, man könne dann immer noch die Auszubildenden bis 21 an ein Haus binden, wo sie ja unter einer entsprechenden Aufsicht stünden. „Ich glaube, wir müssen alles tun, um den jungen Mädchen möglichst früh zu einer wirtschaftlichen Selbständigkeit zu verhelfen.“ (Schlossmann 1917)
Schlossman betont, dass es mitten im Krieg sicherlich schwierig gewesen sei, die Fachleute, also Kinderärzte, von denen es nicht viele gäbe, zu befragen. Positiv sei, dass den angehenden Schwestern überhaupt Aufmerksamkeit gewidmet würde. Er findet es wichtig zu motivieren, denn: „Gut ausgebildete Kräfte tun uns in Säuglingspflege und Säuglingsfürsorge not. Man gehe also ans Werk und denke dabei des Goehteschen Wortes: ‚Man säe nur, man erntet mit der Zeit.‘“ (Schlossmann 1917)
Auch von anderen Seiten kam Kritik, insbesondere da der Unterschied zwischen Pflegerinnen gesunder Säuglinge in der Familie und Säuglingskrankenpflegerinnen in Anstalten verwischt worden ist (vgl. Jende-Radomski 1926: 79 und Eickemeyer 2015: 48).
Weitere Beratungen, diesmal unter Teilnahme von Arthur Schlossmann und anderen Sachverständigen, führten 1923 zu neuen Bestimmungen zur Prüfung von Säuglings- und Kleinkinderpflegerinnen. Die Ausbildungszeit wurde auf 2 Jahre festgesetzt und das Mindestalter auf 18 Jahre gesenkt. Einige Bundesstaaten folgten dem preußischen Beispiel. Ab Mitte der 1920er Jahre wurde wieder über die Vereinheitlichung der Ausbildung in der Säuglingspflege beraten. Beratungszentrum war die Deutsche Vereinigung für Säuglingsschutz am Königin Auguste Viktoria Haus (KAVH). Diesmal wurde ein breites Spektrum von Meinungen berücksichtigt. Ein Instrument waren Fragebögen, die an die Ausbildungsanstalten versandt und ausgewertet wurden.
Die Vorschläge der Deutschen Vereinigung für Säuglingsschutz wurden dem Reichsgesundheitsamt und dem Reichsrat zum Beschluss vorgelegt. Am 1. Oktober 1930 trat der Beschluss vom 20. März 1930 über die Ausbildung zur Säuglings- und Kleinkinderpflegerin (für die Pflege in der Familie) in einjährigem Lehrgang und die Ausbildung zur Säuglings- und Kleinkinderschwester
Eickemeyer 2015: 50
(-krankenpflegerin) in zweijährigem Lehrgang reichsweit in Kraft.
Das Böttgerheim 1916 bis 1923
Frankfurt am Main gehörte seit 1866 zu Preußen und unterlag der entsprechenden Gesetzgebung. Eingegliedert war Frankfurt seit 1868 in den Bezirk Hessen-Nassau mit den Provinzhauptstädten Kassel und Wiesbaden.
Die Lage während des 1. Weltkriegs für das Böttgerheim ist aus dem Jahresbericht des Vereins Kinderheim Nr. 15 für das Jahr 1916 ersichtlich.
Sowohl der langjährige Vorsitzende und Gründer Christian Wilhelm Pfeiffer-Belli (1843-1916) war am 31. Januar 1916 gestorben als auch sein Nachfolger im Amt Paul Sternberg am 31. Juli 1916. Der Anstaltsarzt Dr. Carl Beck (im Amt 1909-1914) verstarb am 6. März 1916. Der stellvertretende Anstaltsarzt, Dr. Gustav Löffler wurde Ende 1916 zum Militär berufen. Löffler hatte auch den Unterricht für die Schülerinnen erteilen können. Ab Januar 1917 übernahm Dr. Georg Schaub die ärztliche Leitung. Der 1916 gegründete Schwesternverband des Vereins Kinderheim konnte seinen Betrieb aufnehmen, es konnte „eine Anzahl in früheren Jahren bei uns gründlichst ausgebildeter, zuverlässiger Kinderschwestern, die sich im Außendienst, in der Privatpflege und in leitenden Stellungen sehr bewährt haben, aufgenommen [werden] und wir sind dauernd bestrebt, tüchtige Kinderpflegerinnen zum Wohl der Säuglingsfürsorge heran zu bilden.“ (Kinderheim, Jahresbericht 1917 für 1916: 6)
Die Betriebskosten sind in den Kriegsjahren stark gestiegen, es musste zunehmend auf die Vereinsfinanzen zurückgegriffen werden. Das Defizit war 1916 bei 12.806 M., um Spenden wurde ausdrücklich gebeten. Zuschüsse kamen durch Nachlässe und Schenkungen zusammen, mit 1.000,- M. bezuschusste die Stadt Frankfurt das Heim, die Augusta Viktoria-Stiftung für Säuglingsfürsorge gab 3.000,- M. Die Schwestern erhielten nach wie vor Freikarten für Bahnfahrten, Palmengarten und Zoo. 1916 hatte der Verein 373 eingetragene Mitglieder.
Preußens Gesetzgebung für Krankenpflegepersonal von 1907 scheint noch bis 1917 gültig gewesen zu sein, bis zum Ministerialerlass vom 31. März 1917 (M. 3626/16 – Vorschriften über die staatliche Prüfung von Säuglingspflegerinnen). Die davor gültigen Rahmenbedingungen für die Ausbildung in der Säuglingspflegerinnenschule scheinen die von 1904 zu sein, grob zusammengefasst sind es :
Aufnahme von jungen Frauen von 20 bis 30 Jahren mit einer guten Schulbildung. Aufnahmeuntersuchung durch den Anstaltsarzt. Die Ausbildung erfolgt theoretisch und praktisch, die Ausbildungsdauer ist ein Jahr, ausgebildet wird in Säuglings- und Krankenpflege sowie Kinderkrankenpflege. Der Abschluss erfolgt mit einer Prüfung und die Ausgebildete erhält ein Zeugnis (Kinderheim e.V. 1913). Mehr Details siehe Beitrag: Die Pflegeschule für Säuglingsschwestern im Böttgerheim.
Zur Umsetzung des Erlasses von 1917 im Böttgerheim ist wenig überliefert. In einer Archivmappe fand ich zufällig eine auf offiziellem Heimpapier gedruckte Anweisung, die zeigt, dass der Erlass auch im Frankfurter Heim angekommen ist. Zufällig ist der Fund, da der Text dieser Seite per Hand durchgestrichen ist, und die leere Rückseite als Notizzettel genutzt wurde:
Kinderheim e.V. zu Frankfurt a.M., Böttgerstraße 20-22. Staatlich anerkannte Säuglingspflegeschule und Prüfungsstelle.
Durch Verordnung des Herrn Ministers des Innern, 31.3.1917, ist die Ausbildung der Säuglingspflege und die Ablegung der staatlichen Prüfung als Säuglingspfleger geordnet worden.
Die Ablegung der stattlichen Prüfung als Säuglingspflegerin setzt eine mindestens einjährige Ausbildung voraus:
Zunächst für 6 Monate in einer staatlich anerkannten Krankenpflegeschule.
Daran anschließend für weiter 6 Monate in einer staatlich anerkannten Säuglingspflegeschule.Für Hospitantinnen, die auf Grund dieser Vorschriften den vorgeschriebenen ½-jährigen Kursus in der Säuglings- und Kleinkinderpflege durchmachen wollen, gelten folgende Bestimmungen.
ISG A.51.01 1134: 103, Rückseite
Der Nachweis der Vollendung des 21. Lebensjahres, Eintritt in der Regel Anfang April und Anfang Oktober. Für Verpflegung sind pro Monat Mk. 75,- zu entrichten. Wohnung außerhalb der Anstalt.
Für den theoretischen Unterricht und die Unterweisung sind für das halbe Jahr Mk. 50,- zu zahlen. Der Abschluss erfolgt durch die staatliche Prüfung.
Das Kinderheim Böttgerstraße 22 und seine Säuglingspflegerinnenschule hatten weiterhin finanzielle Schwierigkeiten, die Stadt gewährt in den Jahren 1918, 1919 und 1920 weitere Zuschüsse (ISG A.02.02 V 586: 96, 105, 111). 1920 kommt es zum Verkauf an die Stadt Frankfurt. Übernommen werden das Vermögen, bestehend aus den Grundstücken Böttgerstrasse 20/22 mit Inventar und Vorräten, das Grundstück Hallgartenstraße 59, Wertpapiere und Barvermögen in Höhe von etwa 70.000,- M. Die Stadt übernimmt die Belastungen der Grundstücke und Verpflichtungen des Vereins von etwa 100.000 M. und die Verpflichtungen aus der Schenkungsurkunde der Eheleute Gans. Beschäftigung und Altersvorsorge der Schwestern Elisabeth und Marie Lippert werden bestätigt.
Die Vereinbarungen gelten zwischen dem Verein Kinderheim und dem Jugend-Amt der Stadt Frankfurt (31.August 1920). Im Lauf von 1920 und 21 wird die Übernahme und Besoldung der Oberin Elisabeth Lippert, der Oberschwester Marie Lippert und der Schwestern Margarete Kiehl, Helen Anthes, Magarete Kottmayer, Agnes Kalytta bestätigt. Als leitender Arzt des Kinderheims Böttgerstrasse wird Dr. Paul Grosser berufen (vgl. ISG A.02.01 V 586). Paul Grosser (1880-1934) wurde am 4. Februar 1880 in Berlin geboren, er starb am 7. Februar 1934 in Saint-Germain-en-Laye. In Berlin hatte er verschiedene Assistenzstellen inne, u.a. bei Rudolf Virchow (1821-1902), bei Heinrich Finkelstein (1865-1942) im Städtischen Waisenhaus in Berlin-Kreuzberg. Ebenso an der Universitäts-Kinderklinik der Berliner Charité bei Otto Heubner (1843-1926). Dort war er Oberarzt in der Kinderklinik des Städtischen Krankenhauses. Während des gesamten 1. Weltkriegs war er als Stabsarzt an der Front. Nach dem Krieg eröffnete er als Kinderarzt eine Privatpraxis. 1919 habilitierte er sich als erster Kinderarzt an der Frankfurter Universität. 1921 heiratete der liberale Jude Grosser Lily Emilie Rosenthal (1894-1968). Einer der Trauzeugen war Karl Josephtal, der zuvor als Gremiumsmitglied der Versorgungsanstalt für Israeliten in Frankfurt wirkte. Die Kinder Margarethe und Alfred wurden 1922 bzw. 1925 geboren.
Das Böttgerheim und die Pflegeschule leitete Grosser von 1921 bis 1929. Seine Assistenzärztin war Anna Ettlinger (1894-?), die sich ab 1924 als praktische Ärztin in Frankfurt niederließ. Später hieß sie Sondheimer, sie ging 1937 in die USA und in zweiter Ehe hieß sie Sondheimer-Friedmann. 1923 wurde Grosser außerordentlicher Professor für Kinderheilkund an der Johann Wolfgang Goethe-Universität. Von 1930 bis 1933 war Grosser ärztlicher Leiter des Clementine Kinderhospitals (vgl. Seemann 2024), welches er sehr erfolgreich modernisierte.
Bedingt durch die Anfeindungen als Juden, emigrierte die Familie 1933 nach Frankreich. Im Februar 1934 starb er in Saint-Germain-en-Laye an einem Herzinfarkt (vgl. Wikipediartikel zu Paul Grosser 29.04.2024).
In den Akten findet sich ein Antrag des Böttgerheims auf Anerkennung als Säuglingspflegeschule aus dem Jahr 1923. Der Antrag wird mit dem Erlass vom 20. Februar 1923 begründet und es folgt eine Selbstdarstellung von Heim und Schule von der ich vermute, dass sie zeigen soll inwiefern die Vorschriften vom Februar erfüllt werden, gerichtet ist sie an den Herrn Regierungspräsidenten in Wiesbaden, datiert auf den 8. Juni 1923, vermutlicher Verfasser ist Dr. Grosser:
Gesuch um staatliche Anerkennung des städtischen Kinderheim Böttgerstraße 22 als Säuglingspflege-Schule, datiert auf den 8. Juni 1923:
Das städtische Kinderheim in der Böttgerstrasse ist auf Grund des Erlasses vom 20.II.1923 nur noch bis zum 1. Oktober 1923 als ‚Säuglingspflegeschule anerkannt. Es wird beantragt, die staatliche Anerkennung auf Grund der neuen Bestimmungen gewähren zu wollen.
Es handelt sich um ein für Säuglinge und Kleinkinder bestimmtes Heim mit 85 Betten [Unterstreichung im Dokument per Hand hinzugefügt] und 17 angestellten Vollschwestern. Die Kinder sind zum kleineren Teil gesund, zum grösseren Teil leiden sie an Lebensschwäche, Ernährungsstörungen und dergl., Infektionskrankheiten sind ausgeschlossen. Die Leitung liegt in der Hand eines anerkannten Facharztes, des Privatdozenten Dr. Grosser, der auch der Unterricht der Schülerinnen übernimmt. Gemäss Erlass vom 20.2.1923 wird nun für die ersten 6 Monate ein angemessenes Lehr- und Verpflegungsgeld erhoben, während des 2. Halbjahres freie Ausbildung gewährt und während des 2. Jahres eine Entlohnung in der gleichen Weise gewährt werden, wie sie die Lehrschwestern des städt. Krankenhauses erhalten. Es ist in der Anstalt Gelegenheit geboten zu gründlicher praktischer Ausbildung in der Pflege des gesunden und kranken Säuglings und Kleinkindes; stillende Mütter bzw. Ammen stehen zur Verfügung; es ist den Schülerinnen Gelegenheit gegeben, ein genügendes Mass hauswirtschaftlicher Kenntnisse sich anzueignen. Ferner ist ihnen die Teilnahem an der Säuglingsfürsorgestellen ermöglicht. Zum Zweck der Ausbildung in der Erziehung des Kleinkindes wird eine Beschäftigung [Unterstreichung im Dokument per Hand hinzugefügt] in städt. Kindergärten in den Lehrplan aufgenommen. Zur Ermöglichung einer Ausbildung auch in denjenigen Krankheiten, deren Kenntnis im Kinderheim Böttgerstrasse nicht ermöglicht werden kann, ist als Ergänzungsanstalt die Universitäts-Kinderklinik des städt. Krankenhauses vorgesehen, in der die Schülerinnen ½ Jahr im Verlauf ihrer Ausbildungszeit ausschliesslich beschäftig werden, und die auch ihrerseits bisher als Säuglingspflegeschule anerkannt war und auf Grund des Erlasses vom 30.II.1923 einen entsprechenden Antrag bereits gestellt hat. Die Möglichkeit zur Unterbringung sämtlicher Schülerinnen ist sowohl im Kinderheim Böttgerstrasse wie in der Universitäts-Kinderklinik sichergestellt.
Z. Hd. dem Magistrat mit der Bitte um Absendung des vorstehenden Antrags an den Herrn Regierungspräsidenten. Frankfurt /M. 6. Juni 1923, Stadtgesundheitsamt [Unterschrift schwer lesbar, sehr wahrscheinlich: Grosser]
ISG A.51.01 1134: 156
Damit war das Kinderheim Böttgerstraße mit seiner Säuglingspflegerinnenschule wohl auf dem neuesten Stand der Vorschiften.
Quellen
Archivalien
Institut für Stadtgeschichte (ISG)
A.02.01 V 586 Magistratsakte Kinderheim Böttgerstraße
„Kinderheim“ Eingetragener Verein: 15. Jahresbericht für Verwaltungsjahr 1916, Frankfurt 1917
A-51.01 1134 Ausbildung von Lehrschwestern
Literatur
Blessing, Bettina 2013: Kleine Patienten und ihre Pflege. Der Beginn der professionellen Säuglingskrankenpflege in Dresden. In: Geschichte der Pflege, 2. Jg., 1/2013: 25-34
Bönisch 2024: Entwicklung einer professionellen Kinder- und Säuglingspflege im Deutschen Reich und in Frankfurt am Main
Eickemeyer, Dorothea 2015: Neue Berufe in der Säuglingsfürsorge. Die Säuglingspflegerin und Säuglingskrankenpflegerin 1898-1930. In: Gudrun Loster-Schneider, Maria Häusl, Stefan Horlacher, Susanne Schötz, Hgg., GenderGraduateProjects I – Geschlecht, Fürsorge, Risiko. Leipzig, 39-55 https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-848599 (29.04.2024)
Engel, Stefan/Behrendt, Holger 1927 „Säuglingsfürsorge (einschließlich Pflegekinderwesen und Mutterschutz)“, in: Gottstein, Adolf; Schlossmann, Arthur; Teleky, Ludwig (Hg.), Handbuch der sozialen Hygiene und Gesundheitsfürsorge, Bd. 4, Berlin 1927, S. 28-146 (zitiert nach Eickhttps://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&ved=2ahUKEwj9i_3a37P_AhXOM-wKHeMaD-4QFnoECAcQAQ&url=https%3A%2F%2Fdocserv.uni-duesseldorf.de%2Fservlets%2FDerivateServlet%2FDerivate-4462&usg=AOvVaw1mC6ww-GkyrzAsn2IsdjEnemeyer 2015: 42)
Fehlemann, Silke 2004: Armutsrisiko Mutterschaft. Mütter- und Säuglingsfürsorge im Deutschen Reich 1890-1924, Düsseldorf, https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&ved=2ahUKEwj9i_3a37P_AhXOM-wKHeMaD-4QFnoECAcQAQ&url=https%3A%2F%2Fdocserv.uni-duesseldorf.de%2Fservlets%2FDerivateServlet%2FDerivate-4462&usg=AOvVaw1mC6ww-GkyrzAsn2IsdjEn (29.04.2024)
Gellrich, Dorothea 2012: Die Entstehung neuer Frauenberufe in der Säuglingsfürsorge 1898-1930, Saarbrücken
Grosser Paul: https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Grosser (29.04.2024)
Jende-Radomski, Hilde 1926: Frauenberufe. Dünnhaupts Studien- und Berufsführer Band 5, Dessau, 2. vollständig umgearbeitete Auflage
Keller, Arthur 1913: Kinderheim Frankfurt a. M., Sonderdruck aus: Heim-, Heil- und Erholungsanstalten für Kinder in Deutschland in Wort und Bild, Bd. 1. Carl Marhold Verlagsbuchhandlung in Halle a. S.
Langstein, Leo/Rott, Fritz 1915: Der Beruf der Säuglingspflegerin. Deutsche und englische Säuglingspflege – Die Pflegerinnenschulen Deutschlands – Staatliche Vorschriften für die Ausbildung des Säuglingspflegepersonals – Dienstanweisungen, Berlin
Renner, Karl 1967: Die Geschichte der Düsseldorfer Universitätskinderklinik von ihrer Begründung im Jahre 1907 bis zum Jahre 1967, in: Wunderlich, Peter; Renner, Karl, Arthur Schloßmann und die Düsseldorfer Kinderklinik, Düsseldorf, S. 1-121
Schlossmann, Arthur 1917: Öffentliches Gesundheitswesen. Die staatliche geprüfte Säuglingspflegerin. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift, 14. Juni 1917, Nr. 24. https://zenodo.org/record/2492263/files/article.pdf (05.06.2023)
Seemann, Birgit 2024: „(…) denn diess Haus ist Allen geweihet“ – das Clementine-Mädchen-Spital (eröffnet 1875): liberal-jüdische Anfänge und interkonfessionelle Zusammenarbeit
Seidler, Eduard 2000: Kinderärzte 1933-1945. Entrechtet – geflohen – ermordet. Bonn
Zang, Stefanie 2012: Adé Kinderkrankenschwester? Über die Zukunft der Pflegeausbildung in Deutschland. https://silo.tips/download/ade-kinderkrankenschwester (29.04.2024)