Die Lebensform „Mutterhaus“
Im Rahmen der Professionalisierung der jüdischen Krankenpflege wurde über das mögliche Zusammenleben der Schwestern nachgedacht. 1872 hatte sich der Dachverband der jüdischen Gemeinden in Deutschland, der Deutsch-Israelitische Gemeindebund (DIGB), konstituiert. Bei dessen Treffen im Jahr 1882 sprach sich Paul Jolowicz aus Posen für die Unterbringung jüdischer Krankenpflegerinnen in „Asyle[n] für alleinstehende Frauen und Mädchen“ nach dem Modell der Mutterhäuser in christlichen Einrichtungen aus (vgl. DIGB 1882, zit. nach Steppe 1997: 91). Mit dieser Form einer Lebensgemeinschaft waren vor allem die evangelischen Diakonissenhäuser gemeint, die, nach der Idee Theodor Fliedners, seit 1836 mit der Gründung der Diakonissenanstalt in Kaiserswerth entstanden. „Fliedner übernahm Teile des katholischen Modells, die Abgeschiedenheit und die karitativ-christliche Auffassung der Krankenpflege. Andererseits springt die Orientierung am bürgerlichen Modell der Familie ins Auge, der Theologe und die Oberin an der Spitze, darunter die „Kinder“ (Diakonissen), für die gesorgt wird, alle in einem Haus. Dieses als Mutterhaus beschriebene System ist eine typisch deutsche Entwicklung, in der persönliche Unfreiheit mit sozialer Absicherung verbunden war […]. Auch die jüdischen Krankenpflegevereine organisierten sich als Mutterhäuser“ (Ulmer 2009), wenn auch weit mehr „weltlicher“ an der Rechtsform des Vereins orientiert (Steppe 1997: 251)
Vorläufer des Schwesternhauses in der Bornheimer Landwehr
Schon neben dem alten Hospital der jüdischen Gemeinde in der Königswarterstraße mietete 1893 der neu gegründete Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt e. V. „eine erste Unterkunft, das ,Häuschen‘“ Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main 1920: 19). Im Jahresbericht des Vereins für 1897 lassen sich die Lebensbedin-gungen im Vereinshaus nachlesen: Eine Lernschwester, die sich verpflichtete, nach Vollendung der Ausbildungszeit mindestens weitere drei Jahre dem Verein anzugehören, wird „unter die Vereinsschwestern aufgenommen, erhält völlig freie Station (Wohnung, Kost, Heizung, Beleuchtung, Dienstkleidung, Wäsche) im Vereinshause und in den ersten zwei Jahren 360 Mk. jährliches Gehalt, das von da ab alle zwei Jahre um 60 Mk. bis zum Höchstgehalt von 600 Mk. steigt. Dienstunfähig gewordene Pflegerinnen erhalten eine angemessene Pension“ (Rechenschaftsbericht 1897: 449). In diesem Rechenschaftsbericht wird auch darauf hingewiesen, dass das angemietete Schwesternhaus nicht mehr ausreichte, und man zu Spenden für ein neues eigenes Haus aufrief. 1898 verließen die Schwestern die bisher vom israelitischen Gemeindehospital überlassene Wohnung „Am Thiergarten“ und bezogen vorübergehend ein provisorisches Heim in der „Unteren Atzemer 16“ (vgl. Jahresbericht 1899: 4). 1899 wurde ein Grundstück neben dem Königswarter Hospital angekauft. Nach einem Ausschreibungsverfahren erhielt der Architekt Max Seckbach den Zuschlag für einen Neubau des Schwesternhauses (vgl. Jahresbericht 1900: 4). 1902 schließlich zogen die Schwestern in das neue Gebäude in der Königswarterstraße 20 um. Über die Architektur, die Inneneinrichtung und vor allem das Leben in diesen ersten Schwesterhäusern wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt recht wenig. Viel mehr Informationen haben wir über das Schwesternhaus, welches 1914 in der Bornheimer Landwehr 85 neu eröffnet wurde.[
Die Einweihungsfeier
Nachdem die jüdische Gemeinde beschlossen hatte, einen neue Klinik in der Gagernstraße 36 neu zu erbauen, plante auch der Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main für sein Schwesternhaus einen Neubau in der Bornheimer Landwehr 85, direkt neben dem neuen Gemeindehospital. Als Architekt wurde, wie für das Hospital, Franz Roeckle beauftragt.
Am 10. Mai 1914 fand die Einweihung des Gebäudes statt, Vertreter der Behörden und „weitere Kreise“ waren wegen des beengten Platzes nicht geladen. Versammelt waren jedoch die aktiven und viele der älteren Schwestern, die dem Verein zum Teil schon gar nicht mehr angehörten. Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, die Ärzte des Krankenhauses und Vertreter des Pflegamtes waren anwesend. Vertreter des Dachverbandes Jüdischer Krankenpflegevereine (DVJK) waren ebenfalls dabei.
Im Namen der Verwaltung hielt Theodor Schlesinger eine Ansprache, aus der hier ein kurzer Ausschnitt wiedergegeben ist: „Und nun, liebe Schwestern, übergebe ich Ihnen namens der Verwaltung dieses Haus zum Besitz, und der erste Wunsch, den ich an dieser Stelle ausspreche, ist: Seid darin glücklich! Seid glücklich in der Betätigung der edelsten und reinsten Menschliebe! Seid glücklich in der Befriedigung, welche Euch Euer herrlicher Beruf gewährt! Seid glücklich in dem Gefühl der schwesterlichen Zusammengehörigkeit, das Schwester zu Schwester verbindet!“ Nicht ohne gleich eine Mahnung hinterherzuschicken: „Und halten Sie dieses Haus rein und blank zum sichtbaren Merkzeichen dafür, daß der Ehrenschild einer jüdischen Schwester allezeit rein und blank gehalten werden muß. Vergessen Sie nicht, liebe Schwestern, daß, was persönlichen Takt anlangt, der viel angefeindete und viel beobachtete Jude und die jüdische Schwester besonders einwandfrei dastehen muß“ (Rechenschaftsbericht 1920: 12).
Anlässlich dieser Feier wurde auch das 20jährige Dienstjubiläum der Schwester Oberin begangen. Traditionell wurde eine besondere Brosche entworfen. Minna Hirsch wurde dieses Abzeichen verliehen, es zeigte: „im Schild Davids eine brennende Lampe als Sinnbild der Klugheit und Treue“ (Rechenschaftsbericht 1920: 15).
Das Schwesternhaus in der Bornheimer Landwehr
Dem neu eröffneten Haus widmete die Frankfurter Zeitung am 31. Mai 1914 folgenden Artikel, der hier, wegen seiner Anschaulichkeit, in voller Länge wiedergegeben wird: „Folgender Gesichtspunkt war vor dem Bau maßgebend: die Schwestern sollen außerhalb der Dienstzeit vom Krankenhausmilieu vollständig losgelöst werden. Daher sind für fast sämtliche Schwestern Schlafräume im Schwesternhaus selbst geschaffen. Die Mahlzeiten werden gleichfalls sämtlich im Schwesternhaus eingenommen. Dem Wohnzimmer und dem Speisezimmer ist eine große Terrasse vorgebaut, damit in den Sommermonaten die Mahlzeiten im Freien eingenommen werden können, und damit dies auch bei Regenwetter geschehen kann, ist ein Teil der Terrasse überdeckt. Auch in den oberen Stockwerken befinden sich eine große Terrasse und Loggien. Das Haus ist für 58 Schwestern eingerichtet und enthält im Erdgeschoß außer Speisezimmer und Wohnzimmer Vorhalle, Lesezimmer und Unterrichtsraum. In einer ganz für sich abgeschlossenen Abteilung mit besonderem Eingang schon von der Straße aus sind Zimmer und Baderäume für die in infektiöser Pflege beschäftigten Schwestern vorgesehen. Die beiden Obergeschosse enthalten die Schwestern-Schlafräume mit einem Bett und mit zwei Betten. Im Dachgeschoß befinden sich die Zimmer für die Lehrschwestern und für das Dienstpersonal. Außerdem ist dort ein besonderer Trakt für die Nachtschwestern vorhanden. Schwestern, die eine Nachtwache gehabt haben, dürfen am Tag nicht in ihren eigenen Zimmern schlafen, sondern müssen sich ihrer absoluten Ruhe wegen in diese Zimmer begeben, die besonders schalldicht hergestellt sind. In allen Abteilungen des Hauses befinden sich in reichlichem Maße zweckmäßig eingerichtete Bade- und Doucheräume, Aufenthaltsräume sowie Schlafräume sind mit einer wohnlichen Behaglichkeit ohne jeden Luxus ausgestattet.
Auch architektonisch bedeutet das nach den Plänen des Architekten Franz Roeckle und unter der Bauleitung des Architekten Voggenberger errichtete Gebäude eine Zierde der ganzen neuen Krankenhausanlage der Israelitischen Gemeinde. Von den bereits erwähnten Terrassen aus gelangt man in einem großen, einfach angelegten Garten, in dem sich die Schwestern erholen sollen. Von dem kleinen Türmchen auf dem Dach, das gleichzeitig als Liegehalle für Rekonvaleszentinnen gedacht ist, genießt man eine herrliche Aussicht auf das Maintal, den Ostpark, die umliegenden Höhen und die Gebirgszüge des Taunus und des Odenwaldes. Alles ist darauf eingerichtet, daß die Schwester in ihrem Haus von den großen Anstrengungen des Berufs nicht nur körperliche, sondern auch geistige Erholung findet“ (Frankfurter Zeitung 1914).
Eine besondere Episode zum Thema „Entspannung“ erzählte in einem Interview Schwester Thea Levinsohn-Wolf über ihre Zeit im Schwesternhaus als Lehrschwester 1927: „Dann kam ich in ein sehr schönes Zimmer. Drei Plätze im Zimmer. Wir hatten uns auch sofort angefreundet, ist ja ganz klar. Und unser größtes Vergnügen war, dass wir so oft wie wir wollten, nach der Arbeit in die Badewanne hineinsteigen konnten. Da hatten noch längst nicht alle Eltern in ihrer Wohnung eine Badewanne, nicht wahr. Dann, wenn keine Aufsicht da war, da hatte immer irgendeine einen Regenschirm dabei und da haben wir den Regenschirm aufgemacht und die Dusche plästerte zu unserem größten Vergnügen.“ (Levinsohn-Wolf 2000: 14:00f.)
Die Regeln des Zusammenlebens
Während das obige Zitat von Thea Levinsohn für eine gewisse Ausgelassenheit im Haus spricht, so gab es doch vor allem auch recht strenge Regeln. Hierzu nochmals Thea Levinsohn-Wolf: „Fünf Jahre mussten wir zu der Schwesternorganisation gehören. Auch, wenn es vorkam, dass, „Gott behüte“ – wie man sagte, eine von den Schwestern sagte: „Du, ich habe einen Freund“, wenn sich das rumgesprochen hatte, wurden die Eltern von der Schwester gerufen und ihnen wurde gesagt „nehmen Sie Ihre Tochter wieder mit“. Das war nicht erlaubt. 10 Uhr abends ging das Licht aus, eine Schwester machte die Runde, um zu gucken, ob wir alle schlafen. Wir durften keinen „Bubikopf“ tragen – nennt man das heute noch so, wenn die Haare abgeschnitten sind? Und die Nachtschwester, unsere Hauben mussten wir auf das Nachttischchen legen, und die Hausschwester achtet darauf, dass die Haube daneben lag und man keinen Bubikopf oder künstlichen Zopf gefunden hat. Um viertel vor fünf wurden wir geweckt“ (Levinsohn-Wolf 2000: 15:15f.).
Die Leitung des Hauses blieb auch nach dem Umzug 1914 bei der Schwester Oberin Minna Hirsch. Bis 1925 behielt sie diese Position, zusammen mit dem Oberinnenposten im Krankenhaus. Nach ihrer Pensionierung folgte Sara Adelsheimer, die sich die Leitung mit Julie Glaser, der Oberin des Krankenhauses, teilte. Bis zum heutigen Zeitpunkt kennen wir die Namen von ca. 350 Schwestern, die in den Jahren 1893 bis 1940 im Verein organisiert waren und vermutlich alle auch in einer der Unterkünfte des Vereins wohnten.
1939 – 1940
Für die Jahre 1939 und 1940, die letzten Jahre des Vereinslebens im Schwesternhaus, möchte ich hier, parallel zur allgemeinen Entwicklung, einen Ausschnitt aus der Biographie von Schwester Irene Ettlinger (später verheiratete Lewis) wiedergeben, um die Ereignisse um das Schwesternhaus zu unterstreichen.
Irene Ettlinger kam Anfang Februar 1939 als 19jährige Lernschwester in das Schwesternhaus. Zu dieser Zeit war die offizielle Berufsbezeichnung: „Jüdische Krankenschwester“. Der Beruf der „Jüdischen Krankenschwester“ war einer der wenigen, die für Juden überhaupt noch erlaubt waren (vgl. Elkin 1993: 35f.). Ihn zu erlernen, war eine Möglichkeit sich auf eine Beschäftigung im Ausland, für den Fall der Emigration, vorzubereiten. Durch die vielfache Auswanderung jüdischer Deutscher gab es in den Krankenhäusern einen massiven Fachkräftemangel, sodass im Frühjahr und Sommer 1939 intensiv für den Krankenschwesternberuf geworben wurde. In Berlin hatte der Gemeindevorstand, der zunächst eine beschleunigte Emigration auch für Ärzte und Schwestern empfohlen hatte, in einem Schreiben im Juni 1939 dazu aufgerufen zu bleiben, um die Abläufe in den Krankenhäusern aufrecht zu erhalten. In dem Rundschreiben wurde das Bleiben als ungefährlich bezeichnet, da die Fortsetzung des Krankenhausbetriebs im Sinne der staatlichen Behörden sei (ebd.: 37). Für Irene Ettlinger war der Schwesternberuf der nächstbeste Berufswunsch, nach dem ihr als Jüdin ein Chemiestudium verwehrt blieb.
Im Schwesternhaus bzw. im jüdischen Krankenhaus, wurden auch immer mehr Menschen aufgenommen, „die dort Schutz suchen und teilweise auch zur Sicherheit vorgeblich als Krankenpflegerinnen oder Schülerinnen aufgenommen“ wurden (Steppe 1997: 245, nach ISG S 3 N 11.477, S. 84).
1940 wurden die jüdischen Vereine aufgelöst, so auch der Verein für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main. Irene Ettlinger musste am 19.11.1940 das Schwesternwohnhaus verlassen und in das Krankenhaus der Gemeinde umziehen. Im Herbst 1941 begannen die Deportationen in den Osten, und eine Emigration wurde unmöglich. Im Jahr 1941 waren im Krankenhaus 373 Patientinnen und Patienten, ca. 130 Angestellte und 49 „Lehrschwestern“ untergebracht (vgl. Steppe 1997: 245). Irene Ettlinger wurde im September 1942 von der Geheimpolizei verhaftet und nach Estland deportiert (vgl. HHStA Abt. 518 Nr. P 2749/07). Sie überlebte die Schoah.
Wie das Krankenhaus wurden das Grundstück und das Gebäude des Schwesternhauses am 1.4.1939 „arisiert“. Für einen Preis von 124.000 RM übernahm die Stadt Frankfurt die Liegenschaft. Dem Verein wurde für drei Jahre, gegen 5 v. H. des Kaufpreises, das sind 7.100 RM jährlich, die Nutzung überlassen (vgl. ISG FFM). Im November 1940 folgte die Zwangsräumung des Schwesternhauses, die noch verbliebenen Bewohner/innen mussten in das Krankenhaus umziehen. Nutznießerin war die Frankfurter Universitätsklinik, die im Schwesternhaus eine Infektionsabteilung ihrer Kinderklinik einrichtete. Beim Bombenangriff am 4. Oktober 1943 wurde das Schwesternhaus getroffen, und im Luftschutzkeller starben viele Kinder, Krankenschwestern und Ärztinnen der Uniklinik (vgl. Steppe 1997: 245ff.).
In den Nachkriegsakten wurde die Liegenschaft als „total zerstört“ geführt. In den Unterlagen der hessischen Vermögenskontrollstelle vom 13. Juli 1948 heißt es, dass nach dem Gesetz Nr. 52 Art. I,2 (Vermögen, das vermutlich unter Zwang den Eigentümer wechselte) in der Bornheimer Landwehr 85 das 5stöckige Krankenhaus, mit 2.607 qm Grund, der Beaufsichtigung der Militärregierung unterliegt. Zum Treuhänder wurde Heinz-Herbert Karry, der spätere Politiker, Friedberger Anlage 8, Frankfurt/Main ernannt (vgl. HHStA).
Am 9. Mai 1955 stellt die JRSO (Jewish Restitution Successor Organization) den Antrag auf Aufhebung der Vermögenskontrolle und auf Abberufung des Treuhänders. Das Vermögen wurde an die Antragstellerin zurückerstattet. Am 18. Mai 1955 wurde das Vermögen freigegeben (vgl. HHStA).
Edgar Bönisch 2015
Unveröffentlichte Quellen