Jüdische Pflege- geschichte

Jewish Nursing History

Biographien und Institutionen in Frankfurt am Main

Vorgestellt: „Jüdische Pflegegeschichte“ im Haus am Dom

Vortrag

Jüdische Pflegegeschichte in Frankfurt

(Evi Ulmer, Birgit Seemann, Edgar Bönisch, AK Jüdische Pflegegeschichte)

Freitag, 30. Oktober 2020, 19.30-21.00 Uhr

Unser Vortrag im Haus am Dom (Domplatz 3) ist eingebunden in die spannende und vielfältige Tagung „War da was?“ Frankfurt am Main im Nationalsozialismus am 30. und 31. Oktober. Veranstalter ist das Frankfurter Netzwerk für Erinnerungskultur in Kooperation mit dem Haus am Dom: https://hausamdom-frankfurt.de/beitrag/30-und-311020-war-da-was-frankfurt-am-main-im-nationalsozialismus

„Deine Dir gute Obeli“ – Frankfurter jüdische Krankenschwestern in der Kinder- und Säuglingspflege

Der Beitrag erinnert an die in der Kinder- und Säuglingspflege aktiven Schwestern des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen – zugleich ein vergessener Teil der Frankfurter Pflege- und Sozialgeschichte. Unter Anleitung von Oberin Minna Hirsch arbeiteten Johanna Beermann und Anna Ettlinger in der Säuglingsberatung des Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde und in der Säuglings-Milchküche im benachbarten jüdischen Schwesternhaus. Rosa (Goldstein) Fleischer leitete die Kostkinderkommission. Alle drei Einrichtungen halfen jüdischen wie nichtjüdischen Müttern und Kindern. Zum Erfolg des überkonfessionell mit hoher jüdischer Beteiligung gegründeten Frankfurter Verbands für Säuglingsfürsorge, dessen Einsatz viele Kinderleben rettete, trug auch der engagierte Pflegedienst von Betty Schlesinger, Doris Unger, Else Unger, Dina Wolf und Babette Zucker bei.

„Obeli“ – so nannten die kleinen Bewohnerinnen und Bewohner des Kinderhauses des jüdischen Frauenvereins ,Weibliche Fürsorge‘ ihre soziale Mutter: Oberin Frieda (Frida) Amram, ebenfalls Mitglied des Schwesternvereins und drei Jahrzehnte lang die Leiterin des Kinderheims. Am ehemaligen Standort Hans-Thoma-Straße 24 im Stadtteil Sachsenhausen ist der ,Platz der vergessenen Kinder‘ mit dem in Frankfurt einzigartigen ,Dreidel‘-Mahnmal heute ein eindrucksvoller Gedenkort.

Einführung

„Deine Dir gute Obeli“ trug Frieda Amram, die Leiterin des Kinderhauses des jüdischen Frauenvereins ,Weibliche Fürsorge e.V.‘ im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen, am 25. Dezember 1939 in das Poesiealbum von Inge Grünwald ein – zum Abschied, denn noch am gleichen Tag zwang die NS-Verfolgung die neunjährige Schülerin, nur von ihrem 16-jährigen Cousin begleitet, ihre Heimatstadt Frankfurt am Main zu verlassen und in das ferne Uruguay zu emigrieren (zit. nach Mahnkopp 2020: 26; siehe auch Maierhof 2004). Mit dem liebevollen Kosewort „Obeli“ für „Oberin“ bedachten die kleinen Bewohnerinnen und Bewohner des Kinderhauses ihre soziale Mutter Frieda Amram: Drei Jahrzehnte lang sorgte die ausgebildete Krankenschwester im Auftrag des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen für verwaiste, vernachlässigte und zuletzt NS-bedrohte jüdische Kinder und schuf ihnen einen Ort der Geborgenheit – eine Lebensaufgabe, die erst NS-Verhaftung und Deportation gewaltsam beendeten.

Der Artikel erinnert an Oberin Frieda (Frida) Amram (1885–1942) und ihre in der Frankfurter Kinder- und Säuglingspflege aktiven Kolleginnen vom Verein für jüdische Krankenpflegerinnen – zugleich ein vergessener Teil der Frankfurter Pflege- und Sozialgeschichte: Die Schwestern arbeiteten in der Geburtshilfestation und der Säuglingsberatung des Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde (Königswarterstraße 26, seit 1914: Gagernstraße 36), in der Säuglings-Milchküche im benachbarten jüdischen Schwesternhaus (Königswarterstraße 20, seit 1914: Bornheimer Landwehr 85) für den Frankfurter Verband für Säuglingsfürsorge und sehr wahrscheinlich auch im Rothschild‘schen Kinderhospital der neo-orthodoxen Israelitischen Religionsgesellschaft (vgl. Seemann 2016). Im „Böttgerheim“ leisteten sie vermutlich keinen Dienst, da diese von dem jüdisch geborenen und zum Christentum konvertierten Ehepaar Auguste (1839–1909) und Fritz Gans (1833–1920) errichtete Kinderklinik mit Säuglingsheim in der Böttgerstraße eigene Absolventinnen ausbildete (vgl. Gans/ Groening 2008; JüdPflege; ISG Ffm: Wohlfahrtsamt). Ähnlich verfuhr das von Bertha Pappenheim (1859–1936) geleitete Kinderheim des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg bei Frankfurt (vgl. Gedenkbuch JB Neu-Isenburg). Im wie das Böttgerheim überkonfessionellen Clementine Kinderhospital, das die jüdische Stifterin Louise von Rothschild (1820–1894) mitbegründet hat, pflegten christliche Schwestern (vgl. Reschke 2012; JüdPflege).

Zum Forschungsstand

Die Kinder- und Säuglingskrankenpflege ist ein eigenständiger und vielseitiger Ausbildungsberuf (vgl. einführend Hoehl/ Kullick (Hg.) 2019; siehe auch Wikipedia: Kinderkrankenpflege). Gleichwohl liegen hierzulande noch immer zu wenige neuere Studien vor, die die Geschichte dieses Teilgebiets der Krankenpflege näher beleuchten (vgl. z.B. Blessing 2013; siehe auch Fontanel/ Harcourt 1998; Dill 1999; Chamberlain 2000; Frenken 2011). Sehen wir von Eduard Seidlers wegweisender Publikation (vgl. Seidler 2007;  DGKJ Datenbank; siehe auch Livnat/ Tobias 2012ff.; Ärztinnen im Kaiserreich 2015) zu NS-verfolgten jüdischen Kinderärztinnen und -ärzten ab, betrifft das Forschungsdesiderat auch Biografien aus der Kinder- und Säuglingskrankenpflege, insbesondere des Pflegepersonals und seinem in der Shoah vernichteten jüdischen Anteil. Im Folgenden wird in die noch weiter zu erforschende Kinder- und Säuglingskrankenpflege des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main eingeführt. Wegen der Querverbindungen in der Tätigkeit jüdischer Krankenschwestern zur Krankenfürsorge und Sozialen Arbeit wird hier der die Krankenpflege einschließende Oberbegriff der Kinder- und Säuglingspflege verwendet.

Für das Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde (Gagernstraße) und die beiden Rothschild‘schen Spitäler (Röderbergweg) ist der Kenntnisstand zu den Kinder- und Säuglingsschwestern infolge der in der Shoah ,verschollenen‘ Personalakten höchst lückenhaft. Aus der Anonymität NS-ausgelöschter Erinnerung bekamen dank der Recherchen (vgl. die Internetseite ,Vor dem Holocaust, Rubrik: Arbeit/ Krankenschwestern, online erreichbar über das Netzwerk des Fritz Bauer Instituts: https://www.fritz-bauer-institut.de [01.11.2021]) der Historikerin Monica Kingreen Pflegende wie Schwester Selma und Schwester Gisela wieder ein ,Gesicht‘: Selma Sonnenberg (Lebensdaten unbekannt) wurde 1916 im Frankfurter jüdischen Schwesternverein ausgebildet und arbeitete um 1920 im Krankenhaus Gagernstraße. Bei Gisela (Familienname und Lebensdaten unbekannt), dort 1933 Säuglingspflegerin, handelt es sich möglicherweise um Gisela Schwarz, geboren am 19. Juli 1895 in Berlin, am 10. Oktober 1928 nach Frankfurt a.M. in  das Krankenhaus Gagernstraße eingezogen, am 12. Juli 1939 von den Nationalsozialisten nach England vertrieben (ISG Ffm: HB 686, Bl. 56).

Der Frankfurter jüdische Schwesternverein im Rettungseinsatz für Kinder

„Gegründet 1907. Zweck: a) Verabreichung trinkfertiger Säuglingsnahrung nach ärztlicher Verordnung in solchen Fällen, in denen nach ärztlicher Aussage nicht gestillt werden kann; b) Unterstützung Stillender“, lautete satzungsgemäß das Aufgabengebiet der im Frankfurter jüdischen Schwesternhaus am damaligen Standort Königswarterstraße 20 eingerichteten Säuglings-Milchküche (zit. n. Schiebler 1994: 166). Diese „sozialfürsorgerische Initiative“ kam jüdischen wie nichtjüdischen Hilfesuchenden zugute und sollte „vor allem die Säuglinge armer Mütter aller Konfessionen mit gesunder und hygienisch hergestellter Kleinkindnahrung“ versorgen (Steppe 1997: 209) – eine dringend notwendige Maßnahme, die zahlreiche Kinderleben rettete: So waren im Zeitraum 1891–1900 von 100 in Frankfurt am Main geborenen Säuglingen 16 Prozent bereits im ersten Lebensjahr verstorben (vgl. ISG Ffm: Thomann-Honscha 1988: 83). Die häufigste Todesursache resultierte aus Krankheiten der Verdauungsorgane wegen armutsbedingter Mangel- und Fehlernährung, gefolgt von Tuberkulose und Atemwegserkrankungen.

Oberin Minna Hirsch: Leiterin der Säuglingskommission der Weiblichen Fürsorge e.V.

Die Säuglings-Milchküche war ein Projekt der ,Säuglingskommission‘ des ,Verein[s] der Weiblichen Fürsorge – Israelitischer Frauenverein zur Förderung gemeinnütziger Bestrebungen‘. Die ,Weibliche Fürsorge‘ umfasste eine maßgeblich von den Frankfurter jüdischen Sozialreformerinnen und Frauenrechtlerinnen Bertha Pappenheim (1859–1936) und Henriette Fürth (1861–1938) errichtete Abteilung des Israelitischen Hilfsvereins, der die jüdische Armenpflege und Sozialarbeit koordinierte (vgl. Pappenheim 1920; siehe auch Fürth 2010). Den Vorsitz der Säuglingskommission übernahm mit Minna Hirsch (1860–1938) die erste Oberin des Frankfurter jüdischen Schwesternhauses und Krankenhauses. Hier deuten sich – insbesondere durch Oberin Minna Hirsch, zugleich Mitglied des Vorstands der ,Weiblichen Fürsorge‘ und vermutlich auch des Vorstands des Frankfurter Ortsvereins des Jüdischen Frauenbundes (vgl. Anonym. 1905: 4; Klausmann 1997: 160, 178; siehe auch Kaplan 1981; Schröder 2001) – Verbindungen der beruflichen jüdischen Krankenpflege zur bürgerlich-jüdischen Frauenbewegung im Kaiserreich an. Um 1903 arbeitete die Säuglingskommission unter Minna Hirschs Vorsitz „mit 9 Damen und beaufsichtigte 40 Kinder (darunter 3 uneheliche), die größtenteils aus der Freiherrlich von Rothschild‘schen Stiftung mit Milch versorgt wurden“; zudem ergab das Zusatzangebot der „Wägung der Kinder“ im israelitischen Gemeindehospital (Königswarterstraße, ab 1914 Gagernstraße) „sehr befriedigende Resultate“ (zit. n. Anonym. 1905: 3).

Rosa (Goldstein) Fleischer: Leiterin der Kostkinderkommission

Vermutlich im Jahr 1902 übertrug der Verein für jüdische Krankenpflegerinnen seiner Armenschwester Rosa Goldstein die Leitung der Kostkinderkommission und unterstützte damit ein weiteres Projekt der ,Weiblichen Fürsorge‘: „Hier werden Kinder ab einem Alter von etwa zwei Jahren, die entweder Waisen sind oder in ihren Familien zu verwahrlosen drohen, in Pflegefamilien in und um Frankfurt vermittelt und regelmäßig besucht“ (vgl. Steppe 1997; siehe auch Fürth 1898; ISG Ffm: Thomann-Honscha 1988). Wie die Säuglingskommission arbeitete auch die Kostkinderkommission mit neun ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen. Für die Jahre 1903 und 1904 berichtet die Allgemeine Zeitung des Judentums:

„Sie [die Kostkinderkommission, B.S.] beaufsichtigte 19 Kinder (darunter 5 uneheliche), die teils in Frankfurt, teils auf dem Lande in Familienpflege untergebracht sind. Jedes Kind wird von der beaufsichtigten [sic!] Dame mindestens viermal im Jahre besucht. Die Kostkinderkommission arbeitet vielfach gemeinsam mit dem Almosenkasten der israelitischen Gemeinde und dem Armenamte, sofern es sich um die Bewilligung der Pflegegelder handelt“ (Anonym. 1905: 3).

Rosa (Goldstein) Fleischer, ohne Jahr (um 1925) – © Credit of Yad Vashem, Hall of Names, Page of Testimony for Rosa Fleischer

Der Leiterin der Kostkinderkommission selbst war die unsichere Existenz eines elternlosen Pflegekindes nur allzu bekannt: Geboren am 21. Januar 1874 in Göppingen (Baden-Württemberg), verlor Rosa Goldstein frühzeitig ihre Eltern sowie drei Geschwister, die „schon als Säuglinge starben“ (Maier-Rubner 2016). Der Vater Martin Goldstein (1847–1928, vgl. Geni), Textilkaufmann und bis 1881 Inhaber eines Herrenbekleidungsgeschäfts in Göppingen, verließ seine Familie und wanderte nach England aus. Ihre Mutter Sofie geb. Fleischer (1851–1888, vgl. Geni) starb unter ungeklärten Umständen in Karlsruhe, als Rosa 14 Jahre jung war. Vermutlich kam sie mit ihren Schwestern Julie, Emilie und Helene bei Verwandten unter. Um auf eigenen Füßen zu stehen, erkämpfte sich Rosa Goldstein einen der begehrten Ausbildungsplätze des Frankfurter Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen. Nach erfolgreichem Abschluss bewährte sie sich in der Privat- und Armenpflege, weshalb ihr der Schwesternverein um 1902 die Leitung der Kostkinderkommission übertrug. Doch schied Rosa Goldstein 1903 oder 1904 nach fast zehnjähriger Pflegetätigkeit wieder aus dem Frankfurter jüdischen Schwesternverein: Sie kehrte nach Göppingen zurück und heiratete im November 1904 ihren (entfernten) Verwandten Leopold „Moritz“ Fleischer (1869–1938, vgl. Geni). Rosa Fleischers neuer Lebensmittelpunkt wurde Cannstatt (heute Bad Cannstadt, Stadtbezirk von Stuttgart, vgl. zur jüdischen Geschichte Alemannia Judaica Bad Cannstadt), wo ihr Ehemann als Prokuristbei der ,Mechanischen Gurten- und Bandweberei Gutmann und Marx‘ angestellt war. In Cannstadt kamen 1906, 1909 und 1918 die drei gemeinsamen Kinder Edgar Siegfried, Sofie Gabriele und Elsbeth Beate zur Welt. Im Ersten Weltkrieg hielt sich Rosa Fleischer möglicherweise für einige Zeit in Frankfurt auf, um ihre früheren Kolleginnen zu unterstützen: So erwähnen zwei Jahresberichte des Frankfurter Vereins für Säuglingsfürsorge eine Schwester „Rosa“ (ohne Angabe des Familiennamens, vgl. Jahresbericht FVfS 1914 u. 1915: 3).

Rosa Fleischers von NS-Verfolgung und schweren Schicksalsschlägen belasteten letzten Lebensjahre führt uns der Göppinger Lokalhistoriker Klaus Maier-Rubner eindrucksvoll vor Augen. Die Familiengeschichte Goldstein/ Fleischer hat er mit Hilfe überlebender Nachkommen rekonstruiert (vgl. ders. 2016 u. 2017): So litt Rosa Fleischer noch zu Lebzeiten ihres Ehemannes Leopold (gest. 1938) an Diabetes, eine Erkrankung, die zu ihrer Erblindung führte. Zwei ihrer inzwischen erwachsenen Kinder, die sie im südamerikanischen Exil sicher glaubte, kamen durch tragische Unfälle ums Leben, nur die mittlere Tochter Sofie Gabriele erlebte in England das Ende des Naziherrschaft. Rosa Fleischer selbst, welche „nach außen hin erstaunlich gefasst blieb, wie mehrere Aussagen bekräftigen“ (Maier-Rubner 2016), wurde am 22. August 1942 nach Theresienstadt deportiert. Ihr tapferes Leben endete am 12. Dezember 1942 im Lager. Seit dem 25. November 2011 erinnert in Göppingen, Lutherstraße 11, ein ,Stolperstein‘ an Rosa Fleischer.

Anna Ettlinger und Johanna Beermann: Leiterinnen der Säuglings-Milchküche

Zur ersten Leiterin der Säuglings-Milchküche bestimmte der Frankfurter jüdische Schwesternverein 1907 seine bewährte Pflegende Anna Ettlinger (vgl. Rechenschaftsbericht Jüdischer Schwesternverein Ffm 1920: 60). Ihre biografischen Daten sind bislang nicht geklärt, doch hat Hilde Steppe (1997: 209) recherchiert, dass sie ihre Ausbildung 1894, im gleichen Jahr wie Rosa (Goldstein) Fleischer, abschloss und danach vorwiegend in der Privatpflege arbeitete. Im Zeitraum ihrer Leitungsfunktion in der Säuglings-Milchküche wurde Anna Etttlinger 1910 für ein Jahr Oberin des Genesungsheims der Eduard und Adelheid Kann-Stiftung zu Oberstedten (Oberursel). Ende 1914 wurde sie pensioniert und von ihren Vorgesetzten mit großem Lob bedacht: „Sie hat dem Verein 20 Jahre sehr gute Dienste geleistet. Besonders verdienstlich hat sie in den letzten acht Jahren die Säuglings-Milchküche geleitet und sich hierbei als außerordentlich tüchtig und pflichttreu bewährt“ (zit. n. Rechenschaftsbericht Jüdischer Schwesternverein Ffm: 60).

Anna Ettlingers Nachfolgerin Johanna Beermann arbeitete vermutlich bereits 1913 in der Säuglings-Milchküche mit. Am 27. April 1914 zog sie vom alten Schwesternhaus Königswarterstraße 20 in das im Mai offiziell eröffnete Schwesternhaus Bornheimer Landwehr 85. Ob die Milchküche in das neue Schwesternhaus oder in den benachbarten Neubau des Krankenhauses Gagernstraße wechselte, lässt sich bislang nicht klären. Johanna Beermann – auch: Johanette/ Johannetta/ Janette/ Jeanette Bermann – gehörte wie ihre Oberin Minna Hirsch zu den jüdischen Krankenschwestern der ,ersten Stunde‘ und widmete ihr gesamtes Leben der Pflege. Geboren am 10. Juli 1863 in Wittlich (Rheinland-Pfalz), stammte sie aus der Südeifel. Nach ihrer Ausbildung (1895) am Jüdischen Krankenhaus Köln wurde sie 1896 Mitglied des Frankfurter Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen. Der Schwesternverein setzte sie im Israelitischen Krankenhaus Hamburg, im Israelitischen Spital zu Basel, in der Privat- und Armenpflege sowie zwischen 1910 und 1912 im Frankfurter Verband für Säuglingsfürsorge ein (vgl. Jahresberichte FVfS 1911: 6 u. 1912: 5). Die Säuglings-Milchküche leitete Johanna Beermann im Ersten Weltkrieg unter erschwerten Personalbedingungen: Trotz des hohen Einsatzes in Lazarett und Etappe wurden vom Frankfurter jüdischen Schwesternverein „vor allem die Tätigkeitsfelder in sozialfürsorgerischen Bereichen in Frankfurt die ganze Kriegszeit hindurch aufrecht erhalten, wie die in der Säuglingsmilchküche, im Frankfurter Verband für Säuglingsfürsorge und im Kinderhaus der Weiblichen Fürsorge“ (Steppe 1997: 218). Zum Vorstand der Säuglings-Milchküche gehörten im Kriegsjahr 1917 als „Kassiererin“ (Schatzmeisterin) Bertha Pappenheim (vgl. Schiebler 1994: 166) und als Vorsitzender der praktische Arzt Dr. Adolf Deutsch (1868–1942, vgl. JüdPflege), Leiter der Poliklinik des jüdischen Krankenhauses Gagernstraße und stellvertretender Vorsitzenden des jüdischen Schwesternvereins. Am 1. November 1920 wurde Johanna Beermann pensioniert, sie nahm ihr Wohnrecht im Frankfurter jüdischen Schwesternhaus wahr. Zu diesem Zeitpunkt ahnte sie noch nicht, dass sie zwanzig Jahre später, am 19. November 1940, ihren Alterssitz durch die nationalsozialistische Zwangsräumung des Schwesternhauses verlieren würde: Zusammen mit ihren Kolleginnen wurde sie in das Krankenhaus Gagernstraße einquartiert. Angesichts der drohenden Verschleppung in ein Konzentrations- oder Vernichtungslager – ihre ältere Schwester Babette Bermann/ Beermann (geb. 15.10.1859 in Leiwen) und weitere Angehörige waren bereits deportiert worden (vgl. Bühler/ Bühler 1993; siehe auch Alemannia Judaica Wittlich) – nahm sich die 77jährige Johanna Beermann am 23. August 1942 das Leben. Beerdigt wurde sie als „Janette Bermann“ auf dem neueren Jüdischen Friedhof Eckenheimer Landstraße (Diamant 1983: 6).

Grabstein für Janette Bermann (d.i. Johanna Beermann) auf dem Frankfurter Jüdischen Friedhof Eckenheimer Landstraße – © Dr. Birgit Seemann, 2018

Der Frankfurter Verband für Säuglingsfürsorge – eine ,Erfolgsstory‘ auch für die jüdische Krankenpflege

Dem von der ,Weiblichen Fürsorge‘ neu eingerichteten ,Ausschuß für Säuglingsfürsorge‘ stellte der Verein für jüdische Krankenpflegerinnen im Herbst 1910 eine Schwester „kostenlos zur Verfügung“ (Steppe 1997: 210). Der Ausschuss gehörte zu den Vorläufern des durch sein vorbildliches Wirken später auch überregional bekannten Frankfurter Verband für Säuglingsfürsorge (vgl. Rosenhaupt 1912; Thomann-Honscha 1988). Am 8. Dezember 1910 gründete er sich als eine überkonfessionelle Vereinigung vieler Einzelpersonen und Institutionen. Seine Errichtung verdankte er primär jüdischen Mitgliedern des Frankfurter Ärztlichen Vereins, allen voran dem Kinderarzt Dr. Heinrich Rosenhaupt (1877–1944, vgl. Kallmorgen 1936: 388; DGKJ Datenbank) in Kooperation mit dem bereits erwähnten Dr. Adolf Deutsch sowie dem Sozialmediziner und Kommunalpolitiker Dr. Wilhelm Hanauer (1866–1940, vgl. Daub 2015; Elsner 2017). Zwei der drei weiblichen Kollegen in den am 1. Januar 1911 eröffneten neun Beratungsstellen des Verbands – namentlich Dr. Käthe Neumark (1871–1939, vgl. Seidler 2007; Ärztinnen im Kaiserreich 2015, DGJK Datenbank), vor ihrem Medizinstudium selbst Krankenschwester des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins, und Dr. Paula Philippson (1874–1949, vgl. ebd.) – waren ebenfalls jüdisch, die dritte, Dr. Käthe Kehr (1874–1926, vgl. Ärztinnen im Kaiserreich 2015), evangelisch. Um auch hilfsbedürftige Mütter und ihre Säuglinge zu unterstützen, die das Beratungsangebot nicht erreichte, wurden in den Stadt- und Armenbezirken (vgl. für den heutigen Stadtteil ,Gallus‘ Roos 2017) jüdische, katholische und evangelische Krankenschwestern eingesetzt. Der im Vergleich zu den anderen konfessionellen Schwesternvereinigungen personell weitaus geringer ausgestattete Verein für jüdische Krankenpflegerinnen stellte dabei bereits im ersten Berichtsjahr drei Schwestern zur Verfügung, der Verein vom Roten Kreuz sowie der Vaterländische Frauenverein jeweils zwei Schwestern (vgl. Jahresbericht FVfS 1911: 6. Dank der intensiven Beratungs- und Rettungsarbeit des Verbands für Säuglingsfürsorge sank der statistische Anteil der in ihren ersten Lebenswochen verstorbenen Säuglinge (von 100 in Frankfurt am Main Geborenen) im Zeitraum 1911–1914 von 14,5 Prozent (1901–1910) auf 10,6 Prozent, im Jahr 1923, nach einem traurigen Wiederanstieg als Folge des Ersten Weltkriegs, dann erstmals unter 10 Prozent (vgl. ISG Ffm: Thomann-Honscha 1988: 83). Seit 1922 koordinierte das Frankfurter Stadtgesundheitsamt die offene Säuglingsfürsorge, der Verband für Säuglingsfürsorge erhielt den Status als „ausführendes Organ der Stadt“ (zit. n. Steppe 1997: 259). 1925 übernahm die Stadt Frankfurt den Verband (ebd.: 127); seine zuletzt 15 Beratungsstellen (Angabe nach Daub 2015: 78) gehörten fortan zum Aufgabengebiet des Stadtgesundheitsamtes.

Betty Schlesinger (frühere Oberin des Israelitischen Spitals zu Basel)

Der erste Jahresbericht (FVfS 1911: 6) des Frankfurter Verbands für Säuglingsfürsorge erwähnt für 1910/11 als erste für den Verband tätige jüdische Schwestern „Betty, Doris, Johanna (Verein für jüdische Krankenpflegerinnen)“. Obgleich in früheren Publikationen Pflegekräfte zumeist ohne ihren Familiennamen genannt wurden, was die biografische Spurensuche nicht eben erleichtert, konnten (außer der bereits im ersten Teil vorgestellten Johanna Beermann) auch Betty Schlesinger und Doris Unger (Kap. 4.3) recherchiert werden. Betty Schlesinger, geboren am 8. Oktober 1866 in Pforzheim (Baden-Württemberg), gehörte zu den ersten jüdischen Krankenschwestern im Kaiserreich. Sie wurde bereits 1893, im Gründungsjahr des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins, ausgebildet und arbeitete danach vorwiegend in der Privatpflege. Zu ihrem 10jährigen Dienstjubiläum erhielt sie 1903 die ,Goldene Brosche‘ des Schwesternvereins. In dessen Auftrag ging sie 1907 in die Schweiz und baute als Oberin die Krankenpflege des ein Jahr zuvor eröffneten Israelitischen Spitals zu Basel auf. 1908 kehrte sie nach Frankfurt zurück und betreute 1910/11 für den Verband für Säuglingsfürsorge drei Stadtbezirke (vgl. Steppe 1997: 258). 1912 schied sie vermutlich aus familiären Gründen aus dem Schwesternverein, beteiligte sich aber im Ersten Weltkrieg Seite an Seite mit ihren früheren Kolleginnen an der Verwundetenpflege im Frankfurter jüdischen Schwesternhaus (Vereinslazarett 27) (ebd.: 225). Zuletzt wohnte Betty Schlesinger, die unverheiratet blieb, zusammen mit Ida Schlesinger (1875–1940) – Betty Schlesingers Familiengeschichte bleibt noch zu erforschen, so ist bislang ungeklärt, ob Ida Schlesinger ihre Schwester oder ihre Schwägerin war – in Pforzheim, Calwerstraße 53 (vgl. Brändle 1985: 105, 194; siehe auch Alemannia Judaica Pforzheim; Stadt Pforzheim Gedenkseite). Beide Frauen wurden am 22. Oktober 1940 durch die nach den beiden NS-Gauleitern und Haupttätern benannte ,Wagner-Bürckel-Aktion‘ in das Lager Gurs in Südfrankreich deportiert. Betty Schlesinger wurde in der Shoah ermordet – die Umstände sind nicht bekannt.

Babette Zucker (spätere stellvertretende Oberin des Israelitischen Altenheims zu Aachen)

Babette Zucker stammte wie Betty Schlesinger und Rosa (Goldstein) Fleischer aus dem heutigen Bundesland Baden-Württemberg. Geboren wurde sie am 11. Juni 1881 als Tochter des Handelsmanns Männlein (Max) Zucker (geb. 1851) und der Näherin Kela (Karoline) geb. Neumann (geb. 1856) im badisch-fränkischen Külsheim (Main-Tauber-Kreis). Das elterliche Wohn- und Geschäftshaus, in dem Babette Zucker mit vielen Geschwistern aufwuchs, ist auf einer Erinnerungswebsite über die jüdische Gemeinde Külsheim abgebildet (vgl. Spengler 2013 sowie ders. 2011; siehe auch Alemannia Judaica Külsheim). Aus dem Örtchen Külsheim zog die junge Frau in die Frankfurter Metropole und absolvierte 1909 ihre Pflegeausbildung im angesehenen Verein für jüdische Krankenpflegerinnen (vgl. Steppe 1997: 229; siehe auch Jahresbericht Jüdischer Schwesternverein Ffm 1910: 5; Rechenschaftsbericht Jüdischer Schwesternverein Ffm: 64). Im Frankfurter Verband für Säuglingsfürsorge setzte sie der jüdische Schwesternverein laut Jahresberichten während des gesamten Ersten Weltkriegs ein (vgl. FVfS 1914 u. 1915: 7; FVfS 1916, 1917, 1918: 9). 1919 unterstützte Babette Zucker im Auftrag des Schwesternvereins ihre Frankfurter Kollegin Sophie Meyer (1865–1940, vgl. JüdPflege, Rubrik ,Recherche‘) als stellvertretende Oberin des Israelitischen Altenheims Aachen. Danach verliert sich ihre biografische Spur.

Doris und Else Unger (spätere Oberschwestern am Krankenhaus der  Frankfurter Israelitischen Gemeinde)

Im Jahr 1908 beendete mit Doris (Lebensdaten unbekannt) und Else Unger (geb. 03.06.1880, Sterbedatum unbekannt) ein Schwesternpaar aus dem damals ostpreußischen Schildberg/ Posen erfolgreich die Ausbildung im Verein für jüdische Krankenpflegerinnen, darauf folgte für beide der Einsatz in der Privatpflege (vgl. Steppe 1997: 229; siehe auch Jahresbericht Jüdischer Schwesternverein Ffm 1909: 5; Rechenschaftsbericht Jüdischer Schwesternverein Ffm 1920: 62, 64). Im Auftrag des Schwesternvereins arbeitete Doris Unger von 1910/11 bis 1913 (vgl. Jahresberichte FVfS 1911: 6; FVfS 1912: 5; FVfS 1913: 3) im Frankfurter Verband für Säuglingsfürsorge – gemeinsam mit Johanna Beermann, Betty Schlesinger sowie Clara (Claire) Simon, der späteren Oberin des Krankenhauses der Israelitischen Krankenkassen in der Rechneigrabenstraße. Im Ersten Weltkrieg übernahmen die Unger-Schwestern Leitungsfunktionen in der Pflege des jüdischen Krankenhauses Gagernstraße: Doris Unger als Oberschwester der Chirurgischen Abteilung, Else Unger nach ihrem Dienst im Lazarett des Krankenhauses sowie im Lazarettzug P.I als Oberschwester der Poliklinik. Vermutlich arbeiteten beide Schwestern seit 1919 in der Säuglingspflege, doch ist nur Else Unger im Jahresbericht des Frankfurter Verbands für Säuglingsfürsorge namentlich erwähnt (vgl. FVfS 1919: 10), zusammen mit Ida Holz (1875–1942) und der Röntgenschwester Blanka Heymann [Blanca Heimann] (Lebensdaten unbekannt, 1899 ausgebildet). Während zu Doris Ungers weiterem Lebensweg keine Informationen vorliegen, ist Else Ungers Abmeldung am 23. März 1933 aus dem Frankfurter jüdischen Schwesternhaus, in dem sie seit dem 27. April 1914 fast zwei Jahrzehnte lang gelebt hatte, dokumentiert. Sie zog nach Berlin, kehrte am 2. Februar 1939 noch einmal in das Schwesternhaus zurück, verließ es dann aber am 1. November 1940 – möglicherweise wegen der NS-Verfolgung – wieder in Richtung Berlin (ISG Ffm: HB 655, Bll. 29, 60; siehe auch HHStAW 518/ 67483).

Dina Wolf (spätere Oberin des Jüdischen Krankenhauses zu Köln)

Auch Dina Wolf (geb. 05.06.1876) kam aus einem Dorf – Krudenburg (auch: Crudenburg), heute Ortsteil der Gemeinde Hünxe im Kreis Wesel, Nordrhein-Westfalen – nach Frankfurt am Main. Dort absolvierte sie 1904 ihre Ausbildung im Verein für jüdische Krankenpflegerinnen und arbeitete danach in der Privatpflege, im Frankfurter jüdischen Krankenhaus Gagernstraße sowie im Israelischen Krankenhaus Hamburg. Im Ersten Weltkrieg organisierte sie als Oberschwester die Pflege in der Inneren Abteilung des Krankenhauses Gagernstraße, ihre Nachfolgerin in dieser Funktion wurde 1919 die aus Straßburg zurückgekehrte Oberin Julie Glaser. Dina Wolf ist in der Zeitschrift des Frankfurter Verbands für Säuglingsfürsorge nicht namentlich aufgeführt, soll aber seit 1919 in diesem Aufgabengebiet tätig gewesen sein (vgl. Steppe 1997: 228; siehe auch Jahresbericht Jüdischer Schwesternverein Ffm 1905: 4; Rechenschaftsbericht Jüdischer Schwesternverein Ffm 1920: 62). Später ging sie nach Köln und bekleidete dort vermutlich von 1924 bis 1932 das Amt der Oberin des jüdischen Krankenhauses (vgl. Becker-Jákli 2004: 234, 297, 412). Die Machtübergabe 1933 an die Nationalsozialisten zwang Dina Wolf zur Flucht nach Amsterdam. Von dort wurde sie am 28. September 1942 zusammen mit ihrem jüngeren Bruder Willy Wolf (geb. 1882), ihrer Schwägerin Bettina Wolf-Oppenheimer (geb. 1888) und ihrer Nichte Charlotte Wolf (geb. 1922) in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert (vgl. Joods Monument: https://www.joodsmonument.nl/en/page/157246/dina-wolf; Gedenkbuch BAK; Yad Vashem Datenbank [12.08.2020]).

„… die keinen Menschen hatten, der sich ihrer annahm“ – Frieda Amram und das Kinderhaus der Weiblichen Fürsorge e.V.

Oberin Frieda Amram mit einem Schützling, Frankfurter Kinderhaus der ,Weiblichen Fürsorge‘, um 1939 – Nachweis: Aus dem Poesiealbum von Inge Grünewald (Ines Ariel), Bl. 32R, in: Volker Mahnkopp, Dokumentation zu vom NS-Staat verfolgten Personen im Frankfurter Kinderhaus der Weiblichen Fürsorge e. V. Hans-Thoma-Straße 24. Frankfurt a.M., Stand: 01.09.2020, https://www.platz-der-vergessenen-kinder.de [01.11.2021]

Kehren wir zurück zu Oberin Frieda Amram und dem 1911 gegründeten ,Kinderhaus der Weiblichen Fürsorge e.V.‘ im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen, anfangs Schulstraße 7 (vgl. zur Geschichte umfassend Mahnkopp 2020). Dank einer Großspende der Kaufmannswitwe Bertha (Berta) Schwarzschild (geb. 1850) eröffnete die ,Weibliche Fürsorge‘ am 23. März 1919 ein eigenes Haus in der Hans-Thoma-Straße 24 mit 50 dringend benötigten Plätzen für Kinder vom Säuglingsalter bis zum sechsten Lebensjahr:

„Zweck des Kinderhauses war es, bedürftigen isrealitischen [sic!] Kindern unentgeltlich oder gegen mäßiges Entgelt Obhut, Verpflegung und Unterweisung zu gewähren. Aufgenommen wurden Waisenkinder, Kinder[,] die durch mißliche Wohnungsverhältnisse nicht im Elternhause bleiben konnten, uneheliche Kinder und solche, die keinen Menschen hatten, der sich ihrer annahm“ (Schiebler 1994: 163).

Neben dem geregelten Alltagsablauf legte das Kinderhaus ganz im Sinne von Bertha Pappenheim großen Wert auf eine jüdische Erziehung, Bildung und Gemeinschaft und bot zudem einen geschützten Raum vor Antisemitismus. Im Jahr 1932 hob der Trägerverein ,Weibliche Fürsorge‘ die Altersbeschränkung auf sechs Jahre trotz des drohenden Verlustes öffentlicher Pflegegelder auf: Zuvor mussten die kleinen Bewohner/innen das Kinderhaus bei Eintritt in das Schulalter verlassen und wurden mangels jüdischer Pflegestellen vom Frankfurter Jugendamt nichtjüdischen Einrichtungen zugewiesen (vgl. Mahnkopp 2020: 7). Erstmals richtete das Kinderhaus eine Gruppe für 6-14jährige Mädchen ein, welche das Philanthropin, die Samson-Raphael-Hirsch-Realschule oder auch die Synagoge der neo-orthodoxen Israelitischen Religionsgesellschaft in der Friedberger Anlage besuchten. 1942, zehn Jahre später, führten die nationalsozialistischen Zwangsschließungen der Frankfurter Israelitischen Waisenanstalt im Röderbergweg und des Heims des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg erstmals zur Aufnahme von 6–14jährige Jungen, so dass die Zahl der Bewohner/innen zeitweise auf 70 Kinder anstieg. Am 15. September 1942 trafen die menschenfeindlichen Räumungen von Gestapo und NS-Behörden auch das Kinderhaus: Zusammen mit ihren Betreuerinnen und weiterem Personal wurden die Mädchen und Jungen – darunter Kleinkinder! – in das KZ Theresienstadt deportiert: „Von den am 11.09.1942 im Kinderhaus lebenden 74 Personen erlebten elf Minderjährige sowie eine Erwachsene das Ende des Zweiten Weltkrieges“ (ebd: 3, siehe auch S. 17). Jahrzehntelang wurde die Existenz dieser wichtigen Institution der Frankfurter jüdischen Kinder- und Säuglingspflege und -fürsorge vergessen und ,verdrängt‘. Reichhaltige Informationen mit geretteten seltenen Dokumenten und Fotografien zu der Geschichte des Kinderhauses und seiner Biografien bietet dank der engagierten Recherche des Frankfurter Pfarrers Volker Mahnkopp – unterstützt von überlebenden ehemaligen Heimkindern und ihren Angehörigen – inzwischen die Website https://www.platz-der-vergessenen-kinder.de (vgl. Frankfurter Kinderhaus [01.11.2021]).

Für das Kinderhaus der ,Weiblichen Fürsorge‘ erwies sich Oberin Frieda Amram als ein Glücksfall: Drei Jahrzehnte lang leitete sie das Heim mit großer Kompetenz, Belastbarkeit und Warmherzigkeit für ihre aus schwierigen sozialen Verhältnissen geretteten Schützlinge. Am 6. Oktober 1885 wurde sie als Tochter des Lehrers Wolf Amram (1854–1909, vgl. Geni) und seiner Ehefrau Julie geb. Lomnitz (1857–1942) im nordhessischen Zwesten (heute der Kurort Bad Zwesten im Schwalm-Eder-Kreis) geboren (vgl. zu Biografie und Werdegang Lutz-Saal 2017; Mahnkopp 2020; JüdPflege; siehe auch Steppe 1997: 228, 259). Der Frankfurter Verein für jüdische Krankenpflegerinnen bildete sie im Jahr 1905 aus. Danach bewährte sie sich im Auftrag des Schwesternvereins in der Privatpflege, im Israelitischen Krankenhaus Hamburg und in der Krankenpflege für die jüdische Gemeinde zu Heilbronn (Baden-Württemberg), einer Außenstelle des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins. Den Dienst als leitende Oberschwester des Kinderhauses trat Frieda Amram vermutlich 1912 an – lediglich unterbrochen durch einen Pflegeeinsatz „im Felde“ (Steppe 1997: 228) während des Ersten Weltkriegs. Möglicherweise half in dieser Zeit ihre jüngere Schwester Goldine Hirschberg (1894–[1944]) in der Heimleitung aus.

Von den ebenfalls im Frankfurter jüdischen Schwesternverein ausgebildeten Mitarbeiterinnen in Oberin Amrams Team konnte Fanny Schragenheim namentlich recherchiert werden (vgl. Geni; Rechenschaftsbericht Jüdischer Schwesternverein Ffm 1920: 57, 64; Steppe 1997: 229, 230): Nach bisherigem Wissensstand wurde sie am 1. März 1891 als Tochter von Elise Esther geb. Gotthelf (1860–1937) und Samuel Schragenheim (1855–1935), Bankier und Ziegeleibesitzer, in Verden a.d. Aller (Niedersachsen) geboren; die 1908 ebenfalls im Schwesternverein ausgebildete Sara (Sitta, Sita) Schragenheim (1888–1957) war ihre Schwester. Fanny Schragenheim arbeitete nach ihrer Ausbildung (1914) in der Privatpflege und im jüdischen Krankenhaus Gagernstraße. Seit 1919 tat sie Dienst als Schwester im Kinderhaus der Weiblichen Fürsorge. Später emigrierte sie – vermutlich unter der NS-Verfolgung – nach Amerika, wo sie im November 1984 mit 93 Jahren in Encino, einem Stadtteil von Los Angeles in Kalifornien, verstarb.

Stellvertretend für die vermutlich nicht im Frankfurter jüdischen Schwesternverein ausgebildeten Säuglingspflegerinnen im Kinderhaus sei Paula Adelsheimer genannt: Sie wurde am 3. September 1914 als Tochter von Ida geb. Götz (1878 – Sterbedatum unbekannt) und des Kaufmanns Leopold Adelsheimer (1874–1940) in Göppingen (Baden-Württemberg) geboren. Sara Adelsheimer (1877 – um 1965), in den 1920er Jahren die Oberin des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins, war ihre Tante. Als Säuglingskrankenschwester im Kinderhaus arbeitete Paula Adelsheimer um 1939. Später zog sie nach Stuttgart und wurde von dort am 22. August 1942 nach Theresienstadt und danach am 19. Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert (vgl. Geni; Mahnkopp 2020; Alemannia Judaica Jebenhausen; Theresienstadt Opferdatenbank [12.08.2020]). Erinnert sei auch an Luise Löwenfels (geb. 05.07.1915 in Trabelsdorf, heute Ortsteil der Gemeinde Lisberg, Landkreis Bamberg, Bundesland Bayern) und ihren recht ungewöhnlichen Werdegang: Aus einer frommen oberfränkisch-jüdischen Viehhändler-und Metzgerfamilie stammend, wurde sie später bekannt als die katholische Ordensschwester Maria Aloysia (vgl. Haas/ Humpert 2015; Humpert/ Ramb 2019; Lehnen 2019; Alemannia Judaica Trabelsdorf; siehe auch Eintrag bei Wikipedia [12.08.2020]). Die ausgebildete Kindergärtnerin arbeitete 1935 für einige Monate im Kinderhaus und konvertierte danach noch im gleichen Jahr im Kloster der Armen Dienstmägde Jesu Christi (Dernbacher Schwestern) zum Katholizismus. Die Taufe konnte sie ebenso wenig vor der rassistisch-antisemitischen NS-Verfolgung bewahren wie ihre vormaligen jüdischen Glaubensgenossen und -genossinnen: Sie flüchtete in die Niederlande, wurde aber nach der nationalsozialistischen Besetzung gleich der jüdisch geborenen Philosophin und katholischen Nonne Teresia Benedicta vom Kreuz (Edith Stein) nach Auschwitz deportiert und vermutlich am 9. August 1942 ermordet. Seit 2007 trägt in ihrem zeitweiligen früheren Wohnort Ingolstadt eine Straße ihren Geburtsnamen Luise Löwenfels. Weitere Ehrungen erfuhr Schwester Aloysia posthum durch die Aufnahme als Glaubenszeugin in das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts und die Eröffnung eines kirchlichen Seligsprechungsverfahrens.

Letzte Schwester im Kinderhaus war Bertha (Berta, Berti, Betty) Heilbrunn, geboren am 27. Mai 1918 in Borken (Hessen), nach anderen Quellen (Geni) in Wichmannshausen (heute Stadtteil von Sontra), woher vermutlich beide Eltern – Selma geb. Rosenbusch (geb. 1885) und Siegmund Heilbrunn (geb. 1877) – stammten. Vor ihrem um 1938 angetretenen Dienst im Kinderhaus hatte Bertha Heilbrunn vermutlich eine kurze Pflegeausbildung absolviert – ob im Frankfurter jüdischen Schwesternverein, ist bislang ungeklärt. Mit der Oberin des Kinderhauses war „Schwester Berti“ gut bekannt, hatten doch ihre Mutter Selma und Frieda Amram im nordhessischen Borken die gleiche Schule besucht. Zuletzt versorgte Bertha Heilbrunn etwa 15 Kinder, die dem Transport der Bewohner/innen des Kinderhauses am 15. September 1942 nach Theresienstadt nicht zugeteilt worden waren, bevor sie selbst am 24. September 1942 nach Raasiku bei Reval (heute: Tallinn, Estland) deportiert wurde. Im August 1944 traf die junge Frau im KZ Stutthof bei Danzig ein und wurde dort sehr wahrscheinlich ermordet (vgl. Mahnkopp 2020; Geni; zur Herkunftsfamilie Heilbrunn (auch: Heilbronn): Alemannia Judaica Sontra [12.08.2020]).

Für das Kinderhaus war es ein großer Schock, als die Gestapo Oberin Frieda Amram am 25. Juli 1942 verhaftete und in das Frauen-KZ Ravensbrück deportierte; in den Ravensbrücker Archivakten hat die Historikerin Petra Betzien (Düsseldorf) den Eintrag: „politische Jüdin“ recherchiert (Mitteilung an die Autorin). Bereits im Oktober 1942 wurde Frieda Amram einem Todestransport nach Auschwitz zugeteilt. Weitere Informationen verdanken wir ihrem Neffen Jechiel Hirschberg: „1942 wurde Frieda Amram beschuldigt, Essen für die Kinder gehamstert zu haben. Wurde verhaftet und [war] verschollen“ (zit. n. Beykirch 2006: 126 (Fußnote 262). Für ihre Schützlinge im Kinderhaus tat die „Obeli“ alles.

„Stolpersteine“ für Frieda Amram, ihre Mutter Julie Amram, ihre Schwester Goldine Hirschberg (letzte kommissarische Leiterin des Kinderhauses) und ihren Schwager, dem Lehrer Seligmann Hirschberg, am Standort des ehemaligen Kinderhauses der ,Weiblichen Fürsorge‘ in Frankfurt am Main, Hans-Thoma-Straße 24 – © Dr. Edgar Bönisch, 2018

In den 1970er Jahren besuchte die Autorin vorliegenden Artikels ein Gymnasium gegenüber dem früheren jüdischen Kinderheim, ohne je von dessen Existenz zu erfahren. Am 26. April 2017 wurde dank Pfarrer Mahnkopps Bemühungen feierlich ein Mahnmal an der Hans-Thoma-Straße 24 eröffnet – dem eindrucksvollen Gedenkort ,Platz der vergessenen Kinder‘ sind weiterhin viele große und kleine Besucherinnen und Besucher zu wünschen.

Fotografie vom „Dreidel“-Denkmal für das Kinderhaus der ,Weiblichen Fürsorge‘ am ,Platz der vergessenen Kinder‘, Hans-Thoma-Straße (Künstlerin: Filippa Pettersson) – © Dr. Edgar Bönisch, 2018

Über das in Frankfurt einzigartige Mahnmal informiert eine Gedenktafel: „Die Skulptur ist angelehnt an die Form eines Dreidels. Das Spiel mit dem Dreidel ist ein traditionsreiches Kinderspiel zum achttägigen Lichterfest Chanukka. Der Dreidel ist ein kleiner Kreis mit vier Seiten, auf denen im Original jeweils ein hebräischer Buchstabe zu sehen ist.“

Im Frankfurter Stadtteil Kalbach gibt es zudem inzwischen einen ,Frida-Amram-Weg‘, doch bleibt die Sozialgeschichte der jüdischen Kinder- und Säuglingspflege in Frankfurt am Main wie auch in anderen Städten und Regionen weiter zu erforschen. Für wichtige Hinweise und Anregungen zu diesem Beitrag dankt die Autorin Dr. Petra Betzien, Dr. Bettina Blessing, Martina Hartmann-Menz M.A., Eduard Kaesling, Dr. Monica Kingreen (†), Pfarrer Volker Mahnkopp und Prof. Dr. Gudrun Maierhof, ebenso Dr. Edgar Bönisch für seine schönen Fotografien vom ,Platz der vergessenen Kinder‘.

Birgit Seemann, Stand November 2021

Quellen- und Literaturverzeichnis

Unveröffentlichte Quellen

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Bestand 518 Nr. 53055: Sara Adelsheimer (Oberin und Tante von Paula Adelsheimer): Fallakte (Entschädigungsakte)
Bestand 518 Nr. 67483: Else Unger: Fallakte (Entschädigungsakte)
ISG Ffm: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main
HB 655: Hausstandsbuch Bornheimer Landwehr 85 (Jüdisches Schwesternhaus, Frankfurt a.M.), Sign. 655
HB 686: Hausstandsbuch Gagernstraße 36 (Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde Frankfurt a.M.), Teil 1, Sign. 686
Frankfurter Verband für Säuglingsfürsorge: Sign. S 3/ P6056
Wohlfahrtsamt: Magistrat, Jugend-Amt Frankfurt am Main, Sign. 1.134: Ausbildung von Lehrschwestern [im Kinderheim Böttgerstraße, Laufzeit 1921–1928]
Thomann-Honscha, Cornelia 1988: Die Entstehung der Säuglingsfürsorge in Frankfurt am Main bis zum Jahre 1914, Diss. med. Univ. Frankfurt a.M. (gedr. Ms.) Sign.. S 6a/411

Periodika

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Jahresberichte FVfS: Jahresberichte des Frankfurter Verbandes für Säuglingsfürsorge, 1911–1921

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Frankfurter Kinderhaus: Platz der vergessenen Kinder. Das Kinderhaus der Weiblichen Fürsorge e.V., Frankfurt a.M., https://www.platz-der-vergessenen-kinder.de
Gedenkbuch BAK: Bundesarchiv Koblenz: Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945, Website: https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch
Gedenkbuch JB Neu-Isenburg: Gedenkbuch für das Heim des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg (1907–1942). Hg.: Stadt Neu-Isenburg. Red.: Heidi Fogel, Website: https://gedenkbuch.neuisenburg.de
Geni: Geni – A MyHeritage company [genealogische Website mit noch weiter zu prüfenden Angaben], https://www.geni.com/
Joods Monument: Joods Monument [Online-Datenbank für aus den Niederlanden deportierte Shoah-Opfer]. Hg.: Joods cultureel kwartier, https://www.joodsmonument.nl
JüdPflege: Jüdische Pflegegeschichte – Biographien und Institutionen in Frankfurt Main. Forschungsprojekt an der Frankfurt University of Applied Sciences, https://www.juedischepflegegeschichte.de
Stadt Pforzheim Gedenkseite: Stadt Pforzheim: Gedenkseite an ehemalige jüdische Mitbürger/innen. Dokumentation der zwischen 1919 und 1945 in Pforzheim geborenen bzw. ansässigen jüdischen Bürgerinnen und Bürger und deren Schicksale, https://www.pforzheim.de/stadt/stadtgeschichte/gedenken-friedenskultur/juedische-buerger.html
Theresienstadt Opferdatenbank: Online-Opferdatenbank (Lager Theresienstadt). Hg.: Institut Terezínské iniciativy – Institut der Theresienstädter Initiative , Prag [u.a.], https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank
Yad Vashem Datenbank: Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer der Gedenkstätte Yad Vashem, Jerusalem, Website: https://yvng.yadvashem.org/index.html?language=de
Wikipedia: Kinderkrankenpflege: https://de.wikipedia.org/wiki/Kinderkrankenpflege

Minderheit im Frauenberuf: jüdische Krankenpfleger in Frankfurt am Main

Jakob Grünebaum – Leopold Kahn – Hermann Rothschild  Walter Samuel Hayum – Jonas Neuberger

Sie sind selbst in der pflegehistorischen Forschung kaum präsent: Männer in der deutsch-jüdischen Krankenpflege. Mit Jakob Grünebaum, Walter Samuel Hayum, Leopold Kahn, Jonas Neuberger und Hermann Rothschild stellt der Artikel fünf jüdische Pfleger mit Dienstort Frankfurt am Main vor. Weitere Namen sind: Alfred Hahn, Walter Kleczewski, Max Ottensoser, Ludwig Strauß. Viele Ego-Dokumente und persönliche Quellen gingen in der Shoah verloren, doch hat ein seltenes Foto ,überlebt‘.

Gewidmet ist der Beitrag der Stuttgarter Pflegehistorikerin Dr. Sylvelyn Hähner Rombach (1959–2019) und den von ihr begonnenen Studien zu Männern in der Krankenpflege. Eingesetzt wurden die Pfleger ihren Recherchen zufolge häufig in der Urologie, Dermatologie und Psychiatrie sowie in der Kriegskrankenpflege und im Sanitäts- und Katastrophendienst.

Leopold Kahn (links) im Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main, Gagernstraße 36, undatiert (um 1941), rechts vermutlich Walter Samuel Hayum – © privat / Gary Kahn, online: Stadt Frankfurt am Main, Stolpersteine; „Juden in Groß-Gerau“ [letzter Aufruf der beiden Websites am 12.06.2020]
Diese Aufnahme hat die Shoah überlebt. Sie stammt aus der Zeit der NS-Verfolgung und gehört zu den seltenen noch erhaltenen Bildquellen mit deutsch-jüdischen Krankenpflegern in Berufskleidung. Wer das Pflegeteam auf dem Gelände seines Arbeitsplatzes – des Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main in der Gagernstraße 36 – um 1941 fotografiert hat, ist bislang unbekannt. Das Foto trat die weite Reise in das US-amerikanische Exil an und fand den Weg zu einem Großneffen des links abgebildeten Leopold Kahn; bei dem jüngeren Kollegen rechts im Bild handelt es sich sehr wahrscheinlich um Walter Samuel Hayum. Zwischen den beiden aufrecht stehenden Pflegern sitzen einträchtig und miteinander plauschend vier Schwestern. Die Fotografie gibt Hinweise auf damalige Geschlechterverhältnisse: Während die Schwestern – hier des 1893 gegründeten Frankfurter Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen – eine Gemeinschaft bildeten und den Frauenberuf Pflege dominierten, traten ihre männlichen Kollegen eher vereinzelt auf. Soweit bekannt, hatten die Männer in der deutsch-jüdischen Krankenpflege keine eigene Vereinigung gegründet. Was den Zugang zu christlichen Organisationen betraf, setzte er in der Regel die Taufe voraus. Unter der rassistisch-antisemitischen Verfolgung im NS-Staat blieben die jüdischen Krankenpfleger aus den nichtjüdischen beruflichen Verbänden ausgeschlossen.

Einleitung

Stellenannonce des Krankenpflegers Moritz Blau in: FIG 15 (1936-1937) 2 (11.1936), S. 40

„[…] empfiehlt sich für Tag- u. Nachtpflege, besonders für schwere Fälle u. Nervenpflege“, inserierte der Privatpfleger Moritz Blau (Lebensdaten unbekannt) in der Novemberausgabe 1936 des Frankfurter Israelitischen Gemeindeblatts. Er gehörte zu einer beruflichen Gruppe, die selbst in der pflegehistorischen Forschung kaum präsent ist: Männer in der deutsch-jüdischen Krankenpflege. Immer noch wird der männlichen Minderheit im ‚Frauenberuf‘ Pflege zu wenig Aufmerksamkeit zuteil (mit Ausnahmen wie z.B. Kolling 2008; Schwamm 2021). Dieses Forschungsdesiderat hat für den deutschen Untersuchungsraum erstmals die 2019 leider verstorbene Stuttgarter Pflegehistorikerin Sylvelyn Hähner-Rombach ausgelotet und mit einem weiterführendem Literatur- und Quellenverzeichnis versehen (vgl. dies. 2015). Vermutet werden häufige Einsätze männlicher Pflegender in der Psychiatriepflege, Urologie (Männerkrankheiten) und Dermatologie (Haut- und Geschlechtskrankheiten) sowie in Kriegskrankenpflege, Sanitäts- und Katastrophendienst, doch bleiben viele Fragen offen:

„Fakt ist, dass wir noch viel zu wenig über Männer in diesem Berufsfeld wissen. Das beginnt schon mit quantitativen Erhebungen: Wie hoch war ihr Anteil an den Pflegenden im Laufe des 20. Jahrhunderts, wie verteilten sie sich auf die verschiedenen Sparten, wie Krankenhaus, psychiatrische Einrichtungen, Privatpflege, Sanitätswesen bzw. auf die verschiedenen Abteilungen, welche Ausbildung(en) haben sie durchlaufen, wie lange blieben sie im Beruf, in welchen Stellungen waren sie dort, etc. […] Gab es Unterschiede in den Praktiken, im Pflegeverständnis, im beruflichen Selbstverständnis, im Umgang mit Kranken und Ärzten, in der Wahrnehmung von Krisen und Katastrophen, etc. zwischen Krankenpflegern und Krankenschwestern?“
(Hähner-Rombach 2015: 136).

Eine von Hähner-Rombach nachfolgend aufgeführte Statistik zur „Verbreitung des Heilpersonals, der pharmazeutischen Anstalten und des pharmazeutischen Personals im Deutschen Reiche“ ergab für das Jahr 1909, dass „von 68.778 Krankenpflegepersonen 12.881 männlichen Geschlechts waren, das entspricht einem Anteil von rund 18,7 Prozent“ (dies. 2017: 544, 545). 1887 und 1898 lag der männliche Anteil noch bei 11 bzw. 10,7 Prozent. 1927 „wurden im Deutschen Reich (ohne das Saargebiet) 88.872 Krankenpflegepersonen gezählt, davon waren 14.033 männlichen Geschlechts, also rund 15,8 Prozent“ (ebd.: 545). Auch liegen Daten über den männlichen und weiblichen Anteil an Pflegenden vor, die einem „weltlichen“, evangelischen oder katholischen Verband angehörten – ausgenommen den jüdischen, die möglicherweise in die Rubrik „sonstige“ erfasst wurden (ebd.).

Anonyme Stellenannonce eines israelitischen Krankenpflegers im Frankfurter Israelitischen
Familienblatt: UB JCS Ffm: FIF 6 (1908) 26, 03.07.1908, S. 11

Angesichts des Recherchestands verwundert es kaum, dass wir über die Berufsbiografien männlicher jüdischer Pflegender in Deutschland bislang weitaus weniger wissen als inzwischen über die der weiblichen (vgl. z.B. Steppe 1997; JüdPflege. Siehe auch Levinsohn-Wolf 1996; Lorz 2016). Laut Thea Levinsohn-Wolf, von 1927 bis 1932 Schwester am Frankfurter jüdischen Krankenhaus Gagernstraße, gab es dort während „meiner Zeit […] keine männlichen Krankenpfleger“ (zit. aus Fragebogen, Nachlass Hilde Steppe: Sign. 0113-1/8, 30, Hinweis von Edgar Bönisch).

Zu den in Ansätzen erforschten Bruderschaften der Diakonie hatten jüdische Männer vermutlich nur nach der Taufe Zugang; Ego-Dokumente und weitere persönliche Quellen gingen in der Shoah verloren. ‚Stellvertretend‘ für ihre namentlich unbekannten Kollegen erinnert der Artikel im Folgenden an fünf jüdische Krankenpfleger mit Dienstort Frankfurt am Main: Jakob Grünebaum, Leopold Kahn, Hermann Rothschild, Walter Samuel Hayum und Jonas Neuberger. Sie gehörten verschiedenen Generationen an: So betrug der Altersunterschied zwischen Jakob Grünebaum, Jahrgang 1870, und dem 1916 geborenen Jonas Neuberger 46 Jahre. Am 30. September 1938 verbot ihnen der NS-Staat die Versorgung nichtjüdischer Patienten und Patientinnen: „Juden dürfen die Krankenpflege nur an Juden oder in jüdischen Anstalten berufsmäßig ausüben.“ (zit. n. Deutsches Reichsgesetzblatt 1938 I, Nr. 154, Tag der Ausgabe: 30. September 1938, S. 346: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f9/Deutsches_Reichsgesetzblatt_38T1_154_1313.jpg.

Ein israelitischer Krankenpfleger: Jakob Grünebaum (1870–1943)

FIF 14 (1916) 23, 16.06.1916, S. 6

FIF 14 (1916) 44, 17.11.1916, S. 6

Inseriert und auf seine Kompetenz in der koscheren Versorgung jüdischer Patientinnen und Patienten hingewiesen hat hier der staatlich geprüfte, selbstständig tätige Krankenpfleger und Masseur Jakob Grünebaum. Wohl aus Gründen der Barrierefreiheit bot er seine Dienste laut Frankfurter Adressbuch seit 1913 von einer Parterre-Wohnung in der Helmholtzstraße 32 im jüdisch geprägten Ostend an, danach in der Friedberger Landstraße 26 (vgl. UB JCS Ffm: Frankfurter Adressbücher). Wie Jakob Grünebaum zu diesem Beruf kam und in welchem Krankenhaus er ausgebildet wurde, ist bislang unbekannt; ging er zuvor einem anderen Gewerbe nach? Geboren am 15. Mai 1870 im tauberfränkischen Wenkheim (heute Ortsteil der Gemeinde Werbach, Baden-Württemberg) als Sohn des Handelsmannes Herz Grünebaum und seiner Ehefrau Sara geb. Adler, zog er laut Entschädigungsakte (HHStAW 518/12659) im Jahr 1895 nach in Frankfurt am Main. Am 7. April 1899 heiratete er, am 24. April 1900 wurde sein einziges Kind, Hedwig Hahn geb. Grünebaum, geboren.

FIG 10 (1931-1932) 11 (7.1932), S. 247

In Frankfurt kümmerte sich Jakob Grünebaum – nach seinem eigenen beruflichen und religiösen Selbstverständnis ein „israelitischer Krankenpfleger“ – jahrzehntelang um seine Patientinnen und Patienten. Seine Dienstleistungen umfassten außer der Pflege und Massage auch die „Pedikur“ (Pediküre, Fußpflege) und das „Hühneraugenschneiden“. Möglicherweise war ihm die Pflege neben dem Beruf auch Berufung, verbunden mit der Erfüllung der religiösen Pflicht (Mitzwa) zur Krankenbetreuung (Bikkur Cholim, vgl. Seemann 2017a). Zugleich musste der Pflegeberuf ihm selbst und seiner kleinen Familie – Ehefrau und Tochter – den Lebensunterhalt sichern.

FIG 10 (1931-1932) 11 (7.1932), S. 247

FIG 11 (1932-1933) 10 (6.1933), S. 273

1931 zog das Ehepaar Grünebaum in die Rotteckstraße 6, danach in den Bäckerweg 7 und zuletzt in die Straße Am Tiergarten 28. Die in der Entschädigungsakte (HHStAW 518/ 12659) genannten Anschriften sind in den Frankfurter Adressbüchern teils nicht verifizierbar; möglicherweise hat sich die Familie Grünebaum nicht immer umgemeldet. 1933 laut Akteneintrag mit einem NS-Berufsverbot belegt, musste der mittlerweile 63-jährige Jakob Grünebaum den Pflegeberuf aufgeben und stattdessen mit Obst und Gemüse handeln. Fünf Jahre später bewahrte ihn nach dem Novemberpogrom 1938 möglicherweise sein Alter vor den Deportationen und mehrwöchigen KZ-Inhaftierungen jüdischer Männer zwischen 18 und 60 Jahren. Doch wenn sich auch „die Leipziger und die Frankfurter Gestapostelle zumindest bei der Einweisung in das Lager im wesentlichen noch an die Altersvorgabe hielten, kamen aus kleineren Städten und Landgemeinden in Thüringen und Hessen vor allem am 10. und 11. November viele Männer im Alter über 60, einige 70jährige und Jugendliche unter 18 Jahren in Buchenwald an“, schreibt Harry Stein, damaliger Kustos an der KZ-Gedenkstätte Buchenwald (vgl. ders. 1999: 26). In Monica Kingreens Auflistung (vgl. dies. 1999a) der im November 1938 von Frankfurt am Main in das KZ Dachau Verschleppten sind die Namen der hier vorgestellten Krankenpfleger nicht zu finden – allesamt jünger als Jakob Grünebaum, wurden sie möglicherweise von Frankfurt am Main oder aus anderen Orten in das KZ Buchenwald deportiert und wochenlang unter brutalen Bedingungen festgehalten. An Leib und Seele geschädigt, kehrten die Überlebenden traumatisiert zu ihren Angehörigen zurück; es war ihnen strikt verboten, über ihre KZ-Haft zu sprechen. Viele Angehörige und  Nachkommen sind daher nicht informiert, in Entschädigungsakten fehlen häufig entsprechende Hinweise.

Inzwischen 72 und 70 Jahre alt, traf das Ehepaar Grünebaum am 15. September 1942 die Deportation in das KZ Theresienstadt. Im Lager erlag Jakob Grünebaum am 31. März 1943 dem Hungertyphus. Seine Ehefrau, deren Geburtsdaten aus Datenschutzgründen im Artikel ungenannt bleiben, überlebte Theresienstadt und kehrte im Juni 1945 nach Frankfurt zurück. Dort verstarb sie 1963 im Jüdischen Altersheim Gagernstraße 36, dem früheren Standort des 1942 NS-zwangsaufgelösten letzten Frankfurter jüdischen Krankenhauses. Jakob Grünebaums Tochter, die Büroangestellte Hedwig Hahn, und seine Enkelin Inge Hahn (geb. 1936) wurden ebenfalls Opfer der Shoah; sein Schwiegersohn konnte in die USA flüchten.

Vom Kaufmann zum Krankenpfleger: Leopold Kahn (1889–1944)

Leopold Kahn wäre – anders als Jakob Grünewald – ohne die nationalsozialistische Verfolgung vermutlich nie Krankenpfleger geworden. Der gelernte Kaufmann wurde am 12. Juni 1889 in Worfelden (heute Stadtteil von Büttelborn, Kreis Groß-Gerau, Hessen) geboren und war mit seiner Cousine Johanna geb. Kahn (geb. 13.06.1895 in Worfelden) verheiratet; ihr einziges Kind Jakob verstarb in seinem Geburtsjahr 1920. Seit 1920 war das Ehepaar Kahn zu 50 Prozent Teilhaber des Textilwarengeschäfts „Kaufhaus J. & L. Kahn OHG“ in Groß-Gerau (Darmstädter Straße 12); der Familienbetrieb wurde in der NS-Zeit zwangsenteignet (HHStAW 518/ 11069, Antragsteller: Leopold Kahns überlebender Bruder; siehe auch die Internetseiten: Alemannia Judaica Worfelden und Groß-Gerau; Juden in Groß-Gerau). Ihres Lebensunterhalts beraubt, zogen Johanna und Leopold Kahn am 15. November 1937 nach Frankfurt am Main in die Bockenheimer Landstraße 91. Im Zuge des Novemberpogroms 1938 wurde wie viele jüdische Männer möglicherweise auch Leopold Kahn verhaftet und wochenlang im Lager festgehalten: Laut Transportliste des Gestapobereichs Frankfurt/Main hatte ihn die Stapo Frankfurt/Main für einen Transport am 12. November 1938 in das KZ Buchenwald vorgesehen; in den Veränderungsmeldungen des von Buchenwald sind mehrere am gleichen Tag deportierte Männer mit Namen Leopold Kahn ohne weitere Personalangaben eingetragen, die als „Aktionsjude“ inhaftiert waren.

Die Frankfurter Adressbücher 1938 und 1939 (UB JCS Ffm) verzeichnen Leopold Kahn für die Jahre 1937 und 1938 noch als Kaufmann, für das Jahr 1939 ist er als Krankenpfleger eingetragen. Diese zeitliche Angabe stimmt mit dem Hinweis in seiner Entschädigungsakte überein, wonach er Anfang 1939 – mit fast fünfzig Jahren – im Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde, Gagernstraße 36, seine Ausbildung startete; für die geplante Auswanderung in die USA erschien ihm die Krankenpflege als ein geeigneter Brotberuf im Exil. Nach der Ausbildung arbeitete Leopold Kahn nicht wie Jakob Grünebaum in der Privatpflege, sondern weiterhin in der Klinik: „Seine Devisenakte im Hess.[ischen] Hauptstaatsarchiv Wiesbaden belegt, dass er am 9.4.1940 66,40 RM als Krankenpfleger in Frankfurt im Krankenhaus in der Gagernstraße 36 verdient und nur ein begrenzt verfügbares Sicherungskonto mit einem Freibetrag von monatlich 570 RM besitzt“ (zit. nach: Juden in Groß-Gerau, http://www.erinnerung.org/gg/haeuser/da10.html [12.06.2020]). Aus dieser Zeit stammt auch das eingangs abgebildete seltene Foto (vgl. Abb. 1), das außer Leopold Kahn (links) möglicherweise Walter Samuel Hayum (vgl. Kap. 5) sowie vier Kolleginnen der jüdischen Schwesternschaft zeigt.

Tragischerweise ist die von Leopold und Johanna Kahn nach Chicago geplante Flucht aus Nazideutschland gescheitert. Beide zogen am 22. November 1941 – nach einer Zwischenstation in der Schumannstraße 51 – in das Krankenhaus Gagernstraße (ISG Ffm: HB 687, Bl. 169). Am 1. September 1942 wurde das Ehepaar aus dieser nunmehr letzten Frankfurter jüdischen Klinik – bis zur endgültigen NS-Liquidierung im September/Oktober 1942 ein NS-Sammellager – nach Theresienstadt deportiert. Im Oktober 1944 wurden sie in getrennten Todestransporten – am 1. Oktober der 55-jährige Leopold Kahn, am 6. Oktober die 49-jährige Johanna Kahn – in das Vernichtungslager Auschwitz verschleppt. Leopold Kahn wurde am 31. Dezember 1945 für tot erklärt. An das in der Shoah ermordete Ehepaar Kahn erinnern seit dem 4. Juni 2011 in Frankfurt am Main (Bockenheimer Landstraße) sowie seit dem 16. November 2012 in Groß-Gerau (Darmstädter Straße) zwei „Stolpersteine“ (vgl. Stolpersteine Ffm Dok. 2011: 80; Juden in Groß-Gerau).

„Einspritzungen, Katheterisieren, Spülungen aller Art“: Hermann Rothschild (1898–1941)

FIG 16 (1937-1938) 4 (1.1938), S. 29

„Einspritzungen, Katheterisieren, Spülungen aller Art“ – 1938 bot Hermann Rothschild seine pflegerischen Dienstleistungen im Frankfurter Israelitischen Gemeindeblatt an. Der selbständige Krankenpfleger und frühere Kaufmann wurde am 25. Juli 1898 in Völkershausen (heute Ortsteil der Stadt Vacha, Thüringen) als Sohn des Kaufmanns Salomon Rothschild und seiner Frau Luise geb. Weisskopf geboren. Bis auf eine im New Yorker Exil lebende Schwester (geb. 1889) und die früh verstorbene jüngste Schwester Rose (1901–1917) wurden vier seiner ebenfalls in Völkershausen geborenen Geschwister in der Shoah ermordet: Simon (geb. 1886), Isidor (geb. 1891), Max (geb. 1893) und Mally (Mali) Löbenstein (geb. 1895) (HHStAW 518/ 31778; BAK Gedenkbuch). Zu Anfang arbeitete Hermann Rothschild im thüringischen Stadtlengsfeld im väterlichen Geschäft. Später zog er nach Bad Nauheim (Hessen) und heiratete am 8. September 1929 Sofie (Sophie) geb. Scheuer (geb. 05.01.1902 in Ostheim, heute Stadtteil von Butzbach, Hessen), Kauffrau und Tochter eines Metzgerei-Inhabers (Mitteilung des Heiratsdatums von Herbert Begemann, Brüder-Schönfeld-Forum e.V., Maintal, per Mail v. 14.08.2020). Ihr einziges Kind Hans kam am 10. Dezember 1931 in Bad Nauheim zur Welt. Vor der Eheschließung hatte Sofie Rothschild seit 1925 das Delikatessengeschäft Scheuer geleitet, das die jüdischen Frauen- und Kinderheime sowie Hotels und Gaststätten belieferte (HHStAW 518/ 36224: Entschädigungsakte Rothschild, Sophie geb. Scheuer). Seit Oktober 1929 firmierte das Geschäft in der damaligen Fürstenstraße 8 als „Feinkosthaus Scheuer. Inhaber Hermann Rothschild“. 1931 kam es zur Geschäftsaufgabe. Von Februar 1931 bis Oktober 1935 hatte Hermann Rothschild einen Handel mit Kleintextilien als Gewerbe angemeldet. Von der Kursstraße 11 in Bad Nauheim zogen Hermann, Sofie und Hans Rothschild am 2. Januar 1936 nach Frankfurt am Main. Zuletzt wohnte die Familie in der Straße Am Tiergarten 42 – nur wenige Häuser entfernt von Jakob Grünebaum und seiner Frau.

Wie Leopold Kahn wechselte auch Hermann Rothschild von dem kaufmännischen in den pflegerischen Beruf: 1936/1937 absolvierte er am Krankenhaus Gagernstraße erfolgreich eine zweijährige Ausbildung, blieb aber nicht auf der Station, sondern ging in die Privatpflege. Durch Entscheid des Regierungspräsidenten in Wiesbaden war er seit dem 24. November 1937 als selbständiger Krankenpfleger zugelassen. Hermann Rothschilds Wohnung Am Tiergarten 42 lag im Erdgeschoss und ermöglichte damit auch in ihrer Mobilität eingeschränkten Kunden barrierefreien Zugang; ob Hermann Rothschild auch weibliche Kranke versorgte, ist unbekannt. Aufgrund der NS-Ausplünderung unterlagen seine Honorare starken Schwankungen und setzten sich häufig aus geringen Honoraren seiner verarmten jüdischen Patienten zusammen (HHStAW 518/ 31778).

Annonce des Krankenpflegers Hermann Rothschild im Frankfurter Israelitischen Gemeindeblatt, 1938

Auch Hermann Rothschild verband mit dem Pflegeberuf erhöhte Emigrationschancen, doch auch hier scheiterte die Flucht aus Nazideutschland. Am 22. November 1941 wurden Hermann, Sofie und Hans Rothschild in das NS-besetzte Litauen verschleppt – im gleichen Deportationszug wie die junge Frankfurter Krankenschwester Zilli Heinrich (geb. 1922) und ihre Mutter Emilie. Laut Online-Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz (siehe BAK) fiel die Familie Rothschild am 25. November 1941 den NS-Massenerschießungen im Festungs-Lager Fort IX in Kauen (Kaunas/ Kowno) zum Opfer. Das 2016 eingeweihte „Holocaust Erinnerungsmal Bad Nauheim“ erwähnt auch die Namen von Hermann, Sophie und dem erst neunjährigen Hans Rothschild (vgl. https://www.holocaust-erinnerungsmal-badnauheim.com/[12.06.2020]).

An dieser Stelle sei auch an Hermann Rothschilds etwa gleichaltrigen Kollegen Max Ottensoser erinnert: Der Kaufmann und Krankenpfleger wurde am 5. Februar 1899 in Bad Neustadt an der Saale (Bayern) in der unterfränkischen Rhön geboren (ISG Ffm: HB 686, Bl. 91; HB 687, Bl. 248). Vom 14. Januar 1939 bis zum 31. Dezember 1941 pflegte er im Krankenhaus Gagernstraße, kehrte dann aber wieder zu seiner Familie in Bad Neustadt an der Saale zurück. Am 25. April 1942 wurde er zusammen mit seiner Ehefrau Mina geb. Heippert (geb. 1897) und seiner Tochter Selma (geb. 1929) ab Würzburg in ein Todeslager (laut BAK Gedenkbuch: Krasnystaw; laut BDJU: Krasniczyn) im NS-besetzten Polen deportiert und vermutlich in einem Vernichtungslager ermordet. Sechs Jahre jünger als Hermann Rothschild war der am 20. August1905 in Bad Ems (Rheinland-Pfalz) geborene Kaufmann und Krankenpfleger Ludwig Strauß (Strauss). Am 8. August 1939 zog er vom Röderbergweg 38 in das Krankenhaus Gagernstraße und arbeitete dort als Pfleger (ISG Ffm: HB 687, Bl. 339). Am 2. August 1940 verließ er Frankfurt in Richtung Köln. Von dort wurde er am 7. Dezember 1941 zusammen mit seiner Ehefrau Berta geb. Kohlhagen (geb. 1906) und seiner Tochter Doris (geb. 1934) in das NS-besetzte Lettland (Ghetto Riga) deportiert. An die Familie Strauß erinnern heute in Bad Ems, Lahnstraße 5, „Stolpersteine“, ebenso Gedenkblätter in der Opferdatenbank der Gedenkstätte Yad Vashem.

Verschollen in Minsk: Walter Samuel Hayum (1909 – 1941 deportiert)

Walter Samuel Hayum, ohne Jahr – © Gedenkstätte Yad Vashem, Jerusalem

Walter Samuel Hayum stammte aus einer jüdischen Viehhändlerfamilie (vgl. ISG Ffm: HB 686, Bl. 94; HB 687, Bl. 121; Geni: https://www.geni.com/people/Elias-Eliyahu-Hayum/6000000014157844756 [12.06.2020]; Alemannia Judaica Kirf [12.06.2020]). Geboren wurde er am 6. März 1909 als jüngstes von sechs Kindern des Ehepaares Amalia geb. Mayer (1872 – 1944 KZ Theresienstadt) und Elias (Eliyahu) Hayum (1863–1935) in dem katholischen Bauerndorf Kirf (heute Verbandsgemeinde Saarburg-Kell, Rheinland-Pfalz). Wo er seine Pflegeausbildung erhielt und ob er zuvor ebenfalls in einem kaufmännischen oder einem anderen Beruf tätig war, konnte bislang nicht recherchiert werden. Vom Baumweg 3 – dort befanden sich verschiedene Institutionen der Frankfurter Jüdischen Gemeinde – zog Walter Samuel Hayum am 28. April 1939 in das Krankenhaus Gagernstraße und pflegte dort zweieinhalb Jahre. In der Klinik traf er vermutlich auf einen fast gleichaltrigen, ebenfalls unverheirateten Kollegen: Walter Kleczewski wurde am 31. Juli 1910 in Herne (Nordrhein-Westfalen) geboren. Von Essen war er vermutlich aufgrund der NS-Verfolgung nach Frankfurt gezogen und seit dem 28. September 1939 im Krankenhaus Gagernstraße gemeldet. Für den 9. Juni 1941 verzeichnet das Hausstandsbuch Gagernstraße 36 (ISG Ffm: HB 687, Bl. 166). Walter Kleczewskis Abmeldung nach Posen im NS-besetzten Polen, wo sich seine biografischen Spuren verlieren. Möglicherweise konnte er überleben.

Kehren wir zurück zu Walter Samuel Hayum: Er zog vermutlich auf Druck der NS-Behörden 17. Oktober 1941 vom Krankenhaus in die Zobelstraße 9. Dabei handelte es sich sehr wahrscheinlich um ein ,Judenhaus‘ (NS-Behördenjargon), in der neueren Forschung inzwischen als „Ghettohaus“ benannt, einem NS-zwangsenteigneten Wohnhaus aus ehemals jüdischem Eigentum, in das die NS-Behörden jüdische Mieter/innen und Untermieter/innen zwangsweise einwiesen – die letzte Station vor der Deportation. Vom ,Ghettohaus‘ wurde Walter Samuel Hayum am 11. November 1941 mit weiteren Bewohnerinnen und Bewohnern in das Ghetto Minsk im NS-besetzten Weißrussland verschleppt – im gleichen Deportationszug wie die seine Kollegin Amalie Stutzmann (geb. 1890). Auch diesen zweiten Todestransport aus Frankfurt am Main mit bis zu 1.052 Opfern haben nur wenige Menschen überlebt (vgl. Kingreen 1999; Rentrop 2011; Yad Vashem Deportationen Minsk).

Übersichtskarte des Ghettos Minsk – Epstein, Barbara 2008: The Minsk Ghetto 1941-1943: Jewish Resistance and Soviet Internationalism, University of California Press, Lizenzangaben: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Map_of_the_Minsk_Ghetto.jpg?uselang=de [12.06.2020]
Wie Walter Samuel Hayum wurden auch seine Mutter Amalia und fünf ebenfalls in Kirf geborene Geschwister samt ihren Familien in der Shoah ermordet (vgl. BAK Gedenkbuch; Geni; Yad Vashem): Johanna Hayum (vermutlich verheiratete Bach, geb. 1901), die Viehhändler Jakob (geb. 1902), Alfred (geb. 1903) und Siegfried Hayum (geb. 1905) und Erna Hayum (geb. 18.01.1907, vermutlich identisch mit Erna Hayum verheiratete Herz, geb. 23.10.1906). Zu Walter Samuel Hayums Bruder Alfred ist inzwischen bekannt, dass er sich unter 86 in Auschwitz selektierten jüdischen Frauen und Männern befand, die am am 17. oder 19. August 1943 im KZ Natzweiler-Struthof (Elsass) in der Gaskammer ermordet wurden – im Auftrag der SS-Wissenschaftsorganisation „Ahnenerbe“: Die Skelette der Opfer sollten bei einer rassenideologischen Ausstellung im Anatomischen Institut der Reichsuniversität Straßburg zur Schau gestellt werden (vgl. Lang 2007; ders. o.J.).

Aus neo-orthodoxem Hause: Jonas Neuberger (1916–1942)

Auch Jonas (Jona) Neuberger hatte vor seinem Einstieg in die Krankenpflege in einem kaufmännischen Beruf gearbeitet. Geboren wurde er am 26. August 1916 in Berlin als Sohn von Sara Hulda Neuberger geb. Ansbacher (geb. 1881 in Nürnberg) und Menachem Max Neuberger (geb. 1880 in Frankfurt a.M.). Mit seinen Geschwistern wuchs er im religiös-kulturellen Milieu der jüdischen Neo-Orthodoxie auf, die sich in Opposition zu den vorwiegend liberalen jüdischen Mehrheitsgemeinden gründete und in ‚Austrittsgemeinden‘ organisierte. So stand Jonas Neubergers Vater Max, ein gebürtiger Frankfurter, in der Tradition Samson Raphael Hirschs, des Begründers der jüdischen Neo-Orthodoxie in Deutschland und langjährigen Rabbiners der Israelitischen Religionsgesellschaft Frankfurt am Main. In Berlin bekleidete Max Neuberger das Amt des Gemeindesekretärs der neo-orthodoxen Israelitischen Synagogen-Gemeinde (Adass Jisroel):
„Einer der aktivsten, geradezu vom Arbeitseifer besessenen, dabei äußerst bescheidenen Mitarbeiter der Adass war ihr Sekretär Max Neuberger, der seine Jugend in der Austrittsgemeinde Frankfurt a.M. verlebt [hatte] und vom Geiste Samson Raphael Hirschs beseelt war. […] Max Neuberger wurde von den Herren des Rabbinats, von den Mitgliedern der Verwaltung wegen seiner Tüchtigkeit und unbedingten Zuverlässigkeit hochgeschätzt“ (Sinasohn 1966: 43, zit. n. Kalisch 2012).

Die Familie Neuberger wohnte „damals im Haus der Gemeinde in Berlin N4, Artilleriestraße 31, wo der Vater auch tätig war […]. Dort, in der heutigen Tucholskystraße im Bezirk Mitte, standen Rabbinerseminar, Schule, Synagoge und Gemeindehaus der ‚Adassianer'“ (zit. n. Kalisch 2012).

Jonas Neuberger besuchte von 1922 bis 1932 das Adass Jisroel-Gymnasium in Berlin und legte dort das Einjährigen-Abitur ab; anschließend folgte bis 1933 eine kaufmännische Lehre in dem Berliner jüdischen Metallbetrieb „Firma Hirsch Erz- und Metalle A.-G“ am Kurfürstendamm (HHStaW 518/ 41479). Nach dreijähriger Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter verlor er unter der NS-Verfolgung 1936 seinen Arbeitsplatz. In Vorbereitung seiner Flucht aus Nazideutschland ließ sich Jonas Neuberger von 1936 bis um 1939 im Israelitischen Krankenheim von Adass Jisroel (vgl. https://adassjisroel.de/ [15.10.2021] zum diplomierten Krankenpfleger ausbilden. Am 30. Oktober 1940 wechselte er nach Frankfurt am Main und pflegte im Hospital der Georgine Sara von Rothschild´schen Stiftung (Röderbergweg) der Israelitischen Religionsgesellschaft, wo u.a. der Krankenpfleger Alfred Hahn (1911 – um 1944 [ermordet]) zum Team gehörte (vgl. Seemann 2017 u. 2020). Seit dem 7. Mai 1941 wohnte Jonas Neuberger vorübergehend im Personalwohnhaus des Rothschild’schen Hospitals, Rhönstraße 51 (ISG Ffm:  HB 742, Bl. 236). Wegen der NS-Zwangsauflösung des Rothschild’schen Hospitals zog er am 20. Mai 1941 in das letzte noch bestehende jüdische Krankenhaus Gagernstraße.

Jonas Neuberger wurde vermutlich 1942 aus Frankfurt deportiert – der Eintrag im Hausstandsbuch Gagernstraße lautet: „27.6.42 evakuiert (Stapo)“ (ISG Ffm: HB 687, Bl. 236). Am 25. Juli 1942 wurde der junge Krankenpfleger, noch keine 26 Jahre alt, im Vernichtungslager Majdanek ermordet. Auch seine Eltern Hulda und Max Neuberger und die Geschwister Markus (geb. 1909), Salomon (geb. 1912), Miriam (geb. 1913) und Simon Neuberger (geb. 1915) haben samt ihren Familien die Shoah nicht überlebt; nur zwei Brüder konnten noch rechtzeitig flüchten (BAK Gedenkbuch; Yad Vashem Opferdatenbank; Kalisch 2012).

Ausblick und Dank

Infolge der schwierigen Quellenlage liegt der Fokus dieses Artikels auf jüdischen Krankenpflegern, deren Namen im Kontext der Holocaust Studies recherchiert werden konnten. Die hier vorgestellten Personen waren bis auf Jakob Grünebaum nachweislich kaufmännisch tätig und fanden vermutlich erst unter der NS-Verfolgung den Weg zum Pflegeberuf, von dem sie sich verbesserte Chancen auf Emigration und einen verlässlichen Lebensunterhalt im Exil erhofften. Anders als ihre Kolleginnen im aktiven Dienst waren sie zumeist verheiratet und Ernährer ihrer Familien. Ihre erfolgreiche Bewältigung der Pflegeausbildung lässt Neigungen und Fähigkeiten vermuten, die sie für den Pflegeberuf prädestinierten.

Insgesamt steht die Forschung zu Männern in der deutsch-jüdischen Krankenpflege noch am Anfang und bedarf dringend weiterer Recherchen. Hinweise sind herzlich willkommen. Für wichtige Informationen dankt die Autorin insbesondere Herbert Begemann (Brüder-Schönfeld-Forum e.V., Maintal), Hartmut Schmidt (Stolpersteine Frankfurt am Main) und Hans-Georg Vorndran (Erinnerungsprojekt und Website „Juden in Groß-Gerau“). Diesen Artikel widme ich unserer Kollegin Dr. Sylvelyn Hähner-Rombach (1959–2019) und ihrem wegweisenden Beitrag zur Geschichte der Männer in der Krankenpflege.

Birgit Seemann, Stand November 2021

Quellen- und Literaturverzeichnis

8.1. Ungedruckte Quellen

HHStaW: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden
Bestand 518 Nr. 11069: Entschädigungsakte Kahn, Leopold
Bestand 518 Nr. 12659: Entschädigungsakte Grünebaum, Jakob
Bestand 518 Nr. 31778: Entschädigungsakte Rothschild, Hermann
Bestand 518 Nr. 36224: Entschädigungsakte Rothschild, Sophie geb. Scheuer
Bestand 518 Nr. 41479: Entschädigungsakte Neuberger, Jonas

ISG Ffm: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main
HB 686: Hausstandsbuch Gagernstraße 36 (Frankfurter Jüdisches Krankenhaus), Teil 1, Sign. 686
HB 687: Hausstandsbuch Gagernstraße 36 (Frankfurter Jüdisches Krankenhaus), Teil 2, Sign. 687
HB 742: Hausstandsbuch Rhönstraße 47-55 (Personalwohnungen des
Rothschild’schen Hospitals), Sign. 186/742

8.2. Digitale Quellen

FES Bibliothek: Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, https://www.fes.de/bibliothek/
Die Sanitätswarte: http://library.fes.de/gewerkschaftszeitschrift/sol/?q=libtitle:Die%20Gewerkschaft&start=1360

UB JCS Ffm: Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt a.M.
Frankfurter Adressbücher (Digitalisate, bis 1943): https://www.ub.unifrankfurt.
de/wertvoll/adressbuch.html
Judaica Frankfurt (Digitalisate): http://sammlungen.ub.unifrankfurt.
de/judaica/nav/index/all
Judaica Frankfurt / Compact Memory (digitalisierte jüdische Periodika):
https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/nav/index/title
FIG: Gemeindeblatt der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main (Frankfurter Israelitisches Gemeindeblatt)
FIF: Neue jüdische Presse (Frankfurter Israelitisches Familienblatt)

8.3. Literatur

Alicke, Klaus-Dieter o.J. [2014]: Aus der Geschichte jüdischer Gemeinden im
deutschen Sprachraum, http://www.jüdische-gemeinden.de/index.php/home [URL inaktiv, aber zugänglich, zuletzt aufgerufen am 12.06.2020]
Hähner-Rombach, Sylvelyn 2015: Männer in der Geschichte der Krankenpflege. Zum Stand einer Forschungslücke / Men in the history of nursing. In: Medizinhistorisches Journal 50 (2015) H. 1/2, Themenheft: Geschlechterspezifische Gesundheitsgeschichte: Warum nicht einmal die Männer …?, S. 123-148
Hähner-Rombach, Sylvelyn 2017: Geschlechterverhältnisse in der Krankenpflege. In: dies. (Hg.): Quellen zur Geschichte der Krankenpflege. Mit Einführungen und Kommentaren. Hg. unter Mitarbeit v. Christoph Schweikardt. 4., überarb. u. erw. Aufl. Frankfurt a.M.: 535-555
Israelitische Synagogen-Gemeinde (Adass Jisroel) zu Berlin, K.d.ö.R. (Hg.) o.J.:
https://adassjisroel.de/
Kalisch, Christoph 2012: Flora Rabinowitz (Neuberger, verh.). In: Gedenkbuch für die Karlsruher Juden, Dezember 2012, http://gedenkbuch.informedia.de/gedenkbuch.php/PID/2.html [12.06.2020]
Kingreen, Monica 1999a: Von Frankfurt in das KZ Dachau. Die Namen der im November 1938 deportierten Männer. In: dies. 1999 (Hg.): 55-89
Kingreen, Monica 1999b: Gewaltsam verschleppt aus Frankfurt. Die  Deportationen der Juden in den Jahren 1941–1945. In: dies. (Hg.) 1999: 357-402
Kingreen, Monica (Hg.) 1999: „Nach der Kristallnacht“. Jüdisches Leben und antijüdische Politik in Frankfurt am Main 1938–1945. Frankfurt a.M.
Kolling, Hubert 2008: Krankenpfleger, Gewerkschafter und Fachbuchautor Franz Bauer (1898–1969). Sonneberg: Sonneberger Museums- und Geschichtsverein
Lang, Hans-Joachim 2007: Die Namen der Nummern. Wie es gelang, die 86 Opfer eines NSVerbrechens zu identifizieren. Überarb. Ausg. Frankfurt a.M.
Lang, Hans-Joachim [o.J.]: Die Namen der Nummern. Erinnerung an 86 jüdische Opfer eines Verbrechens von NS-Wissenschaftlern, https://www.die-namen-dernummern.de/index.php/de/ [12.06.2020]
Rentrop, Petra 2011: Tatorte der „Endlösung“. Das Ghetto Minsk und die Vernichtungsstätte von Maly Trostinez. Berlin
Schwamm, Christoph 2021: Wärter, Brüder, neue Männer. Männliche  Pflegekräfte in Deutschland ca. 1900–1980. Medizin, Gesellschaft und Geschichte – Beiheft 79, hg. v. Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung. Stuttgart
Seemann, Birgit 2017a: Der jüdische Krankenbesuch (Bikkur Cholim), updated 2017:  JüdPflege
Seemann, Birgit 2017b: Das Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung: JüdPflege
Seemann, Birgit 2017b: Das Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung (1870–1941) Teil 4: biographische Wegweiser: JüdPflege
Seemann, Birgit 2020: Frankfurter jüdische Krankenschwestern und ihre Verbindungen nach Mittelfranken (Nürnberg, Fürth), 2013, updated 2020: JüdPflege
Sinasohn, Max 1966: Adass Jisroel, Berlin. Entstehung, Entfaltung, Entwurzelung. 1869-1939: eine Gemeinschaftsarbeit. Jerusalem
Stein, Harry 1999: Das Sonderlager im Konzentrationslager Buchenwald nach den Pogromen 1938. In: Kingreen 1999 (Hg.): 19-54
Steppe, Hilde 1997: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre …“. Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt a.M.

8.4. Online-Datenbanken und Links [zuletzt aufgerufen am 12.06.2020]

Alemannia Judaica: Alemannia Judaica – Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Geschichte der Juden im süddeutschen und angrenzenden Raum: http://www.alemanniajudaica.de
Alemannia Judaica Bad Ems: http://www.alemannia-judaica.de/bad_ems_synagoge.htm
Alemannia Judaica Bad Neustadt an der Saale: http://www.alemanniajudaica.
de/neustadt_saale_synagoge.htm
Alemannia Judaica Groß-Gerau: http://www.alemannia-judaica.de/gross-gerau_synagoge.htm
Alemannia Judaica Kirf: http://www.alemannia-judaica.de/kirf_synagoge.htm
Alemannia Judaica Völkershausen: http://www.alemanniajudaica.
de/voelkershausen_synagoge.htm
Alemannia Judaica Wenkheim: http://www.alemannia-judaica.de/wenkheim_synagoge.htm
Alemannia Judaica Worfelden: http://www.alemannia-judaica.de/worfelden_synagoge.htm
Arcinsys: Archivinformationssystem Hessen, https://arcinsys.hessen.de
BAK Gedenkbuch: Das Gedenkbuch des Bundesarchivs für die Opfer der
nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland (1933–1945),
http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/index.html.de
BDJU: Biographische Datenbank Jüdisches Unterfranken, http://www.historischesunterfranken.uni-wuerzburg.de/juf/
Geni: Geni – A MyHeritage Company, https://www.geni.com/people [private genealogische Website mit weiter zu prüfenden Daten]
JM Ffm Gedenkstätte: Jüdisches Museum Frankfurt am Main, Gedenkstätte Neuer Börneplatz
– Lebensläufe [interne Datenbank, im Jüdischen Museum einsehbar]
Juden in Bad Neustadt: Wiederentdeckte Gemeinden: Die verlorenen Juden von Bad Neustadt. Ein Projekt des Hadassah Academic College Jerusalem in Kooperation mit der Stadt Bad Neustadt an der Saale, http://www.judaica-badneustadt.de/de/index.html
Juden in Groß-Gerau: Juden in Groß-Gerau. Eine lokale Spurensuche. Red.: Hans-Georg Vorndran, http://www.erinnerung.org/gg/ [Historische Fotogalerie Leopold und Johanna Kahn: http://www.erinnerung.org/gg/histfotogal/kahn_leo.html]
JüdPflege: Jüdische Pflegegeschichte – Biographien und Institutionen in Frankfurt Main
Levinsohn-Wolf, Thea 1996: Stationen einer jüdischen Krankenschwester. Deutschland – Ägypten – Israel. Frankfurt a.M.
Lorz, Andrea 2016: „… primo et uno loco als Oberin fuer unser Haus empfohlen …“ – Eine Spurensuche nach dem Wirken von Angela Pardo, Oberin im Israelitischen Krankenhaus zu Leipzig von 1928 bis 1938. In: Heidel, Caris-Petra (Hg.): Jüdinnen und Psyche. Frankfurt a.M.: 195-211.
Stadt Ffm Stolpersteine: Stadt Frankfurt am Main: Stolpersteine in Frankfurt am Main, https://frankfurt.de/frankfurt-entdecken-und-erleben/stadtportrait/stadtgeschichte/stolpersteine
Stolpersteine Ffm Dok. 2011: Initiative Stolpersteine Frankfurt am Main: 9. Dokumentation 2011: Westend, Bockenheimer Landstraße 91: Leopold und Johanna Kahn, http://www.stolpersteine-frankfurt.de/downloads/doku2011_WEB_1.pdf, S. 79f. [mit Abb.]
Yad Vashem: Yad Vashem – Internationale Holocaust Gedenkstätte, Jerusalem,
https://www.yadvashem.org/de.html
Yad Vashem Deportationen Minsk: Das Internationale Institut für Holocaust-Forschung: Transport, Zug Da 53 von Frankfurt am Main, Frankfurt a. Main (Wiesbaden), Hessen-Nassau, Deutsches Reich nach Minsk, Minsk City, Minsk, Weißrussland (UdSSR) am 11/11/1941, http://db.yadvashem.org/deportation/transportDetails.html?language=de&itemId=9437934
Yad Vashem Opferdatenbank: Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer, https://yvng.yadvashem.org/index.html?language=de

Wie entstand die organisierte, beruflich ausgeübte Jüdische Pflege?

Ein Vortrag von Prof. Dr. Eva-Maria Ulmer bei der „International Conference on The History of Nursing“ in Florenz, 13. bis 15. Februar 2020

Die Präsentation, vorgestellt auf der Tagung der European Assocation for the History of Nursing (EAHN) in Florenz (http://www.florence2020.org), können Sie in einer deutschen und einer englischen Fassung nachlesen. Nachgezeichnet wird die Entstehungsgeschichte der beruflichen jüdischen Krankenpflege in Deutschland, von Frankfurt am Main ging dabei „sowohl eine Magnet- als auch eine Signalwirkung“ aus. Pionierarbeit in der Aufarbeitung leistete die Frankfurter Pflegehistorikerin Hilde Steppe in Zusammenarbeit mit der Krankenschwester und Autobiografin Thea Levinsohn-Wolf. Lernen Sie weitere Persönlichkeiten kennen: die Mitbegründerin des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen in Frankfurt und Oberin in Hamburg, Klara Gordon, und ihre Kollegin Toni Spangenthal, vor ihrer NS-Vertreibung in das argentinische Exil Schwester im Krankenhaus der Frankfurter Israelitischen Gemeinde. Für den Vortrag hat ihre Tochter Silvia Berg, die ebenfalls Krankenschwester wurde, wertvolle Informationen und Fotografien zur Verfügung gestellt.

Die Pflegehistorikerin Prof. Dr. Hilde Steppe (links) und die Krankenschwester und Autobiografin Thea Levinsohn-Wolf 1995 in der damaligen Fachhochschule Frankfurt bei der Durchsicht von Dokumenten
© Eva-Maria Ulmer

Den Artikel finden Sie hier als PDF-Publikation in Deutsch und Englisch:

German:
Eva-Maria Ulmer: Vortrag Jüdische Pflegegeschichte in Florenz

English:
Eva-Maria Ulmer: Presentation Jewish Nursing History in Florence

The development of professionalized Jewish nursing in Germany

Presentation at the „International Conference on The History of Nursing“ in Florence held by Prof. Dr. Eva-Maria Ulmer, 13. to 15. February 2020

The following findings are based on the foundational work of Hilde Steppe (1947–1999), a pioneer of research into nursing history. She was the first to document the successful history of Jewish nursing in Germany, particularly in Frankfurt am Main, in her dissertation in 1997. Following her early death, we – Dr. Birgit Seemann, Dr. Edgar Bönisch, and myself – have continued and expanded the work on this topic within the Research Project „Jewish Nursing History“ since 2006. You are invited to find out more in this article about the Frankfurt Verein für jüdische Krankenpflegerinnen (Association of Jewish nurses) and the biographies of the nurses Klara Gordon (matron), Thea Levinsohn-Wolf, Toni Spangenthal and Toni‘s daughter.

Die Pflegehistorikerin Prof. Dr. Hilde Steppe (links) und die Krankenschwester und Autobiografin Thea Levinsohn-Wolf 1995 in der damaligen Fachhochschule Frankfurt bei der Durchsicht von Dokumenten
© Eva-Maria Ulmer

PDF-Publication (English)
Eva-Maria Ulmer: Presentation Jewish Nursing History in Florence

PDF-Publication (German)
Eva-Maria Ulmer: Vortrag Jüdische Pflegegeschichte in Florenz

Jüdische Pflegegeschichte – vorgestellt in Florenz

Vortrag von

Prof. em. Dr. Eva-Maria Ulmer

Jewish Nursing in Germany in the 19th and 20th century

auf der Tagung „International Conference on the History of Nursing“ der European Assocation for the History of Nursing (EAHN) vom 13. bis 15. Februar 2020 in Florenz

Der Fokus des Vortrags liegt auf Entstehung und Vernichtung des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen zu Frankfurt am Main

Weitere Informationen finden Sie auf der Website http://www.florence2020.org/

Buchvorstellung „Das Gumpertz’sche Siechenhaus“ im Jüdischen Museum Frankfurt am Main

Herzliche Einladung zur Präsentation unserer Neuerscheinung:

Das Gumpertz’sche Siechenhaus – ein „Jewish Place“ in Frankfurt am Main

Buchvorstellung und Gespräch, mit seltenen Fotografien

Mit den Autor*innen Dr. Birgit Seemann und Dr. Edgar Bönisch

Moderation: Prof. em. Dr. Eva-Maria Ulmer

am 4. Februar 2020 um 19.00 Uhr im

Museum Judengasse Frankfurt am Main

Battonnstraße 47, 60311 Frankfurt am Main

Weitere Informationen finden Sie bei:

https://www.juedischesmuseum.de/besuchen/kalender/

Jüdische Pflegegeschichte auf der AKF-Jahrestagung 2019

ARBEITSKREIS FRAUENGESUNDHEIT IN MEDIZIN PSYCHOTHERAPIE UND GESELLSCHAFT E.V.

WORKSHOP 2: Das moderne jüdische Pflegewesen in den 1920er Jahren in Frankfurt am Main und seine Zerstörung im Nationalsozialismus – Referentin: DR. BIRGIT SEEMANN

Am 2. November 2019 von 15.15 bis 17.30 Uhr
im Johannesstift Berlin-Spandau, Schönwalder Allee 26, Berlin-Spandau

Hier geht es zum Download der Workshop-Dokumentation:

https://www.arbeitskreis-frauengesundheit.de/wp-content/uploads/2019/08/Seemann_Birgit_Das_moderne_juedische_Pflegewesen_in_Frankfurt_am_Main_und_seine_Zerstoerung_im_Nationalsozialismus.pdf

Die Referentin Dr. Birgit Seemann dankt noch einmal allen Teilnehmerinnen des Workshops für engagierte Fragen und Anregungen!

Hinzuweisen ist auch auf das während der Tagung präsentierte AKF-Forschungsprojekt mit Wanderausstellung:

„… unmöglich, diesen Schrecken aufzuhalten“. Die medizinische Versorgung durch
Häftlinge im Frauen-KZ Ravensbrück

von Dr. Christl Wickert und Dr. Ramona Saavedra-Santis

Jüdische Pflegegeschichte - interkonfessionell - Meta Conrath

„… immer treu zur Seite gestanden“ – Meta Conrath, Franziska Fleischer, Frieda Gauer: christliche Krankenschwestern in der Frankfurter jüdischen Pflege

Jüdische Pflegegeschichte - interkonfessionell - Meta Conrath
Schwesternfoto von Meta Conrath mit der Diensthaube des Deutschen Roten Kreuzes, undatiert um 1916)
Mit freundlicher Genehmigung von Klaus – J. Penné

Dass in Deutschland bis zur Shoah langjährig gewachsene jüdisch-nichtjüdische Pflegeteams wirkten, ist bislang wenig bekannt. Als ein Glücksfall für unser Forschungsprojekt Jüdische Pflegegeschichte erwies sich hier die Kontaktaufnahme und Übermittlung seltener Dokumente und Fotografien durch den Neffen von Meta Conrath, einer evangelischen Schwester am Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main (Gagernstraße 36). Des Weiteren entdeckte Birgit Seemann bei Recherchen zum Buchprojekt Das Gumpertz’sche Siechenhaus – ein „Jewish Place“ in Frankfurt am Main (Seemann/ Bönisch 2019) die Namen der Protestantin Frieda Gauer und der Katholikin Franziska Fleischer: Jahrzehntelang versorgten sie gemeinsam mit ihren jüdischen Oberinnen Thekla (Mandel) Isaacsohn und Rahel (Spiero) Seckbach die Bewohner/innen dieses orthodox-jüdischen Pflegeheims. Zu einer weiteren namentlich bekannten Schwester, Amalie Stutzmann, hat Edgar Bönisch geforscht. Auch in der NS-Zeit haben alle vier Pflegenden ihren Arbeitgebern, Kolleginnen und Patienten „immer treu zur Seite gestanden“ (zit. n. Arbeitszeugnis des Direktors des Krankenhauses Gagernstraße für Meta Conrath, 01.03.1939).

Nichtjüdisches Personal in Frankfurter jüdischen Pflegeinstitutionen

Die hier vorgestellten Frankfurter Krankenschwestern Meta Conrath, Franziska Fleischer und Frieda Gauer stehen stellvertretend für die bis heute zumeist ’namenlosen‘ nichtjüdischen Angestellten und Arbeiter/innen, die bis zur Shoah ihren Dienst in Frankfurter jüdischen Pflegeinstitutionen verrichteten; ihre genaue Zahl ist infolge des NS- und kriegsbedingten Aktenverlustes wohl kaum noch zu ermitteln. Vermutlich wurden sie durch Stellenannoncen auf ihre jüdischen Arbeitgeber aufmerksam, welche möglicherweise bessere Löhne und Bedingungen anboten als christliche und öffentliche Träger. Solche interkonfessionellen Beschäftigungsverhältnisse entwickelten sich in einer Zeit, als die Judenfeindschaft auf dem Rückzug und das nichtjüdisch-jüdische Zusammenleben alltäglich schienen. Bis zur NS-Zeit ließen sich nichtjüdische Erkrankte ganz selbstverständlich in jüdischen und jüdische Patientinnen und Patienten in nichtjüdischen Kliniken und Arztpraxen behandeln; das 1914 in einen modernen Neubau umgezogene große Frankfurter jüdische Krankenhaus Gagernstraße hatte in der gesamten Stadt einen hervorragenden Ruf. Zugleich war der Antisemitismus keineswegs besiegt und für die jüdische Minderheit weiterhin schmerzhaft spürbar, jüdische Gläubige in nichtjüdischen Kliniken vermissten die dort in der Regel nicht zu leistende koschere Versorgung, weshalb seit 1870 eigenständige jüdische Krankenhäuser und Pflegeheime entstanden. Vor allem orthodox-jüdische Institutionen wollten der wachsenden Säkularisierung und ‚Assimilation‘ innerhalb des Judentums entgegenwirken – mit dem Resultat einer auf den ersten Blick widersprüchlichen Personalpolitik: Bewerber/innen aus dem liberalen Reformjudentum waren nicht gern gesehen, nichtjüdisch-christliche hingegen willkommen. Letztere wurden vom zuständigen Rabbiner in die jüdischen Regeln der Pflege eingewiesen und durch die jüdische Oberin oder Wirtschafterin angeleitet.

Nichtjüdische Arbeitskräfte waren in Frankfurter Pflegeinstitutionen aller jüdischen Richtungen tätig und vor allem am Shabbat und an den jüdischen Feiertagen im Einsatz. Im liberal-jüdischen Krankenhaus Gagernstraße taten „etwa vier nichtjüdische Krankenschwestern“ (Steppe 1997: 236), darunter Meta Conrath, Dienst. Im Gumpertz’schen Siechenhaus, das dem kleineren orthodoxen Flügel der liberalen Israelitischen Gemeinde zuzuordnen ist, pflegten Franziska Fleischer und Frieda Gauer. Das von der oppositionellen neo-orthodoxen Austrittsgemeinde ‚Israelitische Religionsgesellschaft‘ verwaltete Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung stellte ebenfalls nichtjüdisches Personal ein – darunter die vom evangelischen zum jüdischen Glauben konvertierte Amalie Stutzmann.

Während der NS-Zeit gehörten die standhaften christlichen Schwestern Meta Conrath, Franziska Fleischer und Frieda Gauer innerhalb der nichtjüdischen Krankenpflege zu einer kleinen Minderheit: Wie andere Berufsgruppen waren die „arischen“ Pflegekräfte – als Mitläufer/innen oder gar Mittäter/innen (vgl. Beiträge in Steppe/ Ulmer 2013; Betzien 2018) – und ihre Verbände weitgehend „gleichgeschaltet“ und in das nationalsozialistische Herrschaftssystem integriert. Doch rührte sich auch hier vereinzelt ein noch weiter zu erforschender „Rettungswiderstand“ (zit. n. Lustiger 2011): Für Frankfurt am Main recherchierten Ursula Kiel-Römer, Martina Süß und Hilde Steppe (dies. 2013) einige mutige NS-widerständige Pflegende. So wurde die evangelische Krankenschwester Eva Gleichmann (geb. Junk, geb. 1887 in Salzwedel) wegen „Heimtücke; Wehrkraftzersetzung (staatsfeindliche Äußerungen)“ (zit. n. Arcinsys: Eintrag zur Akte HHStAW 409/ 61) 1941 in das Frauenstrafgefängnis Frankfurt-Höchst und 1943 in ein KZ eingewiesen; das „Verfahren gegen Eva Gleichmann wurde an den Volksgerichtshof abgegeben“ (ebd.). 1944 wurde dem Oberpfleger Georg Löw (geb. 1899 in Weitengesäß) aus Frankfurt-Eschersheim der Prozess gemacht (vgl. Arcinsys; Entschädigungsakte HHStAW 518/ 6194). Ob sich Meta Conrath, Franziska Fleischer und Frieda Gauer, als „arische“ Angestellte einer jüdischen Institution, insbesondere nach den im September 1935 erlassenen „Nürnberger Rassegesetzen“ ohnehin gesellschaftlichem und vermutlich auch familiärem Legitimationsdruck ausgesetzt, ebenfalls im Frankfurter NS-Widerstand engagierten? Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die drei Krankenschwestern mit der Ausplünderung und Vernichtung aller jüdischen Institutionen, die für die Alterssicherung auch ihres nichtjüdischen Personals vorgesorgt hatten, von Altersarmut bedroht, sie mussten um ihre materielle Existenz kämpfen.

Gumpertz’sches Siechenhaus: Frieda Gauer und Franziska Fleischer

Geburtseintrag Frieda Gauer (mit nachträglichem Eintrag der Sterbedaten), 13.08.1878
© Stadt Adelsheim (Standesamt)

Die evangelische Krankenschwester Frieda Karolina Gauer gehörte – zeitweilig als Oberschwester – fast vier Jahrzehnte lang zum Team des Gumpertz’schen Siechenhauses, einem in Frankfurt und Umgebung angesehenen orthodox-jüdischen Pflegeheim im Röderbergweg. Geboren wurde sie am 7. August 1878 im nordbadischen Sennfeld (heute Stadtteil von Adelsheim, Neckar-Odenwald-Kreis, Baden-Württemberg). In Sennfeld, wo Frieda Gauer sehr wahrscheinlich auch aufwuchs, war zeitweise jede/r zehnte/r Einwohner/in jüdisch (um 1895: 10,1 % von 1.144); die engagierte kleine Gemeinde verfügte über eine für dörfliche Verhältnisse stattliche Synagoge, eine Religionsschule, eine Mikwe sowie einen eigenen Friedhof.

Auf welchen Wegen – über persönliche Kontakte oder eine Stellenannonce – Frieda Gauer wohl nach Frankfurt am Main zum orthodox-jüdischen Gumpertz’schen Siechenhaus im Ostend auf dem Röderberg gefunden hat? Die bereits ausgebildete 23jährige Krankenschwester trat dort am 12. Januar 1902 (HHStAW 518/ 53914) ihren Dienst an. Zu diesem Zeitpunkt war das Heim für bedürftige israelitische Frauen, Männer und Kinder mit chronischen Erkrankungen in einer alten Villa, dem sog. ‚Hinterhaus‘, untergebracht. Infolge der großen Nachfrage handelte es sich wohl ausschließlich um jüdische Bewohner/innen, wobei die Statuten eine Aufnahme nichtjüdischer Leidender nicht ausschlossen. Vermutlich wohnte Frieda Gauer entweder im Siechenhaus selbst oder in einer räumlich nahen Personalwohnung ihres Arbeitgebers zur Untermiete; in den Frankfurter Adressbüchern ist ihr Name nicht zu finden.

Auf welchen Wegen – über persönliche Kontakte oder eine Stellenannonce – Frieda Gauer wohl nach Frankfurt am Main zum orthodox-jüdischen Gumpertz’schen Siechenhaus im Ostend auf dem Röderberg gefunden hat? Die bereits ausgebildete 23jährige Krankenschwester trat dort am 12. Januar 1902 (HHStAW 518/ 53914) ihren Dienst an. Zu diesem Zeitpunkt war das Heim für bedürftige israelitische Frauen, Männer und Kinder mit chronischen Erkrankungen in einer alten Villa, dem sog. ‚Hinterhaus‘, untergebracht. Infolge der großen Nachfrage handelte es sich wohl ausschließlich um jüdische Bewohner/innen, wobei die Statuten eine Aufnahme nichtjüdischer Leidender nicht ausschlossen. Vermutlich wohnte Frieda Gauer entweder im Siechenhaus selbst oder in einer räumlich nahen Personalwohnung ihres Arbeitgebers zur Untermiete; in den Frankfurter Adressbüchern ist ihr Name nicht zu finden.

An der im Gumpertz’schen Siechenhaus geleisteten professionellen Kranken-, Schwerbehinderten-, Alten- und Armenpflege beteiligte sich Schwester Frieda zunächst unter Anleitung der ersten Gumpertz’schen Oberin Thekla (Mandel) Isaacsohn (1867–1941). 1907 erlebte sie die feierliche Einweihung eines Gumpertz’schen Neubaus: dem als modernes Krankenheim mit Operationssaal ausgestatteten, anfangs für weibliche Bewohner eingerichteten, so genannten ‚Vorderhaus‘. Nach Oberin Theklas Heirat und Wegzug noch im gleichen Jahr bekam Frieda Gauer mit Rahel (Spiero) Seckbach (1876–1949 eine neue Oberin, welche 1919 den Gumpertz’schen Verwalter Hermann Seckbach (1880–1951) heiratete. Am 13. Juli 1911 (HHStAW 518/ 75113) stellte die Gumpertz’sche Verwaltung mit der 33-jährigen Labor- und Krankenschwester Anna Theresia Franziska Fleischer (geb. 19.12.1877 in Frankfurt a.M.) eine weitere christliche Pflegekraft ein. Ungeachtet aller Differenzen innerhalb des Christentums sowie zwischen Christentum und Judentum bildeten die evangelische Schwester Frieda und die katholische Schwester Franziska gemeinsam mit dem orthodox-jüdischen Gumpertz’schen Verwalterpaar Rahel und Hermann Seckbach drei Jahrzehnte lang ein funktionierendes und eingespieltes Team im Dienst für die „Aermsten der Armen“ (Neuhaus 1949) der jüdischen Gemeinschaft.

Im Dienst für die Pflegebedürftigen: ein interkonfessionelles Team als eingeschworene Gemeinschaft

„Weihnukka“-Feier von Personal und Patienten im Wintergarten des Gumpertz’schen Lazaretts, 1918 – Nachweis: Cohn-Neßler, Fanny: Das Frankfurter Siechenhaus. Die Minka-von-Goldschmidt-Rothschild-Stiftung.
In: Allgemeine Zeitung des Judentums 84 (16.04.1920) 16, S. 174, online: UB JCS Ffm, Judaica, CM, http://sammlungen.ub.unifrankfurt.
de/cm/periodical/pageview/3288197

Der Erste Weltkrieg schweißte die interkonfessionelle Gumpertz’sche Pflegegemeinschaft, unterstützt von ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern aus der jüdischen Gemeinde, noch enger zusammen: In seiner großen Vorderhaus-Villa richtete das Siechenhaus gleich zu Kriegsbeginn ein Lazarett ein, wo jüdische wie nichtjüdische Verwundete behandelt und operiert wurden. Neben der Organisation des Lazaretts, einer Schwerkrankenstation für Offiziere und Mannschaften mit zuletzt 40 Betten, musste zugleich der laufende Pflegebetrieb aufrechterhalten werden. Im Rechenschaftsbericht für die Jahre 1914 und 1915 dankte der Gumpertz’sche Vorstand bei der Würdigung seines Personals auch der „Laborantin Fräulein Franziska Fleischer und ganz besonders der im Wirtschaftsbetrieb so überaus verdienstvollen Schwester Frieda“ (GumpRechenschaftsbericht 1916: 9). Vermutlich wirkten die christlichen Schwestern Franziska Fleischer und Frieda Gauer auch an den Vorbereitungen zur „Weihnukka“ (Kugelmann 2005; Loewy 2011) mit: Im Dezember wurde zusammen mit den jüdischen und christlichen Verwundeten im Gumpertz’schen Lazarett neben dem Chanukka-Fest Weihnachten gefeiert und ein Weihnachtsbaum aufgestellt. Auf der obigen Gruppenfotografie sind möglicherweise auch Oberin Rahel (Spiero) Seckbach, Verwalter Hermann Seckbach, Schwester Frieda und Schwester Franziska abgebildet.

Nach dem für Deutschland verlorenen Ersten Weltkrieg hielt das interkonfessionelle Gumpertz’sche Team auch den Inflationsjahren gemeinsam stand, die zudem von einem erstarkten Antisemitismus geprägt waren. Mit Elisabeth Gontrum (Lebensdaten unbekannt, vgl. JüdPflege) trat 1921 eine weitere christliche Schwester in den Dienst des jüdischen Pflegeheims. 1929 musste die Gumpertz’sche Stiftung 1929 ihr Vorderhaus aus Kostengründen an die Stadt Frankfurt vermieten. So waren Gepflegte, Pflegende und weiteres Personal wieder im älteren Hinterhaus vereint, das bis 1932 einen neuen Anbau erhielt; auch im Gebäude selbst wurde modernisiert.

Zum Zeitpunkt der NS-Machtübernahme 1933 standen Frieda Gauer bereits über 30 Jahre, ihre Kolleginnen Franziska Fleischer und Elisabeth Gontrum fast 22 bzw. 12 Jahre im Dienst des nun unmittelbar in seiner Existenz bedrohten Gumpertz’schen Siechenhauses. Als die fortan von einem nationalsozialistischen Oberbürgermeister und Magistrat regierte Stadt Frankfurt den Mietvertrag für das Vorderhaus – das nacheinander verschiedene NS-Gruppierungen belegten – kurzerhand kündigte, sorgte sich der Gumpertz’sche Präsident Richard Merzbach (1873–1945) auch um die berufliche Zukunft und materielle Absicherung „unserer christlichen Schwesternschaft“ (ISG Ffm: Magistratsakten, Sign. 8957, Bl. 154). Trotz – oder gerade wegen? – der aggressiven öffentlichen Hetzpropaganda und zunehmenden antisemitischen Schikanen hielten Frieda Gauer und Franziska Fleischer dem jüdischen Heim die Treue; der Arbeitsplatzwechsel an eine nichtjüdische Pflegeeinrichtung kam für sie nicht in Frage. Zum Zeitpunkt des Erlasses der Nürnberger Gesetze im September 1935 längst über 45 Jahre alt, fielen beide nicht unter die Auflage für jüdische Arbeitgeber, weibliche nichtjüdische Hausangestellte unter 45 Jahren zwecks Vermeidung von „Rassenschande“ zu entlassen. Dennoch musste der fast 60jährige Hermann Seckbach, Oberin Rahels Ehemann und seit 35 Jahren Verwalter des Siechenhauses, im März 1939 nach England flüchten – nicht nur im Zuge des Novemberpogroms 1938, sondern auch wegen einer Haftandrohung der NS-Behörden, da im Siechenhaus „arisches“ weibliches Personal arbeite und er deshalb gegen das Paragraph 3 des „Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ verstoße (Angaben nach HHStAW 518/ 59144). Nach Kräften unterstützten Schwester Frieda und Schwester Franziska ihre nun auf sich allein gestellte Oberin und wurden wiederholt Zeuginnen von Hausdurchsuchungen der Gestapo, die nach versteckten antisemitisch Verfolgten und angeblich gehorteten Lebensmitteln fahndeten. Doch verstärkte sich der nationalsozialistische Druck auf nichtjüdisches Personal, da es der Umrüstung der jüdischen Institutionen in Ghettohäuser und Sammellager vor der Deportation im Wege stand. Zum 1. Januar 1941 gingen Frieda Gauer und Franziska Fleischer deshalb in den unfreiwilligen Ruhestand. Ihre Pensionen zahlte bis zu ihrer eigenen NS-Zwangsauflösung die Frankfurter Jüdische Gemeinde. Bereits im April 1941 fiel Schwester Friedas und Schwester Franziskas ehemalige Arbeits- und Wirkungsstätte, das Gumpertz’sche Siechenhaus, der NS-Zwangsräumung zum Opfer. Ihre zumeist bettlägerigen jüdischen Schützlinge, die sie so lange Zeit liebevoll betreut hatten, wurden in das letzte Frankfurter jüdische Krankenhaus Gagernstraße zwangsverlegt – die letzte Station vor ihrer Deportation 1942 zusammen mit Oberin Rahel Seckbach in das KZ Theresienstadt. Die Oberin überlebte Theresienstadt nur knapp und mit schweren gesundheitlichen Schäden; gemeinsam mit ihrer Schwester Minna Spiero konnte sie später zu Ehemann Hermann und Tochter Ruth nach England ausreisen.

Nach der NS-Zeit: Kampf gegen die Altersarmut

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatten Frieda Gauer und Franziska Fleischer infolge der nationalsozialistischen Vernichtung ihres jüdischen Arbeitgebers und der Frankfurter Jüdischen Gemeinde alle privatrechtlichen Versorgungsansprüche verloren. Franziska Fleischer besuchte um 1950 Hermann Seckbach, seine Tochter Ruth und seine Schwägerin Minna Spiero im englischen Exil. Sie fand die NS-vertriebene und zuvor ausgeplünderte Familie gesundheitlich angeschlagen und in bitterer Armut vor, die orthodox-jüdischen Gemeinde zu Manchester leistete Unterstützung. Ihre ehemalige Oberin Rahel Seckbach traf die Besucherin aus Deutschland nicht mehr an, da diese bereits am 4. September 1949 mit 72 Jahren verstorben war. Die interkonfessionelle ehemalige Gumpertz’sche Pflegegemeinschaft endete erst mit Hermann Seckbachs Krebstod am 14.12.1951, zuvor bewährte sie sich noch einmal in der gegenseitigen Zeugenschaft bei den so genannten ‚Wiedergutmachungsanträgen‘. Hier galten nichtjüdische Angestellte jüdischer Institutionen wie Frieda Gauer und Franziska Fleischer nicht als NS-verfolgt, so dass die Nachkriegsbehörden ihre 1951 gestellten Entschädigungsanträge zunächst abwiesen. Beide kämpften jahrelang um ihre Rentenbezüge kämpfen und lebten sehr wahrscheinlich am Existenzminimum. Notfallhilfe leistete ein vom Hessischen Landtag eingerichteter Härtefonds für frühere Bedienstete von jüdischen Gemeinden. Die Versorgungsansprüche übernahm ab dem 1. Oktober 1952 die Bundesstelle für Entschädigung der Bediensteten jüdischer Gemeinden mit Sitz in Köln-Deutz.

Sterbeurkunde (Ausschnitt) von Franziska Fleischer
© ISG Ffm, Personenstandsunterlagen

Frieda Gauer wohnte als Sozialrentnerin in Wiesbaden (Platterstraße 55, seit 1956 Galileistraße 24), wo sie am 28. Dezember 1960 mit 82 Jahren verstarb. Ihre ebenfalls in Altersarmut lebende katholische Kollegin Franziska Fleischer verstarb am 21. April 1969 mit 91 Jahren in ihrer Geburtsstadt Frankfurt am Main (letzte Anschrift: Senckenberganlage 16). Beide Krankenschwestern waren unverheiratet und blieben kinderlos.

Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde: Meta Conrath

Die evangelische Schwester Meta Conrath pflegte fast zwei Jahrzehnte lang im Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main in der Gagernstraße 36, wo sie auch wohnte. Geboren wurde sie als Meta Alma Martha Kahl am 6. Februar 1888 (ISG Ffm: Personenstandsunterlagen; E-Mail v. Klaus-J. Penné v. 26.04.2019. Siehe auch PA Penné: Familientafel Conrath/ Kahl, Taufdokument; ISG Ffm: HB 687 T. 2, Bl. 32: Geburtsjahr 1888, letzte Ziffer mit „9“ überschrieben; Arbeitszeugnis der Augenklinik des Krankenhauses Gagernstraße, 23.01.1939: Geburtsjahr-Angabe 1889) im westpreußischen Wintersdorf (Kreis Schwetz (Regierungsbezirk Marienwerder), heute: Przechówko, Polen). Meta verlor früh ihren Vater. Mit ihrem Bruder Bruno Kahl (1889–1938) und einer jüngeren Schwester (1896–1986) wuchs die Halbwaise in der damals westpreußischen Hafen- und Handelsstadt Thorn (heute Toruń, Polen) an der Weichsel auf. Sehr wahrscheinlich ging sie mit jüdischen Kindern zur Schule, welche in Thorn zumeist christliche Schulen besuchten (vgl. Alicke 2014).

Berufliche Anfänge: Rotkreuz- und Lazarettschwester

Im Jahr 1909 heiratete Meta Kahl in Thorn Richard Paul Conrath (geb. 1878), welcher als Sergeant (Dienstgrad eines Unterfeldwebels) beim Ulanenregiment von Schmidt (1. Pommersches) Nr. 4 diente. Nur ein Jahr nach der Trauung verstarb ihr Ehemann am 28. Dezember 1910 in Thorn nach langem, schweren Leiden (vgl. Todesanzeige zu Richard Paul Conrath in: Die Presse – Ostmärkische Tageszeitung, 01.01.1911, übermittelt von Klaus-J. Penné per E-Mail v. 04.01.2020). Früh verwitwet und auf sich allein gestellt, hat Meta Conrath vermutlich bald darauf ihre Schwesternausbildung begonnen.

Die Rotkreuzschwester Meta Conrath in Schwesterntracht, ohne Jahr (vor 1919)
© Klaus-J. Penné
Abzeichen des Deutschen Roten Kreuzes (Vaterländischer Frauenverein) von Meta Conrath, vor 1919
© Klaus-J. Penné
Rotkreuzschwester Meta Conrath (vorne rechts) im Lazarett, ohne Jahr (um 1918)
© Klaus-J. Penné

[/vc_column_text][vc_column_text]Während des Ersten Weltkriegs pflegte Meta Conrath als Rotkreuzschwester vermutlich in westpreußischen Lazaretten. Die Fotografie zeigt Schwester Meta (rechts) zusammen mit einer Kollegin und den Patienten.

Polnischer Pass von Meta Conrath (für die Ausreise nach Deutschland), 1919
© Klaus-J. Penné

[/vc_column_text][/vc_column][/vc_row][vc_row][vc_column][vc_column_text]Unter den Deutschen, die infolge des Versailler Vertrags mit der Angliederung westpreußischer Gebiete an die Zweite Polnische Republik in den Westen übersiedelten, befand sich auch Meta Conrath, zusammen mit ihrer Mutter und den beiden Geschwistern. Vermutlich 1920 traf die Familie im südosthessischen Dörnigheim, heute ein Stadtteil von Maintal im Main-Kinzig-Kreis, ein. Bei der Suche nach einer neuen Anstellung orientierte sich Meta Conrath in Richtung Frankfurt am Main.

Beliebt und geachtet: als christliche Schwester im jüdischen Krankenhaus

Vermutlich wurde Meta Conrath durch eine Stellenanzeige auf das Frankfurter jüdische Krankenhaus Gagernstraße aufmerksam, wo bis zur NS-Zäsur auch viele nichtjüdische Patientinnen und Patienten Heilung fanden. Die Bewerbung der erfahrenen Krankenschwester war erfolgreich, zumal es nach dem Ersten Weltkrieg an Fachkräften mangelte. Ihren Dienst in der Klinik trat sie am 22. September 1921 an, wo sie seit dem 28. September 1921 auch wohnte (ISG Ffm: HB 687, T. 2, Bl. 32). Hilde Steppe erwähnt in ihrem Standardwerk zur deutsch-jüdischen Krankenpflege „etwa vier nichtjüdische Krankenschwestern“ (dies. 1997: 236), von welchen bislang nur Meta Conrath namentlich bekannt ist. Ihre erste Oberin war eine Pionierin der beruflichen deutsch-jüdischen Pflege: Minna Hirsch (1860–1938, vgl. JüdPflege), Mitbegründerin des ersten Schwesternverbands Verein für jüdische Krankenpflegerinnen Frankfurt a.M. und als Oberin von Krankenhaus und Schwesternschaft auch für die christlichen Pflegekräfte zuständig. Nach Minna Hirschs Pensionierung folgte um 1925 Oberin Julie Glaser (1878 – 1941 deportiert).

Die evangelische Schwester Meta gehört zu den wenigen Angestellten NS-vernichteter deutsch-jüdischer Kliniken und Pflegeheime, deren Arbeitszeugnisse noch aufgefunden wurden; sie dokumentieren neben ihrem erfolgreichen Werdegang im Krankenhaus Gagernstraße auch die hohe Wertschätzung und Zuneigung ihrer Vorgesetzten, Kolleginnen und Gepflegten. Meta Conraths erster Einsatz erfolgte 1921 in der Infektionsabteilung, die sie später zeitweise als Oberschwester leitete. Seit 1923 pflegte sie in der Privatabteilung und bewährte sich dort in allen Zweigen der Krankenpflege. So versorgte sie viele Patientinnen und Patienten mit stationären gynäkologischen, urologischen und Augenkrankheiten, bei letzteren auch Star-Operierte, sowie nach schweren OPs. Ihre ärztlichen Vorgesetzten schildern sie als äußerst gewissenhaft, sicher und belastbar.

Gratulationsschreiben des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins zu Meta Conraths 10-jährigem Dienstjubiläum im Krankenhaus Gagernstraße, 22.09.1931
Mit freundlicher Genehmigung von Klaus-J. Penné (der Name des ärztlichen Verfassers dieses Dokuments wurde aus urheberrechtlichen Gründen geschwärzt).

Zudem wurde sie erfolgreich in der Ausbildung und Anleitung der Lehrschwestern eingesetzt. „Sehr geehrte, liebe Schwester Meta!“ heißt es denn auch im Gratulationsschreiben des Frankfurter jüdischen Schwesternvereins aus Anlass ihres zehnjährigem Dienstjubiläums am 22. September 1931.

Meta Conraths Bewährung in der NS-Zeit: Dokumente und mündliche Überlieferung

Wie ihre christlichen Kolleginnen Frieda Gauer und Franziska Fleischer am Gumpertz’schen Siechenhaus – leider liegen bislang keine Quellen zu möglichen Verbindungen zwischen nichtjüdischen Pflegenden an Frankfurter jüdischen Einrichtungen vor – stand auch Meta Conrath nach der NS-Machtübernahme weiterhin zu ihrem jüdischen Arbeitgeber. Möglicherweise kooperierte sie mit einer NS-widerständigen nichtjüdischen Kollegin: Die Frankfurter Krankenschwester Luise (Louise) Zorn (1880–1968) betreute „jüdische Patienten, als diese keine ärztliche Versorgung mehr fanden und kein Krankenhaus sie mehr aufnahm. Als ihr das Betreten des jüdischen Krankenhauses verboten wurde, kletterte sie nachts heimlich über die Mauer und assistierte unter Mitbringen ihres eigenen Verbandszeuges bei Operationen“ (Kiel-Römer/ Süß/ Steppe 2013: 202f. Siehe auch K.H. 1945 sowie Eintrag bei JüdPflege).

Zum Zeitpunkt des Erlasses der Nürnberger Gesetze im September 1935 46 Jahre alt, entging Schwester Meta gerade noch dem NS-Verbot für weibliches „arisches“ Personal unter 45 Jahren, mit männlichen jüdischen Vorgesetzten zu arbeiten. Angesichts der weiter eskalierenden antisemitischen NS-Segregationspolitik stellt sich hier die Frage, ob Meta Conraths weitgehend nationalsozialistisches privates Umfeld sie dazu drängte, die jüdische Klinik zu verlassen und in eine „arische“ Einrichtung zu wechseln. Wie mochten ihre Verwandten darauf reagiert haben, die sie um Lebensmittelkarten für die Gepflegten, Kolleginnen und Ärzte des Krankenhauses Gagernstraße gebeten haben soll (Angabe nach PA Penné)? 1938 erschütterte die Familie der Suizid von Metas Bruder Bruno Kahl (geb. 1889), eines überzeugten Nationalsozialisten, der als Lehrer in Dörnigheim unterrichtete. Dort gründete und leitete er die Dörnigheimer NSDAP-Ortsgruppe und wurde 1933 NSDAP-Abgeordneter im Kreistag Hanau-Land. Im Juni 1938 erhängte sich Bruno Kahl während eines Lehrgangs in der NS-Schulungsburg (Gauführerschule) zu Kronberg (Taunus) (vgl. Salzmann/ Voigt 1991: 40, 130-132); er soll einen Abschiedsbrief verfasst und sich darin von Hitler und der NSDAP distanziert haben. Der Suizid wurde als Unglücksfall getarnt. Ob Meta Conrath an der nationalsozialistischen Trauerfeier mit NS-Totenwache teilnahm, ist unbekannt. Bruno Kahls Witwe, ebenfalls NSDAP-Mitglied, soll ihre nationalsozialistische Gesinnung auch nach 1945 beibehalten und sich einer Gruppe Freier Deutscher Christen angeschlossen haben, ihr Verhältnis zu Meta Conrath blieb „angespannt“ (Angabe nach PA Penné). NSDAP-Mitglied war seit 1932 auch der Ehemann von Metas Schwester; er fungierte als NS-Gauwalter für Körperbehinderte und Kreiswalter in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt.

Spätestens 1939, vermutlich schon früher, pflegte Meta Conrath im Krankenhaus Gagernstraße ausschließlich jüdische Patientinnen und Patienten; ihre 1938 NS-behördlich zu „Krankenbehandlern“ degradierten ärztlichen Vorgesetzten durften nur noch als jüdisch eingestufte Kranke behandeln, die Versorgung von „arischen“ Kranken war strikt verboten. Aus den nachfolgend chronologisch dargestellten Dokumenten wird deutlich, dass die bis 1939 für Schwester Meta ausgestellten Arbeitszeugnisse von Ärzten stammen, die nach dem Novemberpogrom 1938 aus Nazideutschland flüchten mussten. Während der ebenfalls verfolgungsbedingten Fluktuation des jüdischen Pflegepersonals (hierzu Steppe 1997) hielt Meta Conrath, seit Sommer 1939 u.a. als leitende Oberschwester der Privatabteilung, weiterhin die Stellung und wurde zu einer wichtigen Stütze des unter den NS-Angriffen leidenden Klinikbetriebs. Am 4. November 1940 – sie selbst hatte zum 31. Dezember 1940 offiziell gekündigt – musste sie ihre jüdischen Gepflegten dann doch verlassen und verlor zudem ihre langjährige Arbeits- und Wohnstätte. Nur zwei Wochen später, am 19. November, trafen ihre Kolleginnen aus dem NS-zwangsgeräumten jüdischen Schwesternhaus in der Klinik ein. Mit dem unfreiwilligen Auszug der vermutlich letzten nichtjüdischen Schwester Meta Conrath war die NS-Umrüstung des Krankenhauses Gagernstraße zum Ghettohaus und Sammellager vor den Deportationen vollzogen.

„[…] durch ihr ruhiges und sicheres Wesen ist sie fähig, eine Station zu führen und die ihr unterstellten Schwestern anzuleiten“, trug der Chefarzt der Chirurgie des Krankenhauses Gagernstraße in sein am 31. Oktober 1940 für Meta Conrath ausgestelltes Arbeitszeugnis ein. Die nachfolgenden Quellen vermitteln seltene Einblicke in den Werdegang einer evangelischen Schwester am Frankfurter jüdischen Krankenhaus Gagernstraße. Zahlreiche Personalunterlagen sind durch die Shoah und durch Kriegseinwirkung ,verschollen‘.

Arbeitszeugnis für Meta Conrath (Urologie des Krankenhauses Gagernstraße), 18.09.1938
Mit freundlicher Genehmigung von Klaus-J. Penné (der Name des ärztlichen Verfassers dieses Dokuments wurde aus urheberrechtlichen Gründen geschwärzt).
Arbeitszeugnis für Meta Conrath (ausgestellt vom Facharzt für Innere Krankheiten am Krankenhaus Gagernstraße), 30.09.1938
Mit freundlicher Genehmigung von Klaus-J. Penné (der Name des ärztlichen Verfassers dieses Dokuments wurde aus urheberrechtlichen Gründen geschwärzt).
Arbeitszeugnis für Meta Conrath (Augenklinik des Krankenhauses Gagernstraße), 23.01.1939
Mit freundlicher Genehmigung von Klaus-J. Penné (der Name des ärztlichen Verfassers dieses Dokuments wurde aus urheberrechtlichen Gründen geschwärzt).
Arbeitszeugnis für Meta Conrath, ausgestellt von Prof. Dr. Simon Isaac, Direktor des Krankenhauses Gagernstraße, 01.03.1939
Mit freundlicher Genehmigung von Klaus-J. Penné
Arbeitszeugnis für Meta Conrath (Leiter des Krankenhauses Gagernstraße), 22.10.1940
Mit freundlicher Genehmigung von Klaus-J. Penné (der Name des ärztlichen Verfassers dieses Dokuments wurde aus urheberrechtlichen Gründen geschwärzt).
Zwischenzeugnis für Meta Conrath (Krankenhaus Gagernstraße), 28.10.1940
Mit freundlicher Genehmigung von Klaus-J. Penné (der Name des ärztlichen Verfassers dieses Dokuments wurde aus urheberrechtlichen Gründen geschwärzt).
Arbeitszeugnis für Meta Conrath (ausgestellt vom Leiter der Chirurgie des Krankenhauses Gagernstraße), 31.10.1940
Mit freundlicher Genehmigung von Klaus-J. Penné (der Name des ärztlichen Verfassers dieses Dokuments wurde aus urheberrechtlichen Gründen geschwärzt).
Letztes Arbeitszeugnis für Meta Conrath (Krankenhaus Gagernstraße), 31.12.1940
Mit freundlicher Genehmigung von Klaus-J. Penné (der Name des ärztlichen Verfassers dieses Dokuments wurde aus urheberrechtlichen Gründen geschwärzt).

Vom Krankenhaus Gagernstraße zog Meta Conrath am 4. November 1940 in den Frankfurter Stadtteil Eschersheim, Neumannstraße 9 (ISG Ffm: HB 687, T. 2, Bl. 32); danach arbeitete die inzwischen über Fünfzigjährige als Privatpflegerin. Familieninformationen zufolge soll sie für längere Zeit auf Schloss Jettingen (Bayerisch-Schwaben) eine Verwandte des Hitler-Gegners Claus Schenk Graf von Stauffenberg gepflegt und die beiden später hingerichteten Brüder Claus und Berthold noch persönlich kennengelernt haben. Als die Stauffenberg-Familie nach dem gescheiterten Staatsstreich ab dem 20. Juli 1944 verhaftet wurde, befand sich Meta Conrath gerade auf Heimaturlaub in Frankfurt am Main. Hatte ein Bruder ihres verstorbenen Ehemannes, Wehrmachtsgeneral Paul Conrath (1896–1979), mit dem sie auch nach 1945 noch in gutem Kontakt stand, die Pflegestelle bei den Stauffenbergs vermittelt? Es ist nicht auszuschließen, dass dieser Schwager Meta Conraths trotz seiner engen Verbindungen zu Göring zum Umfeld der Widerstandsbewegung „20. Juli“ gehörte.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wohnte Meta Conrath weiterhin in der Neumannstraße 9 und versorgte ihre Mutter. Laut Auskunft der Frankfurter Meldebehörde verstarb sie aber nicht in Frankfurt, sondern am 19. August 1960 in Köppern (heute Stadtteil von Friedrichsdorf). Den Angaben (per Mail v. 04.01.2020) ihres Neffen Klaus-J. Penné zufolge „hat Meta Conrath nach Kriegsende mehrfach Carepakete von ehemaligen Patienten und Ärzten aus Amerika erhalten“ – ihre engagierte Fürsorge im jüdischen Krankenhaus und das vorbildliche Standhalten gegen die antisemitische Hetze des NS-Regimes waren unvergessen.

Resümee und Dank

Von den hier vorgestellten christlichen Schwestern wurden bislang keine Ego-Dokumente wie Briefe oder Tagebücher aufgefunden. Ihre Motive, weshalb sie so viele Jahre in jüdischen Institutionen pflegten und auch dem Nationalsozialismus widerstanden, lassen sich deshalb nur vermuten. Mangels Fotografien aus diesem Zeitraum ist zudem unbekannt, welche Schwesterntracht sie in der jüdischen Klinik anlegen, gehörten sie doch den jüdischen Pflegeorganisationen nicht an. Weitere Fragen bleiben zu klären: Wie war Meta Conraths, Franziska Fleischers und Frieda Gauers Verhältnis zur eigenen Kirchengemeinde? Gehörten sie NS-kritischen Kirchenkreisen oder – wie etwa die an Rettungsaktionen beteiligten Frankfurter Quäker/innen (vgl. Bonavita 2014) – einer der innerchristlichen Minderheiten an, die mitunter in Opposition zur Amtskirche standen?

Für wichtige Quellen und Hinweise dankt die Autorin ganz besonders Meta Conraths Neffen Klaus-J. Penné, des Weiteren Sigrid Kämpfer und Janica Kuhr (Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main) und Carmen Killian (Standesamt Adelsheim). Weitere Informationen zu diesem offenen Forschungsfeld sind willkommen.

Birgit Seemann, Stand November 2021

Quellen- und Literaturverzeichnis

Unveröffentlichte Quellen

HHStAW: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden
Bestand 409 Nr. 61: Häftlingsakte Gleichmann, Eva
Bestand 518 Nr. 6194: Entschädigungsakte Löw, Georg
Bestand 518 Nr. 53914: Entschädigungsakte Gauer, Frieda
Bestand 518 Nr. 59139: Entschädigungsakte Seckbach, Rahel geb. Spiero
Bestand 518 Nr. 59144: Entschädigungsakte Seckbach, Hirsch Hermann
Bestand 518 Nr. 75113: Entschädigungsakte Fleischer, Franziska
ISG Ffm: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main
Magistratsakten Sign. 8957: Städtische Krankenanstalten: Ermietung des Gumpertz´schen Siechenhauses zur Unterbringung von Kranken und Weiterverpachtung an die Feldjägerei (1930–1938), Bl. 154
HB 655: Hausstandsbuch Bornheimer Landwehr 85 (Frankfurter Jüdisches Schwesternhaus): Sign. 655
HB 686: Hausstandsbuch Gagernstraße 36 (Frankfurter Jüdisches Krankenhaus), Teil 1, Sign. 686
Personenstandsunterlagen: Sterbeurkunde Fleischer, Franziska
Standesamt Adelsheim
Geburtseintrag Gauer, Frieda (mit Sterbedaten)
UB JCS Ffm: Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt a.M.
Frankfurter Adressbücher (Digitalisate, bis 1943): https://www.ub.uni-frankfurt.de/wertvoll/adressbuch.html
Judaica Frankfurt (Digitalisate): http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/judaica/nav/index/all
PA Penné: Privatarchiv Klaus-J. Penné
Korrespondenz des Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen und des Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main mit Meta Conrath (18.09.1938 – 31.12.1940)
Familientafel Conrath / Kahl, undatiert (Stand 21.01.2019)
Tauf- und Heiratsdokumente, polnischer Pass (Ausreisedokument) Fotografien

Sekundärliteratur

Alicke, Klaus-Dieter o.J. [2014]: Thorn/Weichsel (Westpreußen). In: ders.: Aus der Geschichte jüdischer Gemeinden im deutschen Sprachraum, https://www.jüdische-gemeinden.de/index.php/home [04.11.2021, Link inaktiv]
Betzien, Petra 2018: Krankenschwestern im System der nationalsozialistischen
Konzentrationslager. Selbstverständnis, Berufsethos und Dienst an den Patienten im Häftlingsrevier und SS-Lazarett. Frankfurt a.M.
Bonavita, Petra 2014: Quäker als Retter … im Frankfurt am Main der NS-Zeit. Stuttgart
GumpRechenschaftsbericht 1916: Rechenschaftsbericht des Vereins Gumpertz’sches Siechenhaus und der Minka von Rothschild-Goldschmidt-Stiftung in Frankfurt am Main für die Jahre 1914 und 1915. Frankfurt a.M. 1916, online: UB JCS Ffm, Judaica Ffm: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/judaicaffm/urn/urn:nbn:de:hebis:30:1-306391
K.H. 1945: Die Schwester. In: Frankfurter Rundschau, 05.09.1945, online: RettungsWiderstand, Artikel: Folgen der Hungerpolitik 1942: „Elend wohin man blickt“,  https://rettungs-widerstand-frankfurt.de/ [04.11.2021}
Kiel-Römer, Ursula/ Süß, Martina/ Steppe, Hilde 2013: Widerstand des Pflegepersonals. Ein Fragment. In: Steppe/ Ulmer (Hg.): 195-211
Kugelmann, Cilly (Hg.) 2005: Weihnukka. Geschichten von Weihnachten und Chanukka. [Ausstellungskatalog des Jüdischen Museums Berlin]. Berlin
Levinsohn-Wolf, Thea 1996: Am Krankenhaus der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main. In: dies.: Stationen einer jüdischen Krankenschwester. Deutschland – Ägypten – Israel. Frankfurt a.M.: 21-32
Loewy, Hanno (Red.) 2011: „Solls der Chanukkabaum heißen“. Chanukka, Weihnachten, Weihnukka. Jüdische Geschichten vom Fest der Feste. Gesammelt v. Hanno Loewy. 3., durchges. u. verb. Aufl. Berlin
Lustiger, Arno (Hg.) 2011: Rettungswiderstand. Über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit. Göttingen
Neuhaus, Leopold 1949: Nachruf auf Rahel Seckbach. In: AUFBAU 15 (23.09.1949) 38, S. 41
Salzmann, Bernd/ Voigt, Wilfried 1991: „Keiner will es gewesen sein“. Dörnigheim im Nationalsozialismus. Hg.: Magistrat der Stadt Maintal. Maintal
Seemann, Birgit/ Bönisch, Edgar 2013: Jüdische Pflegegeschichte im Nationalsozialismus am Beispiel Frankfurt am Main. In: Steppe/ Ulmer (Hg.): 257-265
Seemann, Birgit/ Bönisch, Edgar 2019: Das Gumpertz’sche Siechenhaus – ein „Jewish Place“ in Frankfurt am Main. Geschichte und Geschichten einer jüdischen Wohlfahrtseinrichtung. Hg.: Verein zur Förderung der historischen Pflegeforschung. Frankfurt a.M.
Steppe, Hilde 1997: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre …“. Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt a.M.
Steppe, Hilde/ Ulmer, Eva-Maria (Hg.) 2013: Krankenpflege im Nationalsozialismus. 10. aktualis. u. erw. Aufl. Frankfurt a.M.

Online-Datenbanken und Links

(zuletzt aufgerufen am 04.11.2021)

Alemannia Judaica Sennfeld: https://www.alemannia-judaica.de/sennfeld_synagoge.htm
Arcinsys: Archivinformationssystem Hessen, https://arcinsys.hessen.de
JüdPflege: Jüdische Pflegegeschichte – Biographien und Institutionen in Frankfurt Main. Forschungsprojekt an der Frankfurt University of Applied Sciences, https://www.juedische-pflegegeschichte.de/
RettungsWiderstand: RettungsWiderstand in Frankfurt am Main während der Herrschaft der Nationalsozialisten. Hg.: Petra Bonavita. URL: https://rettungs-widerstand-frankfurt.de/